Samstag, 20. April 2024

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Cleveland Orchestra
Mut zur Moderne

„A New Century“ lautet der Titel der neuen CD-Box des Cleveland Orchestra. Unter der Leitung von Chefdirigent Franz Welser-Möst zeigt das US-amerikanische Traditionsensemble einmal mehr sein Weltklasseniveau. Hinzu kommt der Mut, auch abseits ausgetretener Repertoirepfade zu wandeln.

Am Mikrofon: Marcus Stäbler | 16.08.2020
    Ein weißhaariger Mann mit Brille hat seinen linken Arm zum Dirigat gehoben, er trägt einen schwarzen Anzug mit hellgrauer Weste.
    Franz Welser-Möst trägt seinen Künstlernamen als Hommage an die Stadt Wels in Oberösterreich. (APA)
    Die Konzertaufnahmen sind in der Severance Hall in Cleveland entstanden und offenbaren die ganz eigene Handschrift des Spitzenorchesters und seines österreichischen Chefdirigenten Franz Welser-Möst. Das erste Stück schleicht sich auf leisen Streichersohlen ins Ohr.
    Musik: Ludwig van Beethoven: Streichquartett, op. 132 1. Satz
    Ein ungewöhnlicher Start für ein Orchesterprogramm. Das Cleveland Orchestra beginnt die erste von drei CDs aus seinem aktuellen Album nicht im Tutti, sondern mit dem Streichquartett op. 132 von Beethoven, in einem Arrangement für Streichorchester von Franz Welser-Möst. Gegenüber dem Original ist diese Version mit mehr als dem Zehnfachen der Streicher besetzt, darunter auch einige Kontrabässe. Damit hat Welser-Möst den Klang merklich angedickt, an manchen Stellen wirkt er naturgemäß deutlich schwerer als bei einem Quartett.
    Aber wie fein die rund sechzig Streicherinnen und Streicher des Cleveland Orchestra trotzdem gemeinsam artikulieren und differenzieren, ist beeindruckend, um nicht zu sagen: sensationell. Auch und gerade, weil die Aufnahme als Mitschnitt eines einzigen Konzerts entstanden ist, im Juli 2018, als das Orchester sein 100-jähriges Bestehen feierte.
    Franz Welser-Möst findet mit der Streichergruppe selbst im Piano und Pianissimo noch einen Reichtum an dynamischen Schattierungen – auch im langsamen Satz von Beethovens Quartett, mit dem Titel "Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit". Durch den schlanken Ton und ein flüssiges Tempo entgeht die Aufnahme der Gefahr der Verkitschung und schafft eine wunderbar intime Atmosphäre.
    Musik: Ludwig van Beethoven: Streichquartett, op. 132, 3. Satz
    Keine kraftstrotzende Brillanzmaschine
    Der langsame Satz aus Beethovens spätem a-Moll-Streichquartett, arrangiert und dirigiert von Franz Welser-Möst. Mit diesem Stück und der filigranen Interpretation setzt der gebürtige Linzer - seit 2002 Chef des Cleveland Orchestra und seit heute sechzig Jahre alt - in mehrerlei Hinsicht ein deutliches Zeichen. Er inszeniert sein Orchester bewusst als Gegenmodell zum Klischee der kraftstrotzenden amerikanischen Brillanzmaschinen und demonstriert zugleich den dramaturgischen Anspruch des Albums.
    Welser-Möst nutzt die Freiheiten, die ihm ein orchestereigenes Label bietet und verzichtet komplett auf Standardliteratur, geschweige denn Hits des Repertoires. Stattdessen rückt er eher selten aufgeführte Stücke ins Zentrum und gibt dabei der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts viel Raum.
