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Claussen (EKD)
"Der Reformationstag ist eine wunderbare Scharnierstelle"

Der Reformationstag ist in den Fokus gerückt, weil vier Bundesländer ihn als gesetzlichen Feiertag anerkannt haben. Zurecht, sagt Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD, denn der Tag sei wichtig als Verbindung von Kirchenjahr und säkularem Gedenkjahr.

Johann Hinrich Claussen im Gespräch mit Ute Meyer | 31.10.2018
    Die Luther-Bibel - Teil des Denkmals des Reformators Martin Luther in Wittenberg
    "Die Reformation ist ja nicht nur eröffnet worden durch diesen Thesenschlag eines Einzelnen, sondern auch durch ganz, ganz viele Disputationen", sagt Johann Hinrich Claussen (dpa/Peter Endig)
    Ute Meyer: Heute vor 501 Jahren, am 31. Oktober 1517, soll Martin Luther seine 95 Thesen zu den Missständen in der Kirche an die Schlosskirche in Wittenberg genagelt haben – die Reformation und damit die Gründung der evangelischen Kirche nahm ihren Lauf. Protestanten in aller Welt feiern am 31. Oktober den Reformationstag, und seit diesem Jahr ist er in den norddeutschen Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen zum ersten Mal auch gesetzlicher Feiertag. Dieser neue Feiertag, der in den meisten protestantisch geprägten Bundesländern begangen wird, er ist eingeführt worden auch um das Ungleichgewicht auszugleichen zu den katholisch geprägten Bundesländern, die deutlich mehr Feiertage haben. Über den neuen Feiertag möchte ich sprechen mit Johann Hinrich Claussen, dem Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche Deutschland und ehemaliger Hauptpastor in Hamburg. Herr Claussen, ist der Reformationstag für die Menschen in Norddeutschland mehr als nur ein weiterer arbeitsfreier Tag?
    Johann Hinrich Claussen: Das will ich doch stark hoffen. Natürlich ist es auch für manche Menschen ein Ausschlaftag, dagegen ist auch nichts zu sagen. Da ziehen wir mal ein bisschen gleich zu den Katholiken im Süden, aber es ist natürlich auch eine wunderbare Chance, ein ganz zentrales Ereignis unserer Geschichte noch mal neu zu bedenken und dazu einen gesetzlich geschützten Feiertag zu haben und nicht nur einen kirchlichen Feiertag, weil es nicht nur die evangelische Kirche und die Christen angeht, sondern, ich denke, die gesamte Gesellschaft.
    Anfang der heutigen Gedenk- und Erinnerungskultur
    Meyer: Inwiefern die gesamte Gesellschaft, weil es gibt ja zum Beispiel auch Kritik, zum Beispiel einige jüdische Gemeinden üben Kritik an dem Feiertag Reformationstag und verweisen auf antisemitische Schriften von Luther. Also inwiefern für die gesamte Gesellschaft?
    Claussen: Der Reformationstag, was man gar nicht so richtig weiß, ist einer der Anfänge unserer heutigen Gedenk- und Erinnerungskultur. Also, es gibt ja für uns in der Kirche das sogenannte Kirchenjahr mit den großen Festen Weihnachten, Ostern und Pfingsten, und daneben hat sich ein säkulares Gedenkjahr entwickelt mit der Erinnerung an die Befreiung Ausschwitz’, Kriegsanfang, Kriegsende und all diese wichtigen Termine, 9. November zum Beispiel. Der Reformationstag war eigentlich der erste Versuch, ein historisches Ereignis gesamtgesellschaftlich zu erinnern, und der Reformationstag ist eigentlich so eine wunderbare Scharnierstelle zwischen dem Kirchenjahr und diesem allgemeinen säkularen Gedenkjahr und ist deshalb wichtig natürlich für evangelische Christen sowieso, aber auch für die gesamte Gesellschaft.
