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Citizen Kane der DDR

Die Schriftstellerin Irina Liebmann, die Romane, Reportagen, Kinderbücher und Theaterstücke geschrieben hat, zieht nach eigener Aussage das Schreiben über Fakten dem fiktionalen Schreiben vor. Und doch ist jedes ihrer Bücher auch Ausdruck einer sprachlichen und formalen literarischen Kunstfertigkeit, die sie mit jedem neuen Buch weiter vervollkommnet. In ihrem neuen Buch "Wäre es schön? Es wäre schön!" , für das sie in Leipzig den Preis für das beste Sachbuch bekommen hat, beschäftigt sie sich mit dem Leben ihres Vaters Rudolf Herrnstadt.

Von Cornelia Staudacher | 21.05.2008
    An einem Spätsommertag des Jahres 1953 fährt ein schwarzer BMW aus Berlin Richtung Süden. Neben dem Chauffeur sitzt ein Mann im hellen Trenchcoat, hinten eine Frau und zwei kleine Mädchen. Der Mann vorne sieht starr geradeaus. Von hinten kann man sehen, wie seine Kiefernmuskel sich bewegen, als ob er die Zähne zusammenbeißt, und das sieht aus, als ob er weinen müsste. Zwei Stunden lang oder drei.
    Die ebenso knapp wie eindringlich beschriebene Szene zu Beginn des Buches stellt den Wendepunkt dar, einen Augenblick von immenser Tragweite für Herrnstadt und seine Familie - beschrieben aus der beobachtenden Perspektive des ernsten Kindes, in das sich die Autorin hineinversetzt, ohne ins Sentimentale abzugleiten. Und doch wird schon aus diesen wenigen Zeilen deutlich, wie nahe ihr der Vater gestanden hat.

    "Ich hatte einen wunderbaren Vater, nicht nur, weil er ein warmherziger Mensch war, und ein väterlicher Mensch, sondern eben, weil er eine geistige Welt immer mit sich führte, die wirklich so weit und offen war, dass ich mich immer frei gefühlt habe. Das ist sein Werk. Denn er hat ja weder uns indoktriniert, oder er war überhaupt kein Dogmatiker. Er konnte wunderbar erzählen, sehr ironisch. Es war immer so reich, es war ein Reichtum, da brauchte man keinen materiellen Reichtum."

    Rudolf Herrnstadt war einer der sprachgewaltigsten Journalisten der frühen DDR und langjähriger Leiter des "Neuen Deutschland". Manche nennen ihn den "Citizen Kane der DDR", eine charismatische Erscheinung. Vor allem aber war er ein leidenschaftlicher Verfechter der Idee eines humanen Sozialismus. Seine Vision einer neuen, die Entfaltung jedes Einzelnen ermöglichenden gesamtdeutschen Gesellschaft unter sozialistischer Ägide war, wie wir heute wissen, zum Scheitern verurteilt.

    Den geistigen Reichtum, die intellektuelle Offenheit und Umtriebigkeit hat er sich bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1966 bewahrt, obwohl ihm die Partei, der er sein Leben widmete, gegen Ende seines Lebens übel mitgespielt hat.

    1903 in eine oberschlesische jüdisch-bürgerliche Familie geboren, erkennt er früh die Gefahr des aufziehenden Faschismus und wird Kommunist. Nach einem abgebrochenen Jurastudium und dem vergeblichen Versuch, sich in Berlin als Stückeschreiber zu etablieren, beginnt er beim "Berliner Tageblatt" zu schreiben. Theodor Wolff fördert den talentierten jungen Journalisten, dem, als er von der Partei als Geheimdienstmann nach Warschau geschickt wird, die Arbeit als Korrespondent für das renommierte Blatt auch als Tarnung dient. 1939 gelingt ihm im letzten Moment die Flucht nach Moskau, wo er sich am Aufbau des "Nationalkomitee Freies Deutschland" beteiligt und die gleichnamige Zeitung herausgibt. Nach der Rückkehr nach Deutschland in den Endvierziger-Jahren steigt er als Mitbegründer und langjähriger Leiter des "Neuen Deutschland" zum Staats-Journalisten und Mitglied im Politbüro auf. Trotz einer schweren Tbc arbeitet er wie ein Berserker in der Redaktion.

