Freitag, 19. April 2024

Archiv

Christus kam nur bis Eboli
Mit Carlo Levi in der Basilicata

Die Basilicata ist eine abgelegene Landschaft im tiefen Süden der italienischen Halbinsel. Die Römer nannten sie einst Lukanien. Später, im 20. Jahrhundert, diente das Land Mussolinis Faschisten als beliebter Verbannungsort für politische Gegner – so Maler und Mediziner Carlo Levi.

Von Manfred Schuchmann | 16.06.2019
Im Spätsommer des Jahres 1935 erblickt ein junger Maler, Schriftsteller und Arzt aus dem fernen Norditalien zum ersten Mal diese seltsam bizarre lukanische Bergwelt in der Umgebung des Dorfes Aliano - knochenbleiche Kegel und Flanken, seltsam zerklüftet, von Höhlen durchlöchert. Und ganz oben, noch fern und fast unter dem Himmel: der Ort, in dem er die kommenden fünf Jahre zubringen soll:
"Ich kam an einem Augustnachmittag in einem kleinen klapprigen Auto in Gagliano an. Meine Hände waren gefesselt, und ich wurde von zwei robusten Vertretern der öffentlichen Ordnung mit roten Streifen an den Hosen und ausdruckslosen Gesichtern begleitet. Ich kam ungern und war darauf gefasst, alles unerfreulich zu finden."
Carlo Levi heißt der junge Intellektuelle aus großbürgerlichem Turiner Elternhaus, studierter Mediziner, aber ganz seiner Malerei und Schriftstellerei ergeben. Levi hatte sich der Widerstandsgruppe Giustizia e Libertà, Gerechtigkeit und Freiheit, angeschlossen, zu der auch der ebenso junge Verleger Giulio Einaudi und der Schriftsteller Cesare Pavese gehörten. Das Regime warf Levi erst ins Gefängnis und verfrachtete ihn dann in den Süden, zunächst für kurze Zeit nach Grassano, dann in jenen Ort, den Levi später leicht verfremdet Gagliano nennen wird. Er wird erst nach Jahrzehnten, längst ein älterer Herr, noch einmal an diesen Verbannungsort zurückkehren, und er wird auf einen damals jugendlichen Dorfpfarrer treffen - Don Pietro Dilenge, genannt Don Pierino:
"Im Dezember 1974 habe ich Carlo Levi genau hier zum ersten und einzigen Mal getroffen, stellte mich vor und sagte im Scherz: ‚Dottore, ich stamme eigentlich aus Grassano, mich haben sie auch in die Verbannung geschickt.‘ Ich habe ihn um eine Widmung in meinem Exemplar von ‚Christus kam nur bis Eboli‘ gebeten, und er schrieb: ‚Für Don Pietro, als ich nach Aliano zurückkehrte‘."
Verbannungs-Domizil mit Blick auf die Berge
Don Pierino traf Carlo Levi damals auf der Straße oberhalb eines jener schrundigen Steilhänge der Calanchi - so heißen jene knochenbleichen Abgründe und Schluchten, aus denen die Glocken der Ziegen herauftönen - ungefähr dort, wo heute eine bronzene Büste mit den Lebensdaten des ehedem Verbannten steht: Carlo Levi, 1902 bis 1975. Bei seiner Rückkehr nach Aliano war Levi längst ein bekannter, ja berühmter Mann: vor allem durch die autobiografischen Erinnerungen an seinen Verbannungsort im Süden - soviel Empathie, soviel Einfühlung, soviel Verständnis für diese von allen Regierungen zu allen Zeiten vernachlässigte Region und ihre Menschen hatte bis dahin kaum ein Norditaliener je gezeigt. Levis Buch "Christus kam nur bis Eboli" rüttelte Italien auf. Don Pierino ist heute über achtzig, ein kleiner, weißhaariger Mann, der meistens mit halber Schallgeschwindigkeit spricht - und eigentlich längst im Ruhestand wäre. Aber dieses Wort kommt in Don Pierinos Wortschatz vermutlich nicht vor, und also wird er den bisher 46 Jahren als Dorfpfarrer von Aliano noch das eine und andere Jahr hinzufügen - Messe lesen, Beichte abnehmen, Taufen, Trauungen, Aussegnungen. Und Carlo Levis Andenken in Aliano wach halten.
Dass das Haus, in dem Carlo Levi seine Zeit der Verbannung verbrachte, noch steht, ja: fein restauriert ist - das ist allein Don Pierinos Einsatz und seiner Beharrlichkeit zu verdanken:
"Es steht ganz am Ortsausgang, Levi hat diese Ecke ‚Gagliano di sotto‘ genannt. Es ist ein wunderschönes Haus mit weiter Aussicht, viel Platz, eine Terrasse, ringsum Natur. Vor Levis Ankunft gab es hier eine Kirche und ein paar Häuser, die Anfang der 30er Jahre bei einem Erdrutsch in die Tiefe gestürzt sind. Levis Haus besaß übrigens als einziges in Aliano damals schon eine Toilette, wie er schreibt."
