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Chronisches Erschöpfungssyndrom
Patienten fechten Studienergebnisse an

Die Krankheit ist schwer zu diagnostizieren, ihre Ursachen sind unbekannt: das Chronische Erschöpfungssyndrom, auch Myalgische Enzephalomyelitis genannt. In einer Studie haben Wissenschaftler verschiedene Therapieoptionen getestet - und zwei für unwirksam erklärt. Patienten halten die Untersuchungen für unglaubwürdig und setzen sich zur Wehr.

Von Anneke Meyer | 19.10.2016
    Eine Frau im Bett
    Geschätzte 0,3 Prozent der Bevölkerung leiden an dem chronischen Erschöpfungssyndrom. Damit ist die Krankheit sehr selten. (imago / Westend61)
    Alem Matthees muss mit seinen Kräften gut haushalten. Ein Telefonat, befürchtet er, könnte ihn zu sehr erschöpfen. E-Mail schreiben geht. Da kann er Pausen machen. Deshalb antwortet er per Mail auf die Frage, warum er an der Aussagekraft einer großen klinischen Studie zum chronischen Erschöpfungssyndrom zweifelt.
    "Die Änderungen am Versuchsprotokoll erschienen mir fraglich und dazu die Weigerung der Forscher die Ergebnisse nach dem ursprünglichen Protokoll herauszugeben. "
    Alem Matthees leidet selbst unter dem chronischen Erschöpfungssyndrom oder Myalgischer Enzephalomyelitis, kurz "ME/CFS". "Das hat mich dazu gebracht, die Daten auf juristischem Weg einzufordern", sagt Matthees.
    Mit Erfolg. Vor kurzem bekam der Australier Zugang zu einem Teil der Rohdaten der Studie, die für viele ME/CFS-Patienten ein rotes Tuch ist: Der so genannte "Pace-Trial". In dieser von Patientenorganisationen mitgestalteten Studie mit rund sechshundertvierzig Teilnehmern waren britische Wissenschaftler Anfang 2011 zu dem Ergebnis gekommen, dass kognitive Verhaltenstherapie und abgestufte Bewegungstherapie jeweils sechs von zehn Betroffenen helfen. Michael Sharpe, Professor für Psychische Medizin in Oxford ist einer der Wissenschaftler, die PACE-Studie durchgeführt haben.
    "Wir können mit den Therapien niemanden heilen. Es sind moderat hilfreiche Effekte, wie wir auch in dem Artikel erklären."
    Behandlungsvariante "Pacing" brauchte kaum Erfolg
    Als deutlich weniger hilfreich, erwies sich dabei eine weitere Behandlungsvariante: Das sogenannte "Pacing", bei dem die Betroffenen immer etwas weniger tun sollten, als ihre Kraft erlaubt. Die Strategie führte nur in vier von zehn Fällen zu einer Besserung. Damit war sie nicht erfolgreicher als die Basisbehandlung ohne zusätzliche Therapie, also Arztbesuche und symptombekämpfende Medikamente wie Schmerzmittel.
    Ein Ergebnis, das Einfluss auf die Behandlungsoptionen von ME/CFS Patienten hat. Angeboten wird nur was erwiesenermaßen wirkt. Viele Patienten bevorzugen aber Pacing und halten abgestufte Bewegungstherapie sogar für schädlich. Im Internet machen sie ihren Gefühlen Luft:
    "Der PACE-Trial ist Schein-Wissenschaft. Das Schlimmste ist, erst wurde die Krankheit ignoriert, jetzt wird sie mit potentiell schädlichen Methoden behandelt. ME/CFS ist keine psychische Erkrankung, die Gesprächstherapie geheilt werden kann. Wer profitiert davon solche Mythen aufrecht zu erhalten? Patienten ganz sicher nicht!"
    Kritiker der Studie bemängeln Anpassung von Daten
    Über 12.000 Menschen hatten letztes Jahr eine Petition unterzeichnet, die den Rückzug der Veröffentlichung von 2011 verlangt. Eine Forderung, die inzwischen auch von Wissenschaftlern unterstützt wird. Zum Beispiel von Philip Stark, Professor für Statistik an der University of California in Berkeley. Er hat eine kleine Gruppe von Patienten bei einer Reanalyse der eingeklagten Daten beraten. Die Ergebnisse sind auf einem Blog veröffentlicht. Hauptkritikpunkt ist, dass die Forscher sich nicht an das vorab geplante Versuchsprotokoll gehalten haben. Philip Stark:
    "Das Problem dabei: Wenn man die Analysemethoden nachträglich den Daten anpasst, werden die Standardtests für statistische Signifikanz bedeutungslos. Man kann dann alle möglichen Ergebnisse bekommen, die zwar statistisch signifikant sind, aber dennoch nicht aussagekräftig.
    Michael Sharpe hält dagegen: "Wir haben die ursprünglich von uns vorgeschlagenen Parameter geringfügig verändert. Aber alle Änderungen waren mit Statistikern abgestimmt. Der externe Studienaufsichtsrat und das Ethikkomitee haben ihnen zugestimmt. Und zwar lange, bevor wir begonnen haben, die Daten anzuschauen."
    Kritiker Philip Stark hält das Vorgehen trotzdem für wissenschaftlich unsauber. Die Reanalyse, die er mit den Patienten um Alem Matthees durchgeführt hat, benutzt die strikteren Parameter aus dem vorab veröffentlichten Studienprotokoll. Für eine Folgeveröffentlichung zum PACE-Trial aus dem Jahr 2013 kamen die Kritiker so auf vier Mal geringere Effektstärken. Damit verhalf keine der getesteten Therapien den Patienten zu einer Remission, also einer zeitweiligen Erholung. Philip Starks Fazit: "Ich denke, die Artikel sollten zurückgezogen und die Daten neu analysiert werden."
    Umstrittener Artikel wird nicht zurückgezogen
    Die Hauptaussagen des PACE-Trial werden nicht infrage gestellt, betont dagegen Michael Sharpe. Die entsprechende erneute Analyse der grundlegenden Veröffentlichung von 2011 haben die Studienleiter selber durchgeführt. Die striktere Variante der Auswertung führte zu insgesamt kleineren Effekten, die relativen Unterschiede zwischen den Therapien blieben aber erhalten.
    "Wir hatten sechs Gutachten, bevor wir unsere Ergebnisse in einem angesehenen Fachmagazin veröffentlicht haben. Das, worüber wir jetzt reden, steht auf Blogs! Die Befunde der Kritiker wurden von keinem Gutachter geprüft und von Leuten geschrieben, die ein Hühnchen zu rupfen haben. Mit dem, was wir unter Wissenschaft verstehen, hat das nichts zu tun. "
    Dass die umstrittenen Artikel zurückgezogen werden könnten, steht laut den Herausgebern der betroffenen Journale nicht zur Diskussion. Sie stehen weiter hinter den Artikeln und der verwendeten Methodik. Die PACE-Kritiker planen nun ihrerseits, auch die Re-Analyse in einem Fachjournal zu veröffentlichen.