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Claudia Sinnig: Litauen. Ein literarischer Reisebegleiter

"Wenn ich Fotos sehe wie die von Walter Engelhardt, bekomme ich Herzklopfen. Warum, weiß ich selbst nicht. Heimweh jedenfalls ist es nicht. Eher schon Fernweh, die Sehnsucht nach dem Fremden, Unbekannten. Ich sehe in den Landschaften und Menschen, was meiner Welt abhanden gekommen ist: richtige Winter, barfuß gehen, frischgeräucherter Fisch, Stille ... Was aber erzählen sie selbst, von sich? Noch vor zehn Jahren wäre mir nichts dazu eingefallen. Wie sollte es auch? Als Nachkriegskind und Münsterländerin habe ich keinerlei persönliche Beziehung zum Osten. Auf Nachfrage hätte ich, vielleicht etwas unwirsch, entgegnet, dass der Zauber dieser Bilder stark ist, auch ohne diese oder gerade wegen ihrer Anonymität. Ob die Eisgebirge im Stromdelta nun zur Memel gehören oder zur Weichsel oder zum Jenissej, wäre für mich ohne Bedeutung gewesen. Sie hätten mich fasziniert wie Caspar David Friedrichs 'Eismeer' - als grandiose Naturformation und Sinnbild 'gescheiterter Hoffnung'. Tilsit zum Beispiel war mir ein Begriff in Gestalt eines Käses. Geographisch habe ich diese Stadt nicht am Ufer der Memel vermutet, sondern weiter westlich ... Irgendwann, als mir das Memelland schon ziemlich vertraut geworden war, habe ich mein früheres Wissen auf einen Zettel geschrieben, untereinander Punkt für Punkt: 'Von der Maas bis an die ...' Dieser Fluß musste also irgendwo im äußersten Osten des untergegangenen Reiches fließen. 'Zogen einst fünf wilde Schwäne' - sang ein Volkslied vom Memelstrand, das ich merkwürdigerweise auswendig konnte."

Ulla Lachauer |
    Ulla Lachauer über ein untergegangenes Land - das "Land der vielen Himmel", das Land links und rechts der Memel. Sie gehörte zu den Ersten, die es wiederentdeckten - das "Land der vielen Himmel". Und sie versteht es wie kaum jemand sonst, uns Menschen, die hier lebten und heute hier leben nahezubringen: Ulla Lachauer, Autorin u.a. von "Die Brücke von Tilsit" und "Paradiesstraße". Das "Land der vielen Himmel" mit faszinierenden Aufnahmen des Photographen Walter Engelhardt, die in den dreißiger Jahren entstanden, war Ulla Lachauers erste Annäherung an das Memelland. Mit einem aktuellen Nachwort versehen, ist das Buch jetzt neu veröffentlicht worden: "Land der vielen Himmel. Memelländischer Bilderbogen", Siedler Verlag, Berlin 2002. Es gibt viele Möglichkeiten, sich Litauen zu nähern, sich mit dem unbekannten Litauen bekannt zu machen. Claudia Sinnig entschied sich für den wohl anspruchvollsten Weg. Sie unternahm eine literarische Entdeckungsreise - eine Reise durch Raum und Zeit. Und dabei stieß sie auf überraschende Kontinuitäten eines vergleichsweise kleinen Landes am Rande Europas, das einmal ein Imperium war.

    "Litauen, du meine Heimat, du bist wie die Gesundheit. Nur wer diese verloren, weiß das Verlorene zu schätzen. Heute aber schau ich in all ihrer Pracht vor mir Deine Schönheit. Davon will ich jetzt singen, denn sehnend verlangt es mich heimwärts."

    Diese schönste und bekannteste Liebeserklärung an Litauen schrieb Adam Mickiewicz, ein Pole, geboren in einer Region, die heute zu Weißrussland gehört. Er schrieb sie im Pariser Exil. Das Manuskript des Versepos "Pan Tadeusz", das mit eben diesen glühenden Worten beginnt, liegt heute in Wroclaw, dem einstigen Breslau. Litauens Poesie ist vielsprachig: polnisch, weißrussisch, deutsch, jiddisch, französisch, lateinisch. Litauisch kam erst spät, im Grunde erst vor gut hundert Jahren hinzu, mit der Alphabetisierung des Bauernlandes. Und weil dies alles für Deutsche schwer zu verstehen ist, musste Claudia Sinnigs literarischer Reiseführer notgedrungen und praktischerweise auch ein Geschichtsbuch werden.

