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Chronologie der Pandemie
Wie das Coronavirus Deutschland verändert

Es begann mit Fällen in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Mittlerweile ist die ganze Bundesrepublik betroffen. Die Corona-Epidemie hat Deutschland verändert - mit Grenzkontrollen, Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren. Erste Zweifel werden laut, ob die Einschränkungen verhältnismäßig sind.

Von Moritz Küpper und Vivien Leue | 08.04.2020
Eine lange Schlange bildet sich vor einem Supermarkt im Stadtteil Reinickendorf. Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen hat die Bundesregierung das öffentliche Leben weiter erheblich eingeschränkt.
Lange Schlange vor einem Supermarkt in Berlin. Strenge Abstandsregelungen gehören in Deutschland mittlerweile zum Alltag. (dpa/ Kay Nietfeld)
Die Ostertage stehen vor der Tür: Familien haben Urlaub, für die nächsten Tage soll das Wetter– allerorts – frühlingshaft und sonnig bleiben. Es ist – das weiß auch Bundeskanzlerin Angela Merkel – eine besondere Zeit: "Ostern, das ist für Millionen von Christen der Kirchgang, das ist der Ostersonntag mit der ganzen Familie, vielleicht ein Spaziergang, Osterfeuer. Das ist für viele ein kurzer Urlaub an der See oder im Süden, wo es schon wärmer ist." So Merkel in ihrer wöchentlichen Video-Ansprache: "Normalerweise. Aber nicht in diesem Jahr. Wir alle werden ein ganz anderes Osterfest erleben als je zuvor."
Denn: Picknicken beispielsweise, ist verboten. Genauso wie Gottesdienste, das Treffen mit Freunden, der Kurz-Urlaub. In Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland mit dem ersten Corona-Bußgeld-Katalog, werden bei einem Picknick 250 Euro Strafe fällig. Die Verabredung zum Fußball-Spiel im Park oder im Verein kosten 1000 Euro. Es sind diese Beträge, Verwaltungsvorschriften, die zeigen: Deutschland ist im Ausnahmezustand – und zwar schon seit mehreren Wochen. "Es geht um Leben und Tod. So einfach ist das und auch so schlimm", sagt NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. "Ich habe den Golfkrieg miterlebt, ich habe die Ölkrise miterlebt, ich habe einiges miterlebt. Aber in der Form habe ich es noch nicht erlebt. Vor allen Dingen so plötzlich", sagt ein Hotelier aus Düsseldorf. "Wir brauchen Hilfe, und schnell. Sonst haben wir hier tatsächlich Pleiten", sagt ein Taxi-Betreiber aus Düsseldorf.
Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wiele, sitzt an einem Tisch mit Mikrofon.
RKI - "Leute dürfen das Coronavirus nicht unterschätzen"
RKI-Präsident Lothar Wieler hat sich zur Entwicklung der Coronavirus-Epidemie vorsichtig optimistisch geäußert. Zwar stehe der positive Trend bei den Fallzahlen im Zusammenhang mit den Maßnahmen, das sei jedoch nur eine Momentaufnahme.
Das Land ist ein anderes
Seit ein paar Wochen ist das Land ein anderes, bestimmen Vokabeln wie "Kontaktverbot", "Ausgangsbeschränkungen" und "Shutdown" die Debatte. Der Grund: das neuartige Corona-Virus SARS-CoV-2. Jener Erreger, der weltweit Auslöser für die Lungenkrankheit COVID-19 ist, genannt. Aus der chinesischen Stadt Wuhan, wo Ende 2019 der erste Fall gemeldet wird, verbreitet sich das Virus. Die erste Infektion in Deutschland wird Ende Januar in Bayern bestätigt. Doch zum "Corona-Hot-Spot" wird der Landkreis Heinsberg in NRW. Dort informiert Landrat Stephan Pusch Ende Februar über die ersten Corona-Fälle: "Wir haben den Krisenstab einberufen. Wir haben erste Maßnahmen verfügt, um einer möglichen Ausbreitung des Virus entgegen zu wirken." Schulen und Kindergärten werden geschlossen, vorerst für ein paar Tage: "Ich denke, die Situation erfordert von uns allen ein wenig Disziplin, aber wir sollten auch nicht in Panik verfallen."