    Die Familie - Herrnstadt hatte in Moskau eine aus Sibirien stammende Germanistin geheiratet, mit der er zwei Kinder hat; Irina, die ältere, ist 1943 geboren - wohnte im Privilegiertenviertel am Pankower Majakowskiring - bis 1953.

    Sein Sturz steht im Zusammenhang mit den Ereignissen des 17. Juni, als Herrnstadt, weil er Kritik an der Parteiführung geübt hatte, einer Verschwörung gegen Ulbricht bezichtigt, aller Ämter enthoben und in die Provinz abgeschoben wird. Zunächst in Merseburg, später in Halle, beschäftigt er sich nun mit der Geschichte des Kommunismus. Er schreibt mehrere Bücher. Drei davon sind später in der DDR erschienen, nicht das über den 17. Juni. Geklagt, so erinnert sich die Tochter, hat er nie; er hat vielmehr die selbst auferlegte Arbeit in der Abgeschiedenheit der Provinz mit derselben Kraft und Disziplin bewältigt wie zuvor die öffentliche journalistische Arbeit.

    "Das erkläre ich mir eben natürlich auch mit dem Unglück des Kriegsendes, was ich auch erzähle, ich meine, die ganze Familie war ermordet, die frühere Geliebte war tot und er hatte sie in die Spionage reingebracht, die anderen aus dieser Gruppe, und der Krieg und dieses zerstörte Berlin, wie wahrscheinlich auch diese Schuld des Überlebenden, von der ja viele sprechen. Ich bin am Leben und die anderen sind tot, muss ihn furchtbar gequält haben. Das muss ihn angespornt haben zu einer Arbeitsleistung, die eigentlich unverständlich ist. Aber sie ist ja da. "

    In der Vorarbeit zu ihrem Buch hat Irina Liebmann alle Bücher und unveröffentlichten Manuskripte des Vaters gelesen. Sie durchforstete viele Jahrgänge der Zeitungen "Berliner Tageblatt", "Freies Deutschland" und "Neues Deutschland", außerdem die Protokolle um die Ereignisse des 17.Juni, Parteiakten, Korrespondenz und Tagebuchaufzeichnungen. Und mit jeder Zeile, die sie las, geriet sie stärker in den Bann dieses außergewöhnlichen Menschen.

    " Da gibt es so eine Zeile von Varnhagen über seine Frau Rahel, da sagt er, "der elektrische Strom, der uns aus ihren Zeilen floss, hat mich heute wieder vollkommen umgebracht und ich musste mich erstmal hinsetzen", und irgendwas stimmt da, der elektrische Strom aus diesen Zeilen meines Vaters, ich versteh das nicht, diese Kraft dieser Sprache, und das Verrückte war eben, ich hab ja zögernd und skeptisch angefangen. Nun aber das alles zu lesen nacheinander, was er geschrieben hatte, das hat auf mich offenbar im Laufe dieser Jahre auf mich einen wahnsinnigen Einfluss ausgeübt. Ich bin dabei regelrecht stärker geworden, davon bin ich fest überzeugt. Ich kann das nicht beschreiben, aber ich habe, von der Mitte an, weiß ich auch beim Schreiben, war ich jemand anders als am Anfang, als ich zögernd in eine alte Geschichte reinguckte. "

    Der Faszination der über ihren Vater schreibenden Tochter steht ihr Befremden, ihr Unverständnis gegenüber angesichts des Idealismus und der Realitätsblindheit dieses klugen, gebildeten, wirkungsmächtigen Mannes, der alles erhoffte und am Ende alles verlor, dessen "Menschheitstraum" an der ideologischen Engstirnigkeit der Aparatschiks zerbarst.