    Seine ersten Kapitel handeln von Abschied und Heimweh, Auswanderung und Deportation, ersehnter und tatsächlicher Wiederkehr. Ein ziemlich gewöhnliches Thema in einem Land, das so viel Fremdherrschaft erfahren hat, die letzte, sowjetische, ist gerade erst vorüber. "Heimweh ist eine chronische Krankheit", stellt Antanas Skema fest. Der Satz leitet seinen Bericht über die Flucht vor der Roten Armee ein, Juli 1944, das Heimweh überfällt ihn schon unterwegs, im Lager für "displaced persons" in Thüringen, es wird den Autor im amerikanischen Exil lebenslang begleiten. "Alle haben Angst vor Sibirien, in der Stadt trocknen alle heimlich Brot," schreibt Judita Vaiciunaite. In der Nachkriegszeit, als sie ein Kind war, trocknete jede Familie Brot als Reiseproviant, für den Fall, dass man von heute auf morgen in einen Viehwaggon gesperrt und nach Sibirien deportiert würde.

    Mitteleuropäische Befindlichkeiten dieser Art thematisieren viele Texte, andere sind Identitätsproblemen des Landes gewidmet. Warum ist für die junge Republik das mittelalterliche litauische Großfürstentum, das bis Kiew und Odessa reichte, so bedeutsam? Wie denken Schriftsteller von heute über die dominierende historische Rolle der Polen und Juden in der Hauptstadt Wilna? Tomas Venclova kommt häufig zu Wort, der in Klaipeda geborene Dichter, der 1977 ins Exil ging und heute an der Yale University lehrt. Immer wieder hat er aus der Ferne, im Dialog mit befreundeten Exildichtern wie dem Polen Czeslaw Milosz und dem Russen Joseph Brodsky, klug und besonnen die Geschichte Litauens reflektiert - und seine eigene.

    "Als Kind", schreibt der 1937 geborene Venclova, "empfand ich sehr stark, wenn auch vage, dass die Welt aus den Fugen geraten war. Später dachte ich dann - und denke es eigentlich noch heute - , wir haben das Weltende schon hinter uns, was uns im übrigen mitnichten der Verantwortung enthebt."

    Viele Denkanstöße kamen wie dieser aus dem Exil: Niemand ist nur Opfer der Geschichte, vielmehr sollten Litauer eigene Schuld und Verantwortung bekennen. Tabus angehen, wie etwa die Beteiligung von Landsleuten an der Ermordung der litauischen Juden. Nach der erkämpften Loslösung von Moskau nicht im nationalen Überschwang verharren und sich dem multikulturellen Erbe stellen. Kundig führt Claudia Sinnig uns mitten in die Debatte um das Selbstverständnis des Landes. Die Lithuanistin aus Gotha hat diese, seit sie 1989 in Vilnius zufällig in die heisse Phase des Befreiungskampfes geriet, streckenweise aus nächster Nähe miterlebt. Von ihrer großen Erfahrung, ihren persönlichen Vorlieben, ist die Textauswahl geprägt. Im Lesen ahne ich ihre Freude über bestimmte Funde, und da sie Vieles aus dem Litauischen, Russischen und Englischen übersetzt hat, trägt es auch ihre Handschrift.

    Zuerst zeichnet das Buch die Probleme, eine imaginäre Topografie sozusagen, dann präsentiert es die realen Landschaften - dem Verlauf des Memelstroms folgend, von der weißrussischen Grenze im Süden Richtung Nordwesten bis zur Kurischen Nehrung. Gegen Ende landet der Leser in einer - zumindest vom Hörensagen - vertrauteren Welt, in Ostpreußen. Fast versunkene Orte tauchen auf: der Götterberg Rombinus, das verschlafene Städtchen Memel, Nidden, Fischerort und berühmte Sommerfrische für Großstädter. Dichter wie Johannes Bobrowski und Agnes Miegel, aber auch so genannte "einfache Leute". In einem der letzten Texte erzählt der heute in Heidelberg lebende Fischersohn Richard Pietsch, wie die Nehrunger einst Träume deuteten.

