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Chronist des Wandels

Sie ist die wohl am meisten fotografierte Stadt der Welt. Auch der Hobbyfotograf Steven Siegel ist fasziniert vom Moloch New York. Einen Querschnitt seiner Bilder präsentiert er jetzt beim Fotodienst Flickr. Vor allem seine Bilder aus den späten 70er- und frühen 80er-Jahre beeindrucken.

Von Christian Lehner |
    "Der Moloch New York ist gleichermaßen abschreckend und faszinierend. Es gibt nur zwei Möglichkeiten für den Neuankömmling: entweder man verlässt die Stadt nach einer kurzen Zeit, oder man lässt sich vom Chaos aufsaugen."

    Der Times Square im Frühling. Unter den berühmten Leuchtreklamen wälzen sich die Touristenmassen. Steven Siegel sitzt auf einer Aussichtsrampe und lässt den Blick über die Menschen streifen. Rund um den Platz im Herzen Manhattans locken die protzigen Filialen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Das war nicht immer so.

    In den 70er und 80er-Jahren war der Times Square ein Hort der billigen Vergnügen: Strip-Bars, Drogendealer und Glückspielbuden prägten die Szene.

    Mittendrin: Steven Siegel mit seiner 35mm Kamera. In die Stadt war er aus New Jersey zum Studium der Rechtswissenschaften gekommen. Doch ihn lockte auch das Abenteuer Straßenfotografie.

    "Der Times Square war ein gefährliches Pflaster. Speziell in der Nacht. Man musste sich dabei nicht nur vor Gangstern hüten, sondern auch vor der Polizei. Beide konnten einem übel mitspielen."

    Nicht selten musste Siegel seine Fotos versteckt schießen. Die Aufnahmen vom Times Square in den70ern zeigen Männer in Trenchcoats, Transvestiten, Seeleute und Prostituierte. Auf einem Foto ist ein Straßenprediger zu sehen mit einem Schild, das zur Buße auffordert.

    "Die Vergnügungsmeile in Midtown war auch ein Magnet für Seelenfänger aller Art - darunter viele Verrückte. Sie haben das Ende der Welt verkündet und die Ankunft Christi prophezeit, hier, Mitten im Paradies der Sünde."

    Aufnahmen wie diese, direkt und ungeschönt, verwackelt und authentisch, begeistern derzeit die New Yorker Öffentlichkeit. 30 Jahre lang hat Siegel den rastlosen Geist New Yorks auf Fotofilm gebannt. Jetzt sind die Bilder des Anwalts im Internet für jedermann zugänglich.

    "Für Fotografen ist New York wie der Himmel! An jeder Straßenecke kann man Tausende Eindrücke festhalten. Natürlich will ich das mit möglichst vielen Leuten teilen. Deshalb habe ich ein Online-Archiv angelegt. New York ist immer noch der Melting Pot, ein vielschichtiges Labor des Zusammenlebens."

    Besonders faszinierend aber auch erschütternd sind die Aufnahmen aus den späten 70er-Jahren: Stadtteile wie die Süd-Bronx oder Harlem glichen ausgebombten Städten, die Graffiti-Kultur blühte in der heruntergekommenen U-Bahn, die Straßen Manhattans waren von Obdachlosen bevölkert.

    "Die sozialen Umbrüche waren enorm! Der Mittelstand floh regelrecht aus der Stadt! Viele Hausbesitzer haben ihre Häuser angezündet. Teils aus betrügerischer Absicht, teils, weil sie sich die Grundstücksteuer nicht mehr leisten konnten."

    Steven Siegel will ein Chronist des Wandels sein. "Der Wandel, sei der Herzschlag New Yorks", wie er sagt. Dieser Wandel hat seine guten und schlechten Seiten. New York ist nicht mehr so rau und authentisch und ziemlich teuer geworden, dafür muss man aber auch nicht mehr um sein Leben fürchten, wenn man auf der Straße geht.

    "New York lässt sich am besten zu Fuß oder mittels U-Bahn erkunden. Am interessantesten sind jene Viertel, die sich verändern, so wie momentan Brooklyn. Reich. Arm. Immigranten aus aller Welt. Für einen kurzen Moment sind all diese Menschen gezwungen, zusammenzuleben, Kompromisse zu schließen und – ja - vielleicht auch Freundschaften zu entwickeln."

    Steven Siegels Stadtbilder sind auf dem Foto-Portal Flickr.com unter Eingabe seines Namens zu finden, die Fotos des Stadtarchivs New York auf der Website der Behörde.