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Citizen Science
Basislager der Wissenschaft

Der Begriff Citizen Science lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen. Spätestens seit Wikipedia zeigt sich jedoch, welches Potenzial in "Bürgerwissen" und Forschung von Laien steckt. Der Wissenschaftler Peter Finke fordert, diese Möglichkeiten von Forschung stärker zu fördern.

Von Dörte Hinrichs | 11.04.2014
    Eine Wissenschaftlerin blickt durch ein Mikroskop auf bronzene Nadeln
    "Manche Wissenschaft erfordert heute derart teure Labore, dass kein Citizen Scientist da eine Chance hätte da mitzuhalten," so Peter Finke. (dpa/picture alliance/Holger Hollemann)
    Sie interessieren sich für Feldlerchen und ihr Verschwinden, aber sind keine Ornithologen. Sie informieren sich über die Risiken der Kernenergie, sammeln und bestimmen seltene Pflanzen oder entwickeln sich zu Käferkundlern wie der Schriftsteller Ernst Jünger. Sie alle haben Berufe, die mit ihrem Hobby, ihrer Leidenschaft für ganz andere Themen und Zusammenhänge meistens gar nichts zu tun haben. Sie alle sind Citizen Scientists, Laienwissenschaftler. Es hat sie immer schon gegeben und einige sind berühmt geworden.
    "Zum Beispiel der Charles Darwin. Der hätte am liebsten Biologie studiert. Aber das konnte er damals nicht, das gab es als Fach an der Universität nicht, der hat an der Universität Theologie studiert. Aber der hat sich besonders für biologische Fragen interessiert und da ist er in die Natural History Associations in England eingetreten, da war er hochwillkommen, und da hat man sich gemeinsam um die interessierenden Sachen gekümmert. Und das gab es auch in anderen Ländern, das gab es auch bei uns gibt es auch heute noch. Es gibt heute noch die naturwissenschaftlichen Vereinigungen bei uns, nur heute steht dieses im Schatten der großen Strahlkraft der professionellen Wissenschaft und das ist eben ein Problem und das hat mich auch veranlasst, dieses Buch zu schreiben."
    Fragen aus dem Umfeld der Bürger
    Wissenschaft, das ist für Peter Finke eine Art Himalaja-Expedition in das Land des Wissens - und Citizen Science eine Art Basislager. Den Gipfel der professionellen Wissenschaft hat der langjährige Professor für Wissenschaftstheorie vor der Pensionsgrenze aus Protest gegen die Bologna-Reform verlassen und sich zum führenden Experten für Citizen Science im deutschsprachigen Raum entwickelt. Das Wissen der Laien, der Amateure, das Bürgerwissen - die deutschen Übersetzungen von Citizen Science sind suboptimal, das räumt Peter Finke ein, haben sie doch eine Konnotation, die dazu verleiten kann, dieses Wissen nicht so richtig ernst zu nehmen. Der Buchttitel "Citizen Science" sorgt da schon für mehr mediale Aufmerksamkeit - und ist erklärungsbedürftig:
    "Dahinter verbirgt sich, dass viele Menschen, die nicht Wissenschaftler von Beruf sind, sich dennoch sehr wohl an der Forschung beteiligen können. Natürlich nicht an jeglicher Forschung. Die professionelle Wissenschaft schreitet hauptsächlich voran auf der Ebene von Einzelwissenschaften. Und dort wird definiert, was gerade aktuell ist. Da muss man sich schon sehr gut auskennen, da muss man im Grunde in Studium absolviert haben, um in diese Debatte eintreten zu können. Citizen Science beschäftigt sich mit Fragen, die im Umfeld der Bürger interessieren. Die Bürger kennen sich aus mit dem, wo sie wohnen, wo sie leben und dort interessieren sie sich auch dafür, dass sie unbekannte Zusammenhänge verstehen."
    Unser Wissenschaftsbild, so die These von Peter Finke, ist zu stark auf die professionelle Wissenschaft verengt und er möchte die Wissenschaftsgrenze für Nichtprofis auch in der Forschung durchlässiger machen, wie es zum Beispiel in den angelsächsischen Ländern schon stärker passiert.