    Am verdienstvollsten aber sind in meinen Augen die Ausflüge in hierzulande unbekanntes Terrain. Selbst wer Litauen schon öfter bereist hat und literarisch bewandert ist, wird allerhand Neues entdecken. Beispielsweise wußte ich nicht, dass in der Region Suvalkija der Erfinder des Esperanto, Lazar Zamenfeld, zuhause war und sein Traum von der einen Weltsprache aus dem als Unglück empfundenen Sprachengemisch entstand. Mit größerem Genuß als früher werde ich, wenn ich wieder in Vilnius bin, das Café Neringa aufsuchen, denn jetzt kenne ich Brodskys Gedicht:

    "In Wilna entweicht die Zeit durch die Tür des Cafés, begleitet vom Krach der Teller, Messer und Gabeln, während der Raum betütert blinzelt und lange nach ihr starrt."

    In den 60er und 70er Jahren traf sich in diesem Café die Dissidentenszene, zur Musik eines beliebten russischen Jazz-Trios. Jazz verband damals Litauen auf natürliche Weise mit der Welt jenseits seiner Grenzen. Und dazu störte das Schlagzeug - ganz praktisch subversiv - das Abhören von Gesprächen durch die Geheimpolizei. Einer der Gäste war der schon erwähnte Tomas Venclova, der später die litauische Helsinkigruppe zur Verteidigung der Menschenrechte gründete und noch später, im amerikanischen Exil, einen der treffensten Sätze über unser Jahrhundert schrieb.

    "In unserem Zeitalter... sind die allerunglaublichsten Schicksale vielleicht die allerhäufigsten, das heißt die allerüblichsten."

    Das Schöne an Claudia Sinnigs Buch ist, dass sie gegen die grassierende, zwischenzeitlich auch im Insel-Verlag eingerissene Unsitte, Reisende mit Häppchen abzuspeisen, immer den Zusammenhang der Texte erläutert. Was zuweilen anstrengt, einfach etwas überspringen, herauspicken, geht nicht, das Buch erschließt sich nur auf die altmodische Art, von Seite zu Seite. Nicht ganz passend dazu wirken die vom Verlag beigefügten Farbfotos von Städten und Landschaften, sie sind gefällig und nicht viel mehr. Bis auf eines - es zeigt unter blauem Himmel, über den sehr tief dicke Wolken ziehen, eine Landstraße, auf der sich ein Lastwagen und ein heubeladener Pferdewagen begegnen.

    Das Foto korrespondiert mit einem zentralen Motiv des Buches - den enormen Ungleichzeitigkeiten im Land. Wie ein roter Faden zieht es sich durch fast alles und jedes hindurch: das bäuerliche Litauen, das historisch spät, eigentlich erst nach 1945, mit der Kollektivierung, zu schwinden begann und das heute, nach der Reprivatisierung, im Zeichen der kommenden Agroindustrie, völlig an den Rand gedrängt wird. Literarisch freilich ist es ziemlich lebendig, es ist präsent in den Dichterbiografien, auch den Jüngeren ist das Dorf oft ein Quell der Sprache, der Kraft, manchmal auch ganz direkt literarisches Sujet. Noch in den 70er Jahren, man stelle sich vor, hat Marcelijus Martinaitis eine bäuerliche Kultfigur entworfen, Kukutis, zu deutsch: Wiedehopf. Ein Mann, der sich nach Art des braven Soldaten Schwejk durch die sowjetlitauische Moderne bewegt.

    "Kukutis' Schluchzen unter dem Himmel", heißt ein Gedicht. Die Klage über die Zerstörung der ländlichen Welt findet ihr Ende - und auch das ist wohl ein litauisches Thema - im freundschaftlichen Suff.

    "Laß! Wir wollen, beiseite, vom Himmel besehn, Beide volltrunken die Heimat beweinen gehn."

    Claudia Sinnig: Litauen. Ein literarischer Reisebegleiter, Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2002.