"Auf meiner Terrasse war der Himmel unendlich weit, voller wechselnder Wolken. Mir schien es, ich sei auf dem Dach der Welt oder auf dem Oberdeck eines Schiffes, das in einem versteinerten Meer verankert war."
So Carlo Levi über sein Verbannungs-Domizil. An klaren Tagen ging der Blick bis zu den Bergen des Pollino, eine Reihe von Zweitausendern an der Grenze zwischen Basilicata und Kalabrien. Nachts blinkten einzelne Lichter der fernen Dörfer wie Sterne. Nur der Blick durfte schweifen, Carlo Levis Freiraum war eng begrenzt und streng überwacht:
"Von hier durch's Dorf bis zum Friedhof, vielleicht ein halber Kilometer. Er hat immer wieder die Dorfkneipen aufgesucht, sich am Leben beteiligt, ein Glas getrunken. Er hat den Leuten zugehört, hat sie beobachtet und das Elend ihres Lebens begriffen."
"Christus kam nur bis Eboli", der Titel von Carlo Levis Buch, war seinerzeit eine gängige Redewendung in Aliano. Dabei liegt Eboli weit weg. Aber über Eboli hinaus seien weder Christus, noch die Zivilisation, noch der Staat jemals gekommen, außer, er wollte Soldaten ausheben oder Steuern eintreiben.
Alte Magie in Aliano
In Aliano gab es zu Levis Zeiten noch ebenso viel Aberglauben wie Glauben, gab es Zaubertränke und magische Beschwörungen. Nachts konnten Menschen sich in Wölfe verwandeln und Drachen hausten in den unheimlichen Schluchten am Fuß des Dorfes. Vielleicht war Christus tatsächlich niemals ganz hier angekommen. Durch Aliano zieht sich die Hauptstraße von einem Dorfende zum anderen, von Levis Haus bis zum Aufgang zum Friedhof. Alte Männer stehen vor den beiden Bars, Pensionäre allesamt, viele mit Schiebermützen auf dem Kopf, auch ein paar Mittelalte stehen dabei, mit zuviel Zeit und zu wenig Arbeit. Junge Menschen sieht man wenig. Aus Aliano sind sie schon immer ausgewandert:
"Alle jungen, einigermaßen tüchtigen Leute, auch die, welche nur eben noch imstande sind, selbständig ihr Fortkommen zu finden, verlassen die Heimat. Die Unternehmendsten gehen nach Amerika, die anderen nach Rom oder Neapel, und sie kehren nicht wieder zurück."
Einige sind aber doch zurückgekehrt aus der Fremde, und einige wenige hatten dort ihr Glück gemacht. Einen Schritt entfernt von der Kirche San Luigi Gonzaga, in der Don Pierino seinen Dienst versieht, steht ein stattliches Haus - "La casa dell'Americano", das Haus des Amerikaners:
"Das ist der große Koffer meines amerikanischen Onkels, der andere hier stammt von meinem Vater, als wir aus Argentinien zurückgekommen sind. Und den Koffer meines Großvaters bringe ich gerade in Ordnung."
erzählt Alberto Garambone, von Beruf Ingenieur, der in seinem Haus zwei Gästezimmer eingerichtet hat mit den Möbeln und der originalen Ausstattung der 1930er Jahre.
"In diesem Haus gab es also vier Generationen von ‚Amerikanern‘. Sie alle sind aus Aliano weg, weil es keine Arbeit für sie gab. Daran hat sich wenig geändert. Heute gehen selbst die mit guter Ausbildung weg, weil hier einfach kein Platz für sie ist."
Verflochtene Geschichten
Das Haus des Amerikaners kann viele Geschichten erzählen. Und sie verflechten sich mit den Geschichten in Carlo Levis Buch. Zur Verwandtschaft des Ingenieurs Garambone zählte damals nämlich jener Don Luigino, der podestá, der stramm faschistische Bürgermeister und Dorfschullehrer von Aliano - aber auch ein Onkel, der regelmäßig die Balkontür öffnete und auf seinem Grammophon die Marseillaise so laut wie möglich spielte, sobald der Bürgermeister auf der Piazza seine Reden schwang. Ein Hoch auf den Onkel des Ingenieurs Garambone! Einmal vom Haus am Rande der Klippen über die Hauptstraße und die Piazza bis zum Friedhof und wieder zurück - das war der tägliche Spaziergang des Verbannten Carlo Levi in seiner Zeit in Aliano. Wenn er nicht die Bauern, die Frauen, die Kinder des Dorfes unentgeltlich untersuchte und behandelte, so gut es ihm ärztlich möglich war. Denn zu den beiden ortsansässigen Quacksalbern ging keiner der Dorfbewohner freiwillig. Oft hatte Carlo Levi auf seinen Gängen Farben, Pinsel und seine Staffelei dabei, um zu malen, begleitet von einer begeisterten, neugierigen Kinderschar:
"Hier sind wir also im kleinen Museum Carlo Levi"
sagt Pfarrer Don Pierino, der natürlich auch für diese kleine Sammlung am Ort gekämpft hat.