    "Das Wissen der Laien ist zum Beispiel deshalb wichtig, damit wir nicht glauben, dass wir einfach darüber hinweg gehen können und dass die professionellen Wissenschaften schon alles untersuchen würden. Die untersuchen nicht alles, die können sich nur um das kümmern, wofür Geld vorhanden ist. Aber es gibt immer wieder Mittelkürzungen, Stellenkürzungen, damit müssen die Wissenschaftler an den Unis irgendwie leben. Wir haben die Situation, dass die Bildungs- und Wissenschaftsförderung in unserem Land, wie ich meine, längst nicht den Stellenwert erreicht hat, den sie erreichen muss. Und die Laien haben den großen Vorteil, dass sie sozusagen gar nicht auf der Basis von Stellen arbeiten, dass sie nicht den Beruf des Wissenschaftlers haben müssen, um überhaupt den Forscherdrang auf bestimmten Gebieten zu verspüren."
    Unabhängig von Politik und Wirtschaft
    Die Laienwissenschaftler sind nicht in das Korsett der universitären Einzelwissenschaften gezwungen, können leichter über die Ränder der jeweiligen Disziplinen hinausdenken. Sie sind in ihren Forschungen viel freier als ihre professionellen Kollegen, denn sie sind unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Forschungsgeldern und -aufträgen, frei von Publikationszwängen, von den Hierarchien und Bürokratien an den Hochschulen. Die Stärke und Bedeutung von Citizen Science sieht Finke vor allem im bürgerschaftlichen Engagement im regionalen Raum. Das heißt aber nicht, dass Citizen Science frei von Schwächen ist, die gibt es auch, und zwar:
    "Überall dort, wo Wissenschaft sehr komplex wird, wo Wissenschaft sehr theoretisch wird, wo sie sehr abstrakt, wo man wirklich viele Kenntnisse haben muss, um da überhaupt mithalten zu können, auch wo sie sehr teuer wird. Manche Wissenschaft erfordert heute derart teure Labore, dass kein Citizen Scientist da eine Chance hätte da mitzuhalten. Überall dort liegt natürlich eine Schwäche von Citizen Science."
    Das betrifft nach Ansicht von Finke zum Beispiel Gebiete der Quantenphysik, der Molekularbiologie, der Geologie, Astronomie oder Mathematik. Nichtsdestotrotz können Laien mit ihrem gesammelten Wissen helfen, Forschungslücken zu schließen, etwa bei der Vermittlung von Artenkenntnis in der Biologie. Finke hat mehreren Befragungen in verschiedenen Lehrforschungsprojekten mit Studierenden in Bielefeld und Witten-Herdecke durchgeführt hat und lässt in seinem Buch Zitate von Laienwissenschaftlern einfließen. Hier erfährt man unter anderem von einer Hausfrau, wie vielfältig die Interessen und die Motive sind, die sie antreiben:
    "Wenn wir uns in unserer Geschichtswerkstatt all der Fragen um unsere lokale Vergangenheit nicht annehmen würden, täte es wahrscheinlich niemand. An der Universität gab es eine Stelle für Regionalgeschichte, aber die ist gestrichen worden. Es ist ja in Ordnung, wenn dort die "Große Geschichte" erforscht wird; aber es ist nicht in Ordnung, wenn die historische Universitätswissenschaft die kleinräumige, "normale" Geschichte vergisst oder abwertet."
    Erfüllungsgehlifen für professionelle Wissenschaft?
    Dabei spricht Finke der etablierten Wissenschaft durchaus nicht ihre Berechtigung ab, kritisiert aber insbesondere seine eigene Disziplin, die Wissenschaftstheorie, die das Wissen der Laien weitgehend ignorieren würde. Welche Resonanz findet aber nun ihr Wissen in der Wissenschaft? Werden Laien von den Profis belächelt oder sind sie willkommene Arbeitsbienen angesichts gekürzter Forschungsetats, quasi Erfüllungsgehilfen für die professionelle Wissenschaft?
