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Chronist von Lebensmomenten

Clemens Kalischers Aufnahmen sind festgehaltene Lebensmomente. Seit den 50er-Jahren fotografiert er in den USA, bis heute für die "New York Times". In Köln ist eine Auswahl seiner Schwarz-Weiß-Arbeiten ausgestellt.

Christiane Vielhaber im Gespräch mit Christoph Schmitz |
    Christoph Schmitz: Auch sein Leben war von Krieg und Verfolgung geprägt. Die ganze Wucht des grausamen 20. Jahrhunderts bekam er mit. Die Kunstwelt hat ihn ein wenig vergessen. Vielleicht weil die Selbstinszenierung als Künstler nicht seine Sache ist. Aus New York hat es ihn schon Anfang der 50er-Jahre fort aufs Land getrieben, ausgewichen als Künstler und Fotograf war er dem Zeitgeschehen dennoch nicht. Die Rede ist von Clemens Kalischer. Clemens Kalischer wurde 1921 in Lindau am Bodensee geboren. 1933 flüchtete er mit seiner jüdischen Familie nach Frankreich, während des Krieges konnte er in die USA gerettet werden. Mitte der 50er-Jahre brachte er es zu großen Erfolgen als Fotograf, bis heute arbeitet er für die "New York Times". Die Flüchtlinge aus Europa bei ihrer Ankunft in New York hat er fotografiert, New Yorker Kinder und Erwachsene auf den Straßen, Bergarbeiter in den Kohlegruben von Pennsylvania und Künstler. Alles schwarz-weiß. Im Kölner Forum für Fotografie sind jetzt Arbeiten von Kalischer aus den Jahren zwischen 1945 und 1967 zu sehen. Christiane Vielhaber, Sie waren dort. Welche Motive hat man in Köln ausgesucht?

    Christiane Vielhaber: Es geht immer nur um Menschen, es ging ihm sein Leben lang um Menschen. Der Mensch steht im Mittelpunkt und nicht der Ort, wo sich dieser Mensch befindet. Das Thema steht im Mittelpunkt und nicht die Fotografie, wie es ja auch sein könnte. Er hat in den Straßen New Yorks fotografiert, er ist aber kein Street Photographer, wie man das so sagt, er ist nämlich keiner, der mit kritischem Blick geht, der irgendwie soziale Anklage machen will. Er ist keiner, der eine Botschaft hat. Es geht ihm wirklich um die Beziehung zwischen Menschen, und es geht im letztlich auch um sich selbst. Im Grunde genommen handelt seine Fotografie von uns oder sind alles schwarz-weiße Beweise für unsere eigenen Erfahrungen. Nehmen wir zum Beispiel Pennsylvania Station. Da geht es gar nicht mal so sehr um das Warten der Menschen. Aber was machen Menschen im Bahnhof? Da sehen Sie eine Frau, die zieht so eine ganz komische Schnute und guckt, dann denkt man, kommt der jetzt vielleicht zu spät, mit dem sie losfahren will, ist er nicht gekommen, hat ihr Zug Verspätung. Zu allen Sachen denken Sie sich was aus. Oder Sie haben ein sehr putziges, ein witziges Foto: Eine Parkbank in New York, und da sitzt ein alter Mann mit seinem Hut und döst vor sich hin, neben ihm ein kleiner Junge. Und dahinter sehen Sie auf der nächsten Parkbank lauter Frauen von hinten. Die sind auf die Bank gestiegen und gucken jetzt rüber, und man kann jetzt nur vermuten, dass da vielleicht ihre Kinder irgendein Spiel spielen, damit sie das im Stehen besser sehen.

    Schmitz: Also Momentaufnahmen aus New York in diesen 40er-, 50er- oder 60er-Jahren. Ich muss da einmal nachfragen, Sie haben es schon ein bisschen angedeutet: Bei der Sichtung im Internet dieser Fotos hatte ich den Eindruck, dass es wirklich Momentaufnahmen sind, dass Kalischer fast unsichtbar herumschleicht und lange wartet und auf der Lauer liegt und plötzlich den Moment abwartet, den er braucht, ohne bemerkt zu werden.

    Vielhaber: Das ist ihm wichtig. Er möchte eine stumme Zwiesprache mit seinem Gegenüber, und sein Gegenüber merkt es gar nicht, dass er sich ihm nähert. Es ist aber nicht so, dass er stundenlang irgendwo steht und wie zum Beispiel Cartier-Bresson auf den einen entscheidenden Moment wartet. Er ist eher ein Flaneur, der einfach den Auslöser drückt, wenn er irgendwas sieht, was ihm irgendwo typisch vorkommt. Und wenn Sie von diesen Flüchtlingen gesprochen haben, es ist in dieser Ausstellung hier in Köln wichtig, die Gruppenbildung zu sehen, im Kontext zu sehen. Sie kennen das berühmte Foto von Doisneau, was er ungefähr zeitgleich in den 50er-Jahren in Paris gemacht hat, dieses junge Paar, das sich auf der Straße küsst. Sie haben genau ein ähnliches Foto, ein Paar, das sich küsst, und Sie denken, die sind verliebt. Aber es ist die Stelle in New York, wo die Flüchtlinge ankommen. Sie wissen jetzt nicht, ist sie gerade angekommen oder hat sie schon in Amerika gelebt und begrüßt ihren Bruder, ihren Vater, ihren Freund. Das sind solche dichte Momente. Und bei diesen Flüchtlingsbildern ist es auch so, dass sie das Gefühl haben, dass er seine Distanz aufgibt, dass da doch diese Form von, Sie spüren da Trauer, Sie spüren da Verzweiflung, Sie sehen Hoffnung in den Gesichtern. Also die sind noch mal eine ganz eigene Geschichte.

    Schmitz: Also Menschen sind es, aber dennoch eingebunden in das Umfeld, in das Lebensumfeld. Das sieht man ja auch immer wieder, also die Straßen, die Bürogebäude, den Park. Welche Rolle spielt das Ambiente, welche Funktion hat das?

    Vielhaber: Das Ambiente spielt nicht so sehr eine Rolle, sondern wenn Sie die Arbeiter sehen, die da irgendwas schleppen oder die die Ladung löschen am Hafen, dann sehen Sie einfach den Arbeitsplatz. Aber im Grunde genommen ist es das Leben dieser Menschen, wie sie arbeiten, wo sie arbeiten und was das mit ihnen macht.

    Schmitz: Christiane Vielhaber, vielen Dank für das Gespräch über die Clemens-Kalischer-Ausstellung im Forum für Fotografie in Köln.