Innerhalb der nächsten Wochen wird aus dem bis dato eher unbekannten Landrat Pusch eines der Gesichter des Kampfes gegen die Corona-Krise. Und aus Heinsberg – jenem kleinen Landkreis mit rund 250.000 Einwohnern nördlich von Aachen – der Ort in Deutschland, der fast in einem Atemzug mit dem chinesischen Wuhan genannt wird. Seit nunmehr fünf Wochen ist die Region wie abgeriegelt. Wohl ausgehend von einer Karnevalssitzung im Ort Gangelt verbreitet sich das Virus besonders schnell und stark. Der Bürgermeister der Gemeinde Gangelt, Bernhard Tholen, schildert Anfang März am Telefon: "Alles ist zurückgefahren. Dadurch, dass die Kinder zuhause sind, merkt man wirklich, dass der Straßenverkehr weitaus weniger ist. Viel weniger Menschen in den Geschäften sind."
Messebauer, Dienstleister, Taxifahrer und Hoteliers in Not
Unterdessen breitet sich das Virus in Nordrhein-Westfalen aus. 2. März: 92 Infizierte. 4. März: 172. Diese Zahlen klingen erst einmal harmlos, Virologen warnen jedoch schon vor dem exponentiellen Wachstum, sprich: Die Zahl der Infizierten erhöht sich aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr rasend schnell. 6. März: 324. 8. März 484.
Vor einem Monat, am 9. März, dann die Nachricht: Im Universitäts-Klinikum Essen stirbt eine 89-jährige Frau an dem Virus, fast zeitgleich ein Mann aus Gangelt im Kreis Heinsberg. Es sind die ersten registrierten Corona-Todesfälle in Deutschland. Der Heinsberger Landrat Pusch informiert: "Ich muss Sie leider informieren, dass heute ein 78-Jähriger gestorben ist. Der Fall zeigt, dass besonders ältere und vorerkrankte Personen gefährdet sind."
Tags drauf, am 10. März, wird das Krisenmanagement der nordrhein-westfälischen Landesregierung unter Ministerpräsident Armin Laschet, CDU, auch öffentlich sichtbar, werden erste Maßnahmen verkündet: "Mittelpunkt unserer Maßnahmen muss daher der Verzicht von Großveranstaltungen sein. Deshalb war es hilfreich, dass Gesundheitsminister Spahn sich dafür ausgesprochen hat, dass alle Veranstaltungen über 1000 Besucher abzusagen sind."
Ministerpräsident Armin Laschet.
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (imago / F. Boillot )
Das Fußball-Spiel zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln wird zum ersten Geisterspiel der Bundesliga-Geschichte. Zu diesem Zeitpunkt, Mitte März, sind viele Groß-Veranstaltungen schon abgesagt oder verschoben, wenige Tage später werden Messen in NRW komplett verboten – bis mindestens Mitte April.
Viele Wirtschaftsbranchen trifft das hart. Nicht einmal drei Wochen nach den ersten Virusfällen im Kreis Heinsberg stehen Messebauer, Dienstleister, Taxifahrer und Hoteliers den Entwicklungen ohnmächtig gegenüber.
Sinkende Umsätze
Im "Brauereiausschank am Zoo" in Düsseldorf – kurz BAZ – steht Thomas Demske hinter der Theke und blickt auf den halbvollen Gastraum. "Das erste Mal merkte ich wirklich Anfang März, da haben wir es an einem Umsatzstarken Tag wie Montag gemerkt, dass wir nur noch die Hälfte an Umsatz hatten."
