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"Ciudades Paralelas"

Modemarken, Malls, Fußgängerzonen. Die Städte sehen sich immer ähnlicher, aber hinter den Einkaufsmeilen warten unbekannte Welten. Wer die eigene Stadt quasi als Tourist mit Lola Arias, Stefan Kaegi und ihren Mitstreitern entdeckt, ist in Mode. Er wird aber mit harter Gegenwart konfrontiert. Bisher in Berlin, Buenos Aires und Warschau. Jetzt auch in Zürich.

Von Christian Gampert |
    Wenn man nachliest, was Lola Arias, Stefan Kaegi und ihre Mitstreiter bislang Berlin, Buenos Aires und Warschau inszeniert haben, dann wird man das Züricher Projekt nur als weiteren Baustein einer universalen Entfremdungs-Theorie begreifen können: Hotelzimmer, Fabriken, Bibliotheken, Bahnhöfe - sie sind alle irgendwie strukturell gleich, wo auch immer auf der Welt, in unseren genormten "Ciudades Paralelas". Andererseits haben sich in all diesen Städten selber wieder Parallelwelten etabliert, Migrantenkulturen, Glaubens-Gemeinschaften, soziale Klassen von Ausgeschlossenen, von denen wir wenig wissen. Auch diese Outcasts ähneln einander - außer, dass sie in Zürich nun Schwyzerdeutsch reden und in ein ziemlich starres Schweizer Regelsystem eingebunden sind.

    Die Zimmermädchen, die man, per Monitor zugeschaltet und von Lola Arias inszeniert, in einem Züricher Hotel kennenlernt, kommen aus Algerien, Bangladesh und Ex-Jugoslawien, ein männlicher Housekeeper ist aus Brasilien. Letzterer sehnt sich nach dem Strand von Rio, weshalb ein Hotelzimmer mit Sand gefüllt ist; die Frauen aber, traumatisiert von diversen Kriegen, fühlen sich einigermaßen wohl in der Schweiz. Sie erzählen jedoch von schamlosen Gästen, deren Zimmer sie von Kondomen und vergessenen Vibratoren säubern müssen, von unsittlichen Angeboten, von Zeitdruck und Sprachlosigkeit. Ein Hotelzimmer ist, nicht erst seit Dominique Strauss-Kahn, offenbar ein Angebot für Reiche, sich wie die Sau zu benehmen. Wer räumt den Müll weg, wenn der Geschäftsmann auf einem Termin ist oder beim Prosecco sitzt? In Zürich ist es - zum Beispiel - eine Taubstumme, die bei einer Bombenexplosion in Algerien als Kleinkind das Gehör verlor und von Schweizern adoptiert wurde; nach zwei Ehen verdient sie sehr wenig Geld und freut sich an ihrer Tochter, die mal was werden könnte.

    Natürlich ahnt man von solchen Schicksalen, aber so genau weiß man es nicht; man kommt so selten dazu Erst inmitten dreckiger Wäscheberge wird einem auch olfaktorisch klar, dass brutalste Klassenverhältnisse das Leben strukturieren, und nicht nur im Hotel. Das ist die Stärke des dokumentarischen Theaters: den Zuschauer mit der Nase darauf zu stoßen, dass die Welt nicht in Ordnung und eine veränderbare ist. Andererseits erfährt man - in schöner Plastizität, das sei zugegeben - viel Redundantes: aus den Kopfhörern, mit denen der Zuschauer durch ein Züricher Shopping-Center geschickt wird, quellen dubiose Anweisungen, viel Walter Benjamin sowie Altmarxistisch-Belehrendes: Fokussieren Sie Ihren Blick! Wer hat diese Ware gefertigt? Unter welchen Bedingungen? Wozu könnte dieser Ort dienen, wenn er vom Warentausch befreit wäre?

    Das Ganze ist eine Mischung aus Hörspiel und Verhaltenstherapie. Der Zuschauer wird nicht mehr als Menge, als Auditorium begriffen, sondern einer Einzelfallbehandlung unterzogen. Man bekommt auf die Ohren und hat zu folgen - teilweise ist das anregend und amüsant, teilweise kann es auch nerven. In dem mehrstöckigen Einkaufszentrum habe ich, auf Anweisung, eine Frau durch den Supermarkt verfolgt und ihre Bewegungen minutiös nachgeahmt, das war ein bisschen albern. Andererseits mussten wir Kopfhörerträger am Ende unseres Erkundungsgangs tanzen - dreißig Tänzer in der Warenwelt, das war ein schönes Irritations-Moment.

    In der Bibliothek des Züricher Literaturhauses saß ich neben einem mir zugeteilten Partner und las "Die Stadt der Blinden" von José Saramago; in meinem Kopfhörer flüsterte ein Sprecher allerlei Anregungen zur Selbstbeobachtung - eine Wahrnehmungsschulung. Dann hockten wir im hallenden Foyer des Bezirksgerichts und lauschten einem Chor, der in liturgischer Manier Anklagetexte vortrug und dazu Klagelaute und Drohkulissen erzeugte.

    Ja, das alles ist irgendwie originell und anregend, aber theatralisch nicht wirklich überzeugend. Es sind schmale Ideen, die mit unglaublich viel Aufwand umgesetzt werden müssen, um uns sehr kleine Einsichten zu verschaffen. Zum Beispiel Dominic Hubers Installation eines Wohnhauses: man steht vor einem Mietshaus in der Josefstraße, in verschiedenen Wohnungen gehen die Lichter an - die Bewohner zeigen sich beim Abwaschen und Fernsehen, und dazu erzählen sie uns auf Kopfhörer von ihrem Leben. Diese Biografien sind mal mehr, mal weniger anrührend: die angehende Psychoanalytikerin, der Alt-68iger und alleinerziehende Vater, die alte Frau, die in der Nazizeit in falsche Gesellschaft geriet. Das formt ein Porträt dieser Stadt, unterliegt aber den genuinen Schwierigkeiten der Oral History: im Zweifelsfall eben auch banal zu sein.

    Am bewegendsten dann der von Stefan Kaegi inszenierte Abschluss des Abends: man stand mit dem blinden Musiker Marco Jörg auf einem Hausdach im Wind, er sang uns etwas vor und erzählte, wie er als blindes Kind seinen eigenen Weg gefunden habe. Und man lauschte den Geräuschen der Stadt.