    Musik: Edgar Varèse, Amérique
    Die erste CD konfrontiert Beethoven mit "Amérique" von Edgar Varèse. Ein revolutionäres Stück aus dem Jahr 1921, in dem der Komponist eine bis dahin unerhörte Klangwelt schafft: mit einem mächtigen Schlagzeugapparat und geräuschhafter Energie. Die Unruhe und das Brodeln der Musik erinnern an die Ereignisfülle im Leben einer Großstadt. "Amérique" dürfte auch von den Eindrücken angeregt sein, die in New York auf Varèse eingeprasselt sind. 1915 war der französische Komponist in die USA emigriert.
    Musik: Edgar Varèse, Amérique
    Edgar Varèse verbindet dieses Rauschen und die perkussive Wucht der Moderne mit zarten Momenten – etwa in einer Melodie der Flöte, die an das Fagottsolo zu Beginn von Strawinskys "Sacre" erinnert.
    Musik: Edgar Varèse, Amérique
    In der Konzertaufnahme des Cleveland Orchestra ist diese Vielfalt ganz unterschiedlicher Charaktere sehr transparent durchhörbar. Auch da zeigt sich die Ausnahmequalität des Orchesters und seiner Severance Hall, die als einer der besten Konzertsäle der Welt gilt.
    Musik: Edgar Varèse, Amérique
    Das Stück "Amérique" von Edgar Varèse, in einer Konzertaufnahme mit dem Cleveland Orchestra vom Mai 2017. Eins von vielen Beispielen für die Klangkultur und Disziplin des Orchesters, aber auch für den konzeptionellen Mut, mit dem Franz Welser-Möst das Album gestaltet. Der Titel "A New Century" spielt auf das hundertjährige Jubiläum des Orchesters im Jahr 2018 an, das jetzt mit seinem Chef das zweite Jahrhundert seiner Existenz beginnt – und dieser Blick in die Zukunft wird auch mit der Repertoireauswahl eingelöst.
    Welser-Möst und sein Orchester präsentieren auf dem Album auch zwei Aufnahmen von US-amerikanischen Erstaufführungen. Beide Werke sind erst vor wenigen Jahren entstanden und von österreichischen Komponisten der Gegenwart geschrieben, die vom Young Composer Fellows-Programm des Cleveland Orchestra gefördert werden, beziehungsweise wurden.
    Musik: Johannes Maria Staud, Stromab
    Orchester auf schauriger Kanufahrt
    Die Komposition "Stromab" von Johannes Maria Staud ist von einer düsteren Kurzgeschichte des britischen Autors Algernon Blackwood inspiriert. Sie erzählt von einer Kanufahrt auf der Donau, die zwei junge Menschen auf eine einsame Insel führt und davon, wie ihre Freude über den Einklang mit der Natur allmählich in eine diffuse Furcht umkippt. Johannes Maria Staud lässt diese beklemmende Stimmung durch raffinierte Farbmischungen in sein Stück einsickern – und das Cleveland Orchestra demonstriert auch hier kammermusikalische Transparenz und Präzision, etwa bei einigen schaurig gleißenden Unisono-Figuren.
    Musik: Johannes Maria Staud, Stromab
    "Stromab" von Johannes Maria Staud, eines der beiden zeitgenössischen Werke, die das Cleveland Orchestra auf seinem Album vorstellt. Das zweite stammt von Bernd Richard Deutsch, Jahrgang 1977. Sein Stück "Okeanos" ist ein Orgelkonzert von rund einer halben Stunde Dauer, dessen Rhythmen und Farben mitunter an die Klangwelt von Olivier Messiaen erinnern. Wie bei Stauds "Stromab" sind auch hier, im "Okeanos", der Sog und die Kraft des Wassers in der Musik plastisch abgebildet.
    Musik: Bernd Richard Deutsch, Okeanos
    Der Organist Paul Jacobs und das Cleveland Orchestra unter Leitung von Franz Welser-Möst mit dem Konzert "Okeanos" von Bernd Richard Deutsch.