Jetzt, Mitte März, sagen viele Senioren-Stammtische ab, die Messegäste fehlen. Gastronom Demske hofft, dass Restaurants wenigstens nicht ganz geschlossen werden, wie es zu der Zeit in Belgien, Italien schon passiert ist. "Jetzt wird ja diskutiert, die EM abzusagen, das sind für uns Einnahmen, die einkalkuliert sind."
Ähnlich geht es Hotelier Otto Leyh. Wenige Minuten vom BAZ entfernt betreibt er das "Hotel Haus am Zoo" – seit fast 40 Jahren. "Die aktuelle Situation ist sehr kritisch. Sie ist massiv gefährdend fürs Unternehmen, da mindestens 70 Prozent storniert worden sind."
Andernorts ist da die Sorge zur gleichen Zeit Mitte März noch nicht so groß: "Zum Gruße, alles gut?" Mal mit Krücken oder Rollator, mal langsam zu Fuß. "Hier ist ja was los." Aber alle gut gelaunt, treffen die Mitglieder der Senioren-Union Troisdorf, einer Kleinstadt im Rhein-Sieg-Kreis, zur Mitgliederversammlung ein: "Ich geb mal nicht die Hand." "Ne." Die Knöchel klopfen auf die grüne Tischdecke, neben einer gelben Serviette und vor der dicken Sahnetorte. Während aus Berlin die Nachricht kommt, dass der CDU-Sonderparteitag Ende April, auf dem die Machtfrage in der Kanzlerinnen-Partei geklärt werden soll, auf unbestimmte Zeit verschoben wird, treffen sich hier 22 ältere Menschen – alle in der Corona-Risikogruppe, weil über 60 Jahre alt – und machen sich wenig Sorgen: "Man muss sich nicht unbedingt die Hände geben." "Ich geh nicht zu Großveranstaltungen. Und das macht mir keine Sorgen."
Zahl der Infizierten steigt rasant
Die Zahl der Infizierten in NRW steigt derweil weiter rasant. 14. März: 1636. 18. März: 3838. Das Corona-Virus ist aber längst nicht mehr nur auf NRW beschränkt. Alle Bundesländer sind mittlerweile betroffen – und uneins darüber, welcher Weg jetzt gegangen werden muss. Wer reagiert wann – und wie? Es ist diese zentrale Frage, die den März dominiert. Die sich an alle politische Handelnden richtet. Die zu einer nie gekannten Prüfung des demokratischen Systems wird, Fragen an die föderale Struktur aufwirft – und zu einem politischen Wettstreit der anderen Art führt: Wer ist der beste Krisenmanager? Wer macht was zuerst – und verkündet es auch möglichst schnell?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU: "Wir sind am Beginn einer Pandemie offensichtlich weltweit. Das verunsichert. Und genau deshalb sind wir heute hier. Wir wollen mit Sachinformationen Unsicherheiten abbauen." Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder von der CSU: "Corona hat unser Land fest im Griff. Wir haben alle in den letzten Tagen viel getan. In Deutschland, aber auch in Bayern." Oder eben der christdemokratische NRW-Ministerpräsident Laschet, der nun – scheinbar vor dem Hintergrund der offenen Machtfrage in der Union – mit Söder aneinandergerät. Am Freitag, 13. März, kommt es zu einer weiteren tiefgreifenden Maßnahme.
"Wir haben es mit einer sehr ernsten und komplexen Bedrohung zu tun." Stellt Armin Laschet an diesem Nachmittag klar und verkündet für sein Bundesland: "Die Schulen in Nordrhein-Westfalen werden durch das Vorziehen der Osterferien ab sofort geschlossen", sagt Laschet. Bereits am frühen Morgen war allerdings Bayern vorgeprescht, hatte Söder die gleiche Nachricht verkündet. Damit sich Schulen und Familien in NRW auf die wochenlange Schließung einstellen können, gibt es eine zweitägige Übergangsfrist.