    "Natürlich ist das unrealistisch. Ich nehme an, er hat an die Ideale bis zum Schluss geglaubt. Ob er geglaubt hat, dass das in Deutschland geht, hab ich ganz große Zweifel. Wobei die Texte von ihm auf ein vereintes Deutschland hin immer enthalten - da ist auch wieder der Idealist -, enthalten immer sozusagen die grundsätzliche Erwartung, na das werden wir doch schaffen. "

    Irina Liebmann lässt den Leser an den während der Beschäftigung mit dem Vater aufkommenden Fragen, Zweifeln und Widersprüchen und an ihren Gefühlen teilhaben. Daher rührt die Lebendigkeit, die Offenheit und Wahrhaftigkeit des Buches. Fragen, die sie nicht beantworten kann, bleiben als solche stehen und werden nicht mit vorschnellen, vermeintlichen Antworten zugekleistert. Gegen Ende erhöht sie das Erzähltempo, wodurch die Spannung steigt. Die Darstellung der sich überstürzenden Ereignisse um den 17. Juni, in deren Verlauf Herrnstadt mit dem Kainsmahl des Abtrünnigen versehen und gestürzt wird, liest sich wie eine zwischen Politthriller und Shakespeare'schem Königsdrama angesiedelte Groteske. Spätestens hier wird deutlich, dass Irina Liebmann das Buch auch geschrieben hat, um dem Vater 40 Jahren nach seinem Tod Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

    " Was ich ausgesprochen ärgerlich finde und fand, dass er bis heute benutzt wird, so ein Mensch, der so viel Arbeit geleistet hat. Und wenn so ein Mensch nur benutzt wird von allen für irgendwelche Zusammenhänge, bis zum Schluss nur verhackstückt wird nach den Interessen gerade der Leute, die nun selber was produzieren, mit der Zeit findet man das hochärgerlich. Darum war mein Bestreben, einfach mal die ganze Biographie zu schreiben. Das war für mich das Allerwichtigste."

    Das Buch, an dem Liebmann vier Jahre gearbeitet hat, ist mehr als eine Biographie. Es ist ein informatives Geschichtsbuch der besonderen Art und gleichzeitig eine subtile, differenzierte Annäherung an den Vater, getragen von Einfühlung und Uneitelkeit. Die Autorin stellt sich in den Dienst der Sache und ist als fragende, zweifelnde oder affirmative Instanz unentwegt im Text präsent. Vorschnelle Beurteilungen, Allgemeinplätze oder Klischees widerstreben ihr. Ihr Ziel war es, die verworrenen und widersprüchlichen Vorgänge im Leben des Vaters wie im geschichtlichen Ablauf zu begreifen und mit ihren eigenen Worten zu erzählen, ohne Rücksicht auf Konventionen oder politische Korrektheit.

    Das merkst du ja sofort, wenn du etwas schreibst, sowie du ein Schlagwort reinnimmst, kannst du den ganzen Text in den Ofen stecken, der ist nichts mehr wert, da ist die Glaubwürdigkeit raus. Ist hochinteressant als Urteil für unsere Schlagworte und für politische Korrektheit. Die ist so leer, wie etwas nur leer sein kann. Die macht mir den ganzen Text kaputt. Und wenn Du dann versuchst, auch mit eigenen Worten es auszudrücken, wird's es ja erst mal interessant. Weil dann begibst du dich ja auf ein wahnsinniges Glatteis der Definitionen. Das war die ganze Zeit das Allerschwerste für mich. Wie drücke ich etwas aus, was ich selbst kaum begreife. Was sage ich denn über den Kalten Krieg? Ich kann x Bücher lesen. Aber wie kriege ich's denn in eine Erzählung rein? Zum Erzählen brauchst du Mut. Ich erzähle das einfach, ich habe mir das Herz gefasst, zu erzählen, wie ich es sehe. Da musst du springen. Wie mein Vater auch schon sagte, "hic Rhodos, hic salta", bitte, mach!

    Irina Liebmann ist gesprungen, indem sie sich auf das gedankliche und sprachliche Abenteuer eingelassen hat. Entstanden ist ein Buch, das packend, informativ und bewegend zugleich ist und einmal mehr von der sprachlichen Ausdruckskraft und dem Mut der Autorin zeugt, literarisch neue Wege zu gehen: Ein gelungenes Mixtum compositum aus Chronik, Porträt, historischem Roman und Familiengeschichte und nicht zuletzt eine nachgeholte Liebeserklärung an den charismatischen Vater als Mensch.

    Irina Liebmann:
    Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt.
    Berlin Verlag, Berlin 2008