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Chronist der deutschen Geschichte

Der verstorbene Walter Kempowski ist einer der beliebtesten und meist gelesenen deutschen Gegenwartsautoren gewesen. Mit Werken wie "Tadellöser und Wolff" oder dem "Echolot" war er einer der herausragenden literarischen Chronisten der Deutschen und ihrer Geschichte.

Von Michael Köhler | 05.10.2007
    "Ich hab' mein ganzes Leben lang weiter nichts gemacht als mich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, mit der Frage nach den drei Blutstropfen im Schnee, sozusagen. Wo kommen sie her, warum? Das ist mein Lebenszweck."

    Und das ist das Lebensthema seines Schreibens: die deutsche Geschichte und die bleierne Schwere der Vergangenheit. Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 in Rostock geboren. Der Vater war Reeder und Schiffsmakler, die Mutter Kaufmannstochter. Als Jugendlicher wurde er 1944 in eine Strafeinheit der Hitlerjugend versetzt, danach als Luftwaffenkurier zur Wehrmacht eingezogen. Nach dem Krieg begann er eine Kaufmannslehre in Rostock, wollte sie in Hamburg fortsetzen, musste dann aber nach Wiesbaden wechseln, wo er als Verkäufer bei der US-Armee tätig war.

    Beim Heimatbesuch 1948 wurde er vom sowjetischen Geheimdienst wegen angeblicher Spionage verhaftet und zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Er muss im DDR Zuchthaus Bautzen seine Haft absitzen. Diese Erfahrungen sind eine Art Lebensklammer für sein späteres Schaffen. Kempowskis Erstlingswerk "Im Block. Ein Haftbericht" handelt von jener Zeit. Und auch sein jüngstes Werk, ein Gedichtzyklus an dem er seit 2003 arbeitete und der zum 80. Geburtstag 2009 erscheinen sollte, handelt von der Inhaftierung.

    "Ich habe mein erstes Buch über Bautzen geschrieben, über meine acht Jahre Zuchthaus dort im 'Gelben Elend' und ich habe seitdem das Buch erschienen ist , 1970, immer noch das Gefühl, dass ein Restbestand noch nicht ausgesprochen wurde von mir. Und das kann ich nicht beschreibend tun, sondern ich muss es tatsächlich in Gedichten machen."

    Walter Kempowski wurde 1956 vorzeitig aus der Haft entlassen, holte 1957 in Göttingen das Abitur nach, studierte, heiratete und wurde Dorfschullehrer in Nartum, einem kleinen Ort zwischen Hamburg und Bremen.

    "Nartum und Rostock sind für mich der Nord- und der Südpol."

    Walter Kempowski ist einem größeren Publikum spätestens 1975 durch die Verfilmung seines autobiografischen Romans "Tadellöser und Wolff" bekannt geworden. Seine Sympathie gilt den einfachen Leuten. Schon dort zeigt sich sein besonderer Stil, der eigentlich ein produktives Prinzip ist, eine Arbeitstechnik, nämlich die Kunst der Collage, des Arrangierens eigener Erlebnisse mit Zeitungsmeldungen, Liedtexten, Briefen, Reklamesprüchen und so weiter. In seinem Haus hat er eine der größten Sammlungen an Tagebüchern. Sein riesiges Archiv hat er bereits 2005 der Akademie der Künste übergeben.

    "Es ist auch eine gewisse Neugier, wenn man dauernd nach Tagebüchern Ausschau hält. Alles was so Puppenstubencharakter hat, mal so reinzugucken. Also, wenn sie so wollen, ein Art Neugierde, die sich auch nach einer Behaustheit sehnt."

    Kempowski hält dieses Prinzip des Arrangierens durch, steigert und perfektioniert es bis zu seinem Opus magnum, dem "Echolot", einem kollektiven Tagebuch der Deutschen in zehn Bänden aus der Zeit zwischen 1943 und 1945. Darin kommen nur noch Zeitzeugen und Tagebuchaufzeichnungen vor, nicht mehr Kempowskis eigene Erlebnisse. Das Wort erhalten die Bäuerin und der General, der Schriftsteller und die Ostarbeiterin, der Lehrling und die Landfrau, der Diener, der Sekretär, der Soldat, der Zivilist und der Rotarmist. Das Erbärmliche und das Leiden der Menschen in jener Zeit ist sein Thema.
    "Sehen Sie, das ist dieses Gleichgewicht. Das ist auch eine Aussage des 'Echolots', dass das Grauenhafte aufgewogen wird durch Güte, durch Liebe."

    Kempowski ist mit seinen neun Bänden zur "Deutschen Chronik", mit dem "Echolot" sowie dreißig weiteren Büchern einer der meist gelesenen deutschen Autoren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Das hatte Gründe. Er war weniger der wegweisende Künstler als der Chronist deutscher Zustände und deutscher Geschichte: ein einfacher und genauer Beobachter der einfachen Menschen, ein Tiefenmesser zwischen Geschichte und Gegenwart, ein Mensch, der an Menschen interessiert war, an ihren vielen, verschiedenen Lebenswegen unter den Bedingungen der deutschen Geschichte.

    "Wenn ich Lesern begegne, sind die meist enttäuscht. Die stellen sich vor, ich müsste vielleicht ein bissl größer sein, dann habe ich so eine helle Stimme. In Bautzen war die angenehm, weil ich da singen konnte im Kirchenchor als Tenor. Aber hier draußen ist das etwas befremdlich, nicht?"

    Mit seinen Romanen über die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, mit seinen so genannten "Befragungsbüchern" aus der Zeit der jungen Bundesrepublik und den riesigen Chroniken hat Kempowski das Grauen hinter den Idyllen gezeigt und den zahllosen Namenlosen eine Stimme gegeben. Auch wenn er mit seiner Literatur nicht an die künstlerischen Avantgarden des 20.Jahrhunderts anknüpfte, sie weiter entwickelte, er sogar in mancher Literaturgeschichte fehlt, so ist und bleibt er in der deutschen Literatur eine wichtige Stimme, die den Tagebuchaufzeichnungen und den Erfahrungen der Menschen Vorrang einräumte.

    Er hat den Mitteilungen des Erbärmlichen, dem menschlichen Drama Gehör verschafft, der die deutsche Teilung nie hinnahm und deshalb etwa von den 68ern quasi links liegen gelassen wurde. Walter Kempowski, ein Rostocker aus Nartum, ein herausragender Chronist der Deutschen und ihrer Geschichte.

    "Für mich war immer das höchste Ziel meines Lebens, die Wiedervereinigung mitzuerleben. Und das mir das noch geschenkt wurde, ist eine große Freude für mich."