    "Ja, sie sind dieses, aber sie können mehr. Ich sehe mit einer gewissen Sorge, dass die Form von Citizen Science, die heute in den USA schon recht populär geworden ist, eben diese, wie ich sie nenne, "Citizen Science light" ist. Das bedeutet, dass professionelle Wissenschaftler die kenntnisreichen Laien als Mitarbeiter an ihrer Forschung entdeckt haben, dass sie ganz gezielt Forschungsprogramme entwickeln, wo sich viele aufgerufen fühlen, mitzutun. Sie sollen dann ihre Beobachtungen einschicken, sie tun das auch gerne, es macht Spaß oft auch da mitzumachen. Sie verlangen auch kein Geld dafür, aber für die professionellen Wissenschaftler sind das nur Datengeber. Im Grunde bleibt die gesamte Wissenschaft bei den Profis,"
    kritisiert Peter Finke und räumt gleichzeitig an, dass auch diese Form der Zusammenarbeit von professionellen Wissenschaftlern und Laien nicht zu vernachlässigen ist.
    "Aber insgesamt gesehen, wäre es zu wenig, wenn Citizen Science hierauf, auf Citizen Science light nämlich, reduziert würde. Gute Laienwissenschaftler können sehr viel mehr: Sie brauchen keinen Profi, der sie an die Hand nimmt, der ihnen sagt, das musst du tun und am Schluss kümmere ich mich schon darum, dass es da eine schöne Publikation gibt. Sie können das selber, dafür gibt es sehr viele Beispiele, die ich auch vielfältig erlebt habe. Mir steht immer vor Augen eine Verkäuferin, die nie eine Universität von innen gesehen hatte, und die zu einer so guten Botanikerin geworden ist, dass sie heute eine gefragte Gesprächspartnerin von Professoren der Botanik geworden ist. Das geht auch. Und die schreibt ihre eigenen Veröffentlichungen, die überlässt nicht einfach ihre Daten anderen, damit die was daraus machen."
    Wikipedia: Keine Schranke zwischen Profis und Laien
    Eine Laienwissenschaftlerin, die wie viele andere auch, nicht allein den professionellen Vertretern der Zunft das Feld überlässt, sondern ganz im Sinne der Aufklärung Kants Diktum folgt: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." Das kann schon im Kindesalter gefördert werden und zum Beispiel durch die Teilnahme bei "Jugend forscht" erste Früchte tragen. Citizen Science umfasst das Wissen von Einzelnen genauso wie das, was in Netzwerken generiert wird, in Vereinen oder Gesellschaften, ehrenamtlich in der Freizeit. Und dieses Wissen hat durch das Internet enorm an Verbreitung gewonnen, ist heute so leicht zugänglich wie nie zuvor in der Geschichte:
    "Wikipedia ist ein fantastisches Beispiel für Citizen Science: Das Gute an Wikipedia finde ich, ist, dass es dort überhaupt keine Schranke zwischen den Profis und den Laien gibt. Da gibt es keinen, der sagt, was hast du überhaupt für ein Examen, darfst du überhaupt etwas sagen zu dem Thema, sondern jeder schreibt einfach etwas, von dem er glaubt, dass er etwas von der Sache versteht. Und es wird sich zeigen, wie lange dieser Artikel lebt. Insgesamt ist das eine sehr demokratische moderne Möglichkeit, Wissen ohne diese Profi-Laien-Schranke voranzubringen. Und das hat das Internet ermöglicht und deshalb ist das ein sehr gutes Beispiel für Citizen Science."
    Begegnungen auf Augenhöhe zwischen professionellen und Laienwissenschaftlern schweben Peter Finke vor, der sich selber in naturwissenschaftlichen Vereinen engagiert. Unverkennbar hat der Wissenschaftstheoretiker Peter Finke die Expedition hierzulande ins noch recht wenig erforschte Terrain von Citizen Science ein wesentliches Stück vorangebracht.