    Johann Hinrich Claussen, Kulturrbeauftragter der EKD - Berlin Februar 2016 
    Johann Hinrich Claussen, Kulturrbeauftragter der EKD. (Deutschlandfunk/ Andreas Schoelzel)
    Wir haben ja ein Riesenorientierungsbedürfnis bei uns, und das kann dadurch auch bearbeitet werden, dass wir uns zum Beispiel an dieses große historische Ereignis und seine Folgen erinnern und diskutieren – da gibt es Licht und da gibt es Schattenseiten – und dieses gemeinsam. Was ich besonders schön finde, gerade also in Niedersachsen weiß ich das, aber auch in Hamburg, in Schleswig-Holstein wird er gerade von den Kirchen immer ökumenisch mit katholischen Gästen und auch mit vielen Vertretern jüdischer Gemeinden gemeinsam gefeiert. Das ist neu, und das, finde ich, zeigt die Bedeutung weit über die evangelische Kirche hinaus.
    Keine Abnickveranstaltung von Obrigkeitswegen
    Meyer: In mehreren Landtagen hat es aber auch im Vorfeld Debatten darüber gegeben, ob es wirklich der Reformationstag sein sollte, der neuer Feiertag wird oder nicht, vielleicht auch der Weltfrauentag oder der Jahrestag der Märzrevolution. Wie blicken Sie auf solche Debatten?
    Claussen: Also Debatten sind ja immer gut. Protestanten streiten sowieso immer miteinander, und die Reformation ist ja nicht nur eröffnet worden durch diesen Thesenschlag eines Einzelnen, sondern auch durch ganz, ganz viele Disputationen. In vielen Städten wurde die Reformation eingeführt nach langen Debatten. Insofern passt der zivile, parlamentarische und gesellschaftliche Streit oder die Debatte um diesen Tag wunderbar dazu und zeigt, dass jetzt nicht einfach sozusagen eine Abnickveranstaltung von Obrigkeitswegen ist, sondern dass man diesem Tag sich auch reiben kann, und das, finde ich, passt dazu.
    Meyer: Die christlichen Kirchen, auch die evangelische, beklagen Mitgliederschwund, unsere Gesellschaft verweltlicht. Warum ist dann ein Tag, der an die Reformation erinnert, noch zeitgemäß?
    Claussen: Es gibt ja auch eine christliche Form der Verweltlichung, und das ist die Reformation. Die Reformation selber ist ja auch ein Akt von Säkularisierung gewesen, also eine Unterscheidung von Kirche und Staat und Gesellschaft. Die Säkularisierung ist jetzt nicht nur einfach sozusagen die Feindin des Christentums, sondern es gibt auch bestimmte Formen, in einer Verweltlichung eine Form von christlicher Freiheitsentwicklung zu sehen. Insofern gehört die heutige Säkularisierung mit ihren Licht- und Schattenseiten da auch in die Wirkungsgeschichte der Reformation.
    Meyer: Dennoch beklagen sie ja auch einen Schwund an Bedeutung. Kann die evangelische Kirche durch so einen Feiertag wieder mehr Bedeutung gewinnen für die Menschen im Land?
    Claussen: Ich bin sehr gespannt. Ich darf heute Abend zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren wieder in meiner allerersten Gemeinde predigen.
    Unbeliebtester Gottesdienst im ganzen Kirchenjahr
    Meyer: Wo?
    Claussen: Hier in Reinbek bei Hamburg, und ich erinnere mich genau, als ich als junger Pastor anfing, der Reformationstag war der unbeliebteste Gottesdienst im ganzen Kirchenjahr, der schlechtbesuchteste, und man musste auch immer nicht richtig, was muss ich, was soll ich da eigentlich machen.
    Meyer: Warum unbeliebt?
    Claussen: Kam halt keiner. Er war sehr wenig besucht, und man war als Pastor immer so oder als Prediger immer irgendwie etwas hilflos vor der Frage, muss ich jetzt die gesamte Theologie Martin Luthers erklären, muss ich die ganze Reformationsgeschichte erklären, wie bringe ich dieses Thema an die Leute ran. Ich habe auch das gute Zutrauen, dass das inzwischen anders ist, weil wir sehen, dass es hier jetzt nicht nur ein theologisches Sonderfest ist und Martin Luthers Rechtfertigungslehre ausgelegt werden muss, sondern etwas, ein Datum ist, das die gesamte Gesellschaft angeht. Das hat das Reformationsjubiläum im vergangenen Jahr durchaus gezeigt. Insofern erlebe ich jetzt alleine schon im Vorfeld, wie viele Gemeinden sich auf den Weg gemacht haben mit ganz kreativen und schönen Ideen, diesen Tag neu zu begehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.