    Seit 2002 ist Welser-Möst Chefdirigent in Cleveland, im vergangenen September wurde sein Vertrag bis 2027 verlängert. Am Ende der Amtszeit wäre er dann ein Vierteljahrhundert künstlerischer Leiter des Orchesters. Eine für heutige Verhältnisse geradezu unglaublich lange Zeitspanne, Ausdruck einer äußerst erfolgreichen Zusammenarbeit.
    Mit seinen sparsamen Gesten und einer eher nüchternen Aura wirkt der Österreicher Franz Welser-Möst auf der Bühne ja oft weniger charismatisch als viele seiner prominenten Kollegen. Er sieht sich auch selbst gar nicht als Künstler, sondern als "goldener Handwerker", wie er kürzlich in einem Interview sagte. Aber dieses Handwerk, das beherrscht er meisterhaft – das hat er etwa am Opernhaus Zürich, bei den Wiener Philharmonikern und jetzt gerade in Salzburg unter Beweis gestellt und davon profitiert vor allem auch sein Ensemble in Cleveland. Nicht umsonst gilt es konstant als eines der besten Orchester der Welt.
    Musik: Richard Strauss, Aus Italien, op. 16
    Der homogen gemischte Klang, die Intonationskultur und die kammermusikalische Beweglichkeit des Cleveland Orchestra treten auch in der sinfonischen Fantasie "Aus Italien" von Richard Strauss deutlich zu Tage. Etwa, wenn der Komponist die mediterrane Sonne aufgehen lässt und das Orchester eine luftige Wärme verströmt.
    Musik: Richard Strauss, Aus Italien, op. 16
    Franz Welser-Möst, der scheinbar so kühle Klangverwalter, kann durchaus Schwelgen und Schmachten, er gibt den Melodien von Richard Strauss Raum und Zeit zum Erblühen und zeichnet die harmonischen Farbwechsel mit weichem Pinsel nach.
    Musik: Richard Strauss, Aus Italien, op. 16
    Immer wieder betört das Orchester mit einem Piano, das nicht bloß leise, sondern süß und zärtlich klingt. Natürlich kennt Welser-Möst aber auch die andere Seite des Spektrums, wenn ein strahlendes Forte gefordert ist.
    Musik: Richard Strauss, Aus Italien, op. 16
    Edler Sound als Luxusproblem
    Bei Richard Strauss entfaltet Franz Welser-Möst majestätischen Glanz – und auch in der dritten Sinfonie von Sergej Prokofjew, dem letzten Stück des Programms, wahrt das Cleveland Orchestra seinen edlen Sound. Vielleicht ist das nicht nur ein Vorteil, sondern auch ein Einwand, den man gegen die Interpretation vorbringen könnte: Dass die grellen Farben, die Prokofjew bisweilen aufträgt, noch zu schön gemischt klingen, zu wenig schrill ins Ohr beißen. Darüber lässt sich sicher streiten. Aber das ist ein Luxusproblem, in Anbetracht des Topniveaus, das alle Stimmgruppen des Orchesters auszeichnet und auch in der Live-Situation der Konzertaufnahmen nie unterschritten wird.
    Musik: Sergej Prokofjew, Sinfonie Nr. 3 c-Moll, op. 44
    Franz Welser-Möst und das Cleveland Orchestra mit einem Ausschnitt aus der dritten Sinfonie von Sergej Prokofjew. Die Konzertaufnahme aus der Severance Hall vom September 2018 ist Teil des Albums mit dem Titel "A New Century", es umfasst drei CDs und ein 150 Seiten starkes Buch mit zahlreichen Fotos und Informationen zur Geschichte des Orchesters, zu seinen Chefdirigenten und den Werken. Das Album ist beim orchestereigenen Label erschienen und dessen erste Veröffentlichung.
    The Cleveland Orchestra
    Leitung: Franz Welser-Möst
    Werke von Beethoven, Strauss, Prokofjew, Varèse, Staud und Deutsch
    Label: The Cleveland Orchestra
    EAN: 0810042320123
    (3CD)