Coronavirus
Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library)
Herausforderung für Schüler, Lehrer und Eltern
Das Friedrich-Rückert-Gymnasium in Düsseldorf nutzt die Zeit, um den unteren Jahrgängen noch schnell die schuleigenen iPads auszugeben. Eine Gruppe von Sechstklässlerinnen steht vor dem Schulgebäude an einem geöffneten Fenster. "Brauchst Du ein Ladekabel?" – "Ja!" Eine provisorische Ausgabestelle – die für ausreichend Abstand sorgt.
In der Schule herrscht noch geschäftiges Treiben. Rektorin Pietzko muss viel organisieren, bevor das Kollegium ins Homeoffice geschickt wird. Das Gymnasium arbeitet mit einer eigenen Schul-Cloud. Es gibt virtuelle Klassenräume, Schüler können Fragen posten oder Dateien hochladen – das hilft der Schule nun: "Jetzt werden alle Lehrer die Schüler halt über diese Online-Plattform mit Lernmaterialien versorgen, wir haben auch Zugriff auf Lernvideos, die angeschaut werden können."
Fast zeitgleich zu den Schulschließungen in NRW machen viele Staaten, in Europa und Übersee, ihre Grenzen dicht – der weltweite Flugverkehr bricht ein. Urlauber sitzen fest. Am Düsseldorfer Flughafen ist es an diesem Wochenende Mitte März gespenstisch still. Nur an ein paar geöffneten Reise-Schaltern stehen Menschen mit zum Teil sorgenvollen Gesichtern. "Ich bin für eine Dienstreise hier und kann jetzt nicht mehr zurück in die Türkei reisen."
Ähnlich geht es Tausenden Deutschen – andersherum. Sie sitzen in ihren Urlaubsorten fest, wissen nicht weiter. Die Bundesregierung startet eine Rückholaktion aus 57 Ländern, die bis heute andauert. Hierzulande locken Mitte März die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings die Menschen nach draußen. Die Parks sind voll, in den Cafés sitzen Gäste dicht an dicht. Im Bundeskanzleramt beobachtet man das mit Sorge – und geht in einem außergewöhnlichen Schritt an Öffentlichkeit: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt."
Deutliche Worte von Angela Merkel
Knapp 13 Minuten lang versucht Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache die Bevölkerung zu mahnen: "Ich weiß, wie hart die Schließungen in unser Leben und auch unser demokratisches Selbstverständnis eingreifen."
Photo taken on March 18, 2020 shows German Chancellor Angela Merkel delivering a video speech on COVID-19, in Berlin, capital of Germany. German Chancellor Angela Merkel urged solidarity among citizens in a speech on Wednesday evening, calling the COVID-19 the nation s biggest challenge since World War II.
Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer TV-Ansprache zum Coronavirus (Shan Yuqi / imago / Xinhua)
Der Hintergedanke der Politik: Staatliche Ausgangsbeschränkungen sollen verhindert werden, man wolle sich die Situation anschauen und vier Tage später, am Sonntag, in einer Schalte mit den Ministerpräsidenten bewerten.
Doch im Wettlauf um den besten Corona-Krisenmanager prescht Bayerns Ministerpräsident Söder zwei Tage später, am Freitag, erneut vor. "Ich und wir können nicht verantworten zu warten. Jede Infektion, jeder Tote ist zu viel. Deswegen warten wir nicht auf endlose Abstimmungen in endlosen Sitzungen und Gremien, sondern wir treffen die Entscheidung aufgrund der gesetzlichen Grundlage, die wir in Bayern haben, und handeln." Er verhängt Ausgangsbeschränkungen – bayernweit. Das Saarland sowie einzelne Kommunen, beispielsweise in NRW, ziehen nach. Ein Affront gegenüber den anderen Ländern, weshalb es in der gemeinsamen Schalte am Sonntag zwischen Söder und Laschet auch gekracht haben soll. Nach dem Treffen tritt Laschet dann – als Erster – vor die Presse: "Um alle Menschen zur Vernunft zu bringen, braucht es aus meiner Sicht weitere, strengere Maßnahmen und ein gemeinsames, geschlossenes Vorgehen von Bund und Ländern."
