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Close to the machine

Ein bißchen enttäuschend war das ja schon: Die Uhr springt um und nichts passiert. Ein paar folgenlose Kleinigkeiten, mehr hatte das Jahr-2000-Problem zu Silvester 99 nicht zu bieten. Regalmeter an apokalyptischer Literatur wanderten mit dem zwölften Stundenschlag in die Makulaturreife, und die technische High Society konnte sich beruhigt zurücklehnen: Alles im Griff, der Mensch beherrscht die Maschine, nicht umgekehrt. Aber waren sie wirklich alle übertrieben, die Berichte über das Chaos in Programmiercodes, die Unübersichtlichkeit von Datenlabyrinthen, an denen Generationen von Softwareentwicklern ohne ausreichende Dokumentation herumgeflickt haben? Nein, sagt Ellen Ullman, denn eigentlich ist der Computer ein babylonisches Projekt: keine Pläne, viele Sprachen. Wer in den höheren Stockwerken arbeitet, steigt ungern in tiefere hinab, denn irgendwie hält das Fundament auch ohne Supervision. Einstweilen zumindest.

Florian Felix Weyh |
    Mit ihren fünfzig Lebensjahren ist die kalifornische Software-Ingenieurin Ellen Ullmann ein wahrer Methusalem in der jugendlichen Programmierkultur (die hauptsächlich deswegen von jungen Menschen dominiert wird, weil ältere sich dem Diktat endlos durchwachter Nächte lieber entziehen). Als sie in den Siebzigern ihre Laufbahn begann, konnten Taschenrechner mit Müh und Not Logaritmen ermitteln, und das Handbuch eines mittelschweren Industriecomputers umfasste drei Bände. Die galt es auswendig zu lernen, dann kontrollierte man die Maschine. Paradiesische Zustände, doch bald setzte ein atemloses Galopp ein. Mit jedem Rechnertyp entstand eine neue Programmiersprache, immer schneller lösten sich die evolutionären Stufen ab, und selbst alte Hasen wie Ellen Ullman wissen schon lange nur noch, was sie im Detail tun, für Folgen jenseits des eigenen Programmierabschnitts können sie keine Haftung übernehmen.

    Doch aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung stammend, will sich Ullman nicht in die Ahnungslosigkeit der technischen Intelligenz fügen, versucht ihre Kunden über die vertrackten Wirkungen der verdateten Welt aufzuklären; und stößt immer wieder auf vollkommene Ignoranz. Der Sog der Maschine ist so groß, daß er sämtliche Ängste, die vor dreißig Jahren die Menschen noch auf die Straße brachten, vollkommen negiert. Im Gegenteil, das diktatorische, bürgerrechtsfeindliche Potential wird enthusiastisch begrüßt. Etwa durch den Unternehmer, der die Tastaturschläge seiner Sekretäinnen auswerten will; ohne böse Hintergedanken, aus schierer Begeisterung über die neuen Möglichkeiten. Kaum je zuvor hat eine Technologie einen solch bezwingenden Charme auch auf jene ausgeübt, die eigentlich davor weglaufen müßten. Dies liegt wohl daran, daß sich der Computer jeder narzitischen Omnipotenz-Phantasie andient und jedem suggeriert, er sei stets aktiver Nutzer, nie passives Opfer.

    "Close to the Machine" heißt der erhellende Erfahrungsbericht einer Insiderin mit ausreichender Distanz zu den Schattenseiten ihrer luxeriösen Existenz. Gewiß, Ellen Ullman verdient viel Geld; besonders, wenn sie in Startup-Unternehmen mit Aktienoptionen bezahlt wird; aber es ist ein Leben in kompletter Beziehungslosigkeit. Immer nur auf Zeit zu einer Gruppe zusammengeschweißt, die nichts weiter verbindet als der gemeinsame Feind heimtückischer Codes, kehrt man regelmäßig in die Einsamkeit großzügiger Lofts zurück, in der man alleine weiterarbeitet.

    "Zusteller lieben uns, wie sind die neuen Hausfrauen", notiert Ellen Ullman. Genau diese Beziehungslosigkeit spiegelt sich im Chaos der Programmierstrings wider. Da Vorgänger und Nachfolger nichts voneinander wissen, wird aus dem funkelnden Diamanten eines logischen Meisterwerks, wie es sich der Ur-Programmierer noch gedacht haben mag ganz schnell ein improvisierter Rummelplatz. Es braucht gar keine Zeitenwende, um das System zusammenbrechen zu lassen, eine verrutschte Tastenkombination genügt. Dann klingelt bei Ellen Ullman das Telefon, und sie weiß, daß sie sich auf lange Nächte einzustellen hat, auf ein quasi-militärisches Kommandounternehmen, dessen einziger Zweck in kurzfristiger Mängelbehebung liegt. Denn Heilung existiert nicht im Universum der Bits und Bytes. Dazu müßte man alles löschen und die Schöpfung von vorne beginnen. Nur ein Gott garantierte Fehlerfreiheit.