"In diesen Räumen haben wir 22 Arbeiten von Carlo Levi. Zur Einführung eine Biografie in Bildern, Fotos von seiner Kindheit an - die Studienzeit, seine politischen Aktivitäten, das kulturelle Schaffen. Auch die Wiederbegegnung mit Aliano, kurz vor seinem Tod."
Als Maler war Carlo Levi ein expressiver Realist, großzügig mit der Farbe und in seinen Gesten. Er malte junge Hunde, einen Esel, einen Igel; einen Mann, der hungrig ein Stück Brot anstarrt, einen Kohlkopf, einen Fernblick auf Aliano, eine Frau mit Kind - eine Frau mit herben Zügen, dunkel in ihr schwarzes Kopftuch gehüllt. So zeichnet Levi in seinem Buch auch Julia, die Frau, die seinen Haushalt besorgt. Julia hatte eine Begabung zur Magie, sie hat Levi sogar ihre Zaubersprüche verraten.
"Für mich ist sie weniger eine Hexe als das Inbild einer Frau aus Lukanien, immer haben sie den Kopf bedeckt, sobald es einen Todesfall in der Familie gab. Und sie trugen dieses Kopftuch, bis sie selbst starben. Herbe, männliche Züge, kräftige Frauen, hagere Gesichter voller Leid und hartem Leben."
Die Bilder der Jungen und Mädchen aus Aliano, der Bauern auf dem Weg zu ihrem Tagwerk im Tal, der abgezehrten Mütter - all diese Bilder hängen heute im Palazzo Lanfranchi, dem Museum der Bezirksstadt Matera. Aber Alianos kleine Pinakothek besucht natürlich jeder, der den langen Weg hinauf ins Dorf gesucht hat. Aliano sieht heute anders aus als damals, so anders, dass die meisten Außenaufnahmen der Verfilmung von "Christus kam nur bis Eboli" gar nicht in Aliano selbst gedreht werden konnten. Francesco Rosi führte Regie, einer der ganz Großen des neorealistischen Kinos in Italien. Und trotzdem fühlt man sich im heutigen Aliano auf Schritt und Tritt in das Aliano Carlo Levis zurück versetzt. Und viele Geschichten von den Großvätern und Großmüttern werden bis heute in den Familien überliefert. Auch die des kleinen Giovanni Fanelli:
"Einer, ein blasser Bub von acht oder zehn Jahren mit großen schwarzen Augen, war ganz besonders begeistert für Malerei. Alle Kinder baten mich um die alten leeren Farbtuben und die alten leeren Pinsel, die ihnen für ihre Spiele dienten. Giovanni, ohne mir etwas zu sagen, fing ganz im geheimen an zu malen. Er war ein schüchternes Kind. Ich weiß nicht, ob Giovanni Fanelli Maler geworden ist oder werden könnte."
Keine Chance für Künstler in Aliano
Nein, aus dem kleinen Fanelli ist kein Maler geworden, sondern ein Bauer. Für künstlerische Begabung gab es in Aliano, diesem archaischen, aus der Zeit gefallenen Dorf, keine Chance. Die Tochter des kleinen Giovanni von damals ist heute eine tüchtige Gastwirtin und Köchin, La contadina Sisina heißt ihre Trattoria, Sisina die Bäuerin.
"Mein Papa hat mir immer erzählt, dass Carlo Levi ihn zu sich rief und ihm Farben und Pinsel schenkte, und dann malten sie zusammen. Mein Papa hatte eine solche Leidenschaft für das Malen, aber leider durfte nichts daraus werden. Carlo Levi schreibt, dass er ein begeisterter Bub war, mein Papa."
Im Mai 1936 eroberten die italienischen Truppen unter ungeheuren Greueln Addis Abeba, die abessinische Hauptstadt. Über die Kriege Italiens unter Mussolini spricht Italien bis heute nicht, nicht über die Massaker, nicht über den Einsatz von Giftgas in Afrika. Das Regime gab sich im Glanze seines ruhmlosen Sieges großmütig, es erließ eine Amnestie für politisch Verbannte. Carlo Levi war unerwartet frei, aber er verließ Aliano und seine Menschen nur zögerlich:
"Ich komme wieder, sagte ich. Aber sie schüttelten den Kopf. Wenn du abreist, kommst du nicht mehr zurück. Du bist ein guter Mensch, bleib bei uns Bauern! Ich musste ihnen feierlich versprechen, daß ich zurückkehren würde, und ich tat es ganz aufrichtig. Aber bis heute habe ich mein Versprechen nicht halten können"
Carlo Levi kehrte dann doch noch einmal zurück an den Ort seiner Verbannung, in die Basilicata, das alte Lukanien, in das Dorf Aliano - nur wenige Wochen vor seinem Tod. Heute liegt der Maler, der Schriftsteller, der Arzt und Widerstandskämpfer, der gute Mensch Carlo Levi begraben auf dem Friedhof von Aliano. Nach altem jüdischen Brauch legen Besucher Steine auf sein Grab, manchmal auch einen Bleistift oder einen Kugelschreiber. Frische Blumen gibt es immer.