Der Begriff des Kontaktverbots ist geboren. Laschet sagt: "Nach unserer Einschätzung ist nicht das Verlassen der Wohnung die Gefahr. Die Gefahr ist der enge, unmittelbare, soziale Kontakt. Meine Überzeugung: Kontaktverbote sind im Vergleich zu einer Ausgangssperre für die Unterbrechung von Infektionsketten verhältnismäßiger, zielgerichteter und besser zu vollziehen."
Die Infizierten-Zahlen in NRW wachsen derweil weiter, wenn auch etwas langsamer. 24. März: 8745. 26. März: 10.467. 28. März 12.744.
Sind die Maßnahmen verhältnismäßig?
Gleichzeitig entwickeln sich außerhalb der Politik Zweifel, ob all diese Einschränkungen noch verhältnismäßig sind. Umfragen, die ein paar Tage später publik werden, zeigen zwar, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen die drastischen Maßnahmen begrüßt, doch vielerorts stoßen Menschen an ihre Grenzen.
Zwei Spaziergänger mit Mundschutz, im Hintergrund mehrere Menschen bei schönem Wetter im Tempelhofer Feld Park in Berlin
COVID-19 - Wie sich der Shutdown auf die Fallzahlen auswirkt In Deutschland gelten Auflagen, die dabei helfen sollen, die Corona-Epidemie einzudämmen – und es gibt bereits Erfolge.
An Alltag ist auch in der Wirtschaft noch nicht zu denken. Der Düsseldorfer Hotelier Leyh fragt sich:
"Momentan werde ich nachts wach, und der erste Gedanke ist: Wie geht's weiter vor allen Dingen? Wie geht es auch weiter danach?"
Ähnliche Sorgen hat Gastronom Thomas Demske. Der 36-Jährige steht fast wie gewohnt hinter seiner Theke im BAZ. Doch statt Bier zu zapfen, schüttet er es weg.
"Das läuft ab, das habe ich auch gerade wunderbar entsorgt im Waschbecken. Ja, wir gehen davon aus, dass wir 500 bis 600 Liter entsorgen müssen – allein an Altbier."
Es kam dann doch schlimmer als erhofft – sein Restaurant ist erst einmal geschlossen, alle Mitarbeiter in Kurzarbeit. "Wir stehen bei null Einnahmen gerade, seit fast zwei Wochen und realistisch betrachtet wird das wohl noch die nächsten zwei Monate so bleiben", sagt Demske und blickt etwas ratlos auf den leeren Gastraum.
Abhilfe sollen Rettungsschirme nicht gekannten Ausmaßes bringen. Die Zahlen mit all den Nullen purzeln nur so durch die Republik. Der Bundestag beschließt einen Nachtragshaushalt in Höhe von 156 Milliarden Euro sowie Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit dem Volumen von bis zu 600 Milliarden Euro. Länder wie NRW und Bayern ergänzen. Allein die Corona-Soforthilfe für Kleinunternehmer und Solo-Selbständige wird in den ersten drei Tagen nach Inkrafttreten in NRW mehr als 200.000 mal beantragt und oft innerhalb von nur einem Tage bewilligt. Auch Hotelier Leyh und Gastronom Demske sind unter den Empfängern.
Kritische Stimmen werden lauter
Dennoch werden nun die ersten kritischen Stimmen lauter: Während in Nordrhein-Westfalen die erste Individualverfassungsbeschwerde gegen die nordrhein-westfälische Corona-Schutzverordnung aus formalen Gründen erfolglos war, ist für Baden-Württemberg die Normenkontrollklage einer Fachanwältin für Medizinrecht gegen die Corona-Verordnung angekündigt; in Berlin löst das allgemeine Verbot von Gottesdiensten juristischen Widerstand aus.
"Ich bin an diesem Tage froh, dass ich kein Jurist bin, weil ich das Gefühl habe, wir haben im Moment ganz wichtige Fragen zu klären: Es geht um Leben und Tod." Entgegnet Herbert Reul, Nordrhein-Westfalens Innenminister diesen Entwicklungen.
"Ich wette, wenn das alles vorbei und es uns wieder gut geht, wird es wahrscheinlich noch viele kluge Leute geben, die uns dann genau sagen, an welcher Stelle, wer, von welchem Ministern, wo, vielleicht, irgendwie vorschnell, zu schnell, nicht hundertachtzigprozentig exakt gehandelt hat. Ich kann ihnen nur sagen: Die Sorgen habe ich nicht. Ich habe die Sorgen, dass wir, die wir jetzt in der Pflicht sind, alles tun, um zu verhindern, dass die Epidemie sich weiter ausbreitet. Punkt, Ende, Aus. Insofern: Sollen sie eine Klage einreichen – ich hoffe, Sie stoßen auf kluge Richter."
Bundesländer diskutieren über Exit-Strategien
Trotzdem: Mittlerweile diskutieren auch einzelne Bundesländer über die Exit-Strategien. In NRW soll ein Expertenrat entsprechende Leitlinien erarbeiten. In ihm sitzen Unternehmer, Ethiker, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler – und beraten Ministerpräsident Laschet: "Wir schaffen Unsicherheiten und vernichten auch Wohlstand, Werte und Existenzen. Das muss uns immer wieder bewusst sein. Wir sagen am Ende: Ja, das ist jetzt erforderlich, in der Abwägung. Aber wir müssen immer auch mitdenken: Wie kommen wir aus dieser Situation wieder raus."
Eine Stimme im NRW-Expertenrat: Professor Hendrik Streeck. Der Chef-Virologe des Universitätsklinikums Bonn arbeitet aktuell an einer Studie im deutschen Corona-Brennpunkt Heinsberg. Untergebracht in einer leerstehenden Förderschule in Gangelt wurden tausend willkürlich ausgewählte Probanden getestet, Blutproben und Rachenabstriche entnommen, Türklinken abgestrichen, die Oberfläche der Handys abgewischt.
Die Gesamtschule Gangelt-Selfkant im Kreis Heinsberg wurde wegen des Coronavirus vorübergehend geschlossen. Ein Schild an der Eingangstür weist darauf hin.
Die Gesamtschule Gangelt-Selfkant im Kreis Heinsberg wurde wegen des Coronavirus vorübergehend geschlossen. (dpa/Henning Kaiser)
"Der Landkreis Heinsberg ist eine Chance. Es ist eine Chance, Informationen zu sammeln und praktische Hinweise zu geben, wie man in der Zukunft mit der SARS Covid 2 umgehen kann und wie wir am besten eine Eindämmung weiterhin erreichen, ohne dass das Leben in den nächsten Jahren zum Erliegen kommt", sagt Streeck.
Illustration zum Thema Exit-Strategien für Maßnahmen gegen das Coronavirus
Ausstiegsszenarien: Wie Deutschland zur Normalität zurückkehren könnte
Noch mindestens bis zum 20. April befindet sich Deutschland im Corona-Stillstand. Doch bereits jetzt planen die Fachleute den Ausstieg. Welche Szenarien spielen dabei eine Rolle – und welche Risiken sind damit verbunden?
Und dafür eignet sich der Landkreis Heinsberg eben am besten. Denn, so Landrat Pusch: "Wenn jemand in Deutschland weiß, was es heißt, mit dem Corona-Virus zu leben, dann sind es glaube ich die Menschen im Kreis Heinsberg. Wir haben viele Wechselbäder der Gefühle durchlebt." Wechselbäder, die gerade jetzt, an den Ostertagen, noch einmal besonders zu spüren sind.