Irmler: Herr Cohn-Bendit, der französischen Tageszeitung LE MONDE und auch dem französischen Fernsehen France 2 entnehmen wir, dass Sie bei Ihren Auftritten für die Verfassung – für ein "Ja" beim Referendum in Frankreich – neuerdings mit Eiern und Tomaten beworfen werden, und zwar ausgerechnet von Leuten, denen man glaubte, zu wissen, dass sie Ihnen politisch nahestehen. Nun ist es unangenehm, mit Eiern beworfen zu werden, aber trifft Sie es nicht besonders, dass es ausgerechnet Leute aus Ihrem "eigenen Lager" sind?
Cohn-Bendit: Es stimmt, dass ein Teil der französischen Linken mich als Verräter betrachtet, weil ich für das ‚Ja‘ stimme und auch die Chutzpe habe, mit Vertretern der bürgerlichen Mitte gemeinsam Veranstaltungen zu machen, wo wir miteinander diskutieren, wie wir diese Verfassung interpretieren und welche Unterschiede es gibt. Das finden sie sei Verrat. Aber ich bin ja seit 30 Jahren ein Verräter. Selbstverständlich fühle mich getroffen, weil die Auseinandersetzung in Frankreich sehr, sehr hart ist – verbal gewalttätig. Wenn man sich das im Internet anschaut, dann ist es wirklich atemberaubend, was sich da abspielt. Es ist ein verbaler Bürgerkrieg, der stattfindet.
Irmler: In Frankreich wird Europa als wirtschaftliche Bedrohung empfunden. Es gibt ja sehr viele Franzosen, die halten fest an dem "service public", am öffentlichen Dienst also, an Einrichtungen wie den staatlichen Bahnen oder auch den staatlichen Elektrizitätswerken. Das geht bis hin zum Tabakhändler, der an der luxemburgischen Grenze nichts mehr verkauft, weil an der luxemburgischen Grenze die Tabakwaren sehr viel billiger sind als in Frankreich. Wie können Sie denn diesen Leuten in Ihren Gesprächen und bei ihren öffentlichen Auftreten klar machen, dass dies auch eine Chance ist? Versuchen Sie das?
Cohn-Bendit: Das gesellschaftliche Modell vieler Franzosen – links wie rechts – ist ein Modell, wo sich hinter dem Sozialen im Grunde genommen ein Verständnis von Nation versteckt. Und die französische Nation hat eine – ich nenne sie mal – gaullistisch-kommunistische Identität. Das ist ein Staat, der sich immer sehr misstrauisch gegenüber einer Marktwirtschaft zum Beispiel gezeigt hat. Es ist eine Gesellschaft, die ihre größten Erfolge hatte – Wachstumserfolge, in den 60er Jahren – eben durch eine Mitverwaltung der Gaullisten und der Kommunisten. Und Sie haben recht, beide sind für einen zentralistischen Staat. Und in einer globalisierten Welt träumen die Franzosen von einem solchen Zustand.
Irmler: Und da kommt dann ein Daniel Cohn-Bendit daher wie ein "cheven sur la soupe" – wie man im französischen sagt – wie ein Haar auf der Suppe und propagiert eine neoliberale EU-Verfassung.
Cohn-Bendit: Es ist höchstwahrscheinlich, dass das "Nein" gewinnt in Frankreich. Das muss man an diesem heutigen Sonntag einfach mal so feststellen. Es ist denjenigen, die für das ‚Nein‘ sind, gelungen, diese Auseinandersetzung zu einer Auseinandersetzung zu machen um ein liberales Europa, ein neoliberales Europa oder ein soziales Europa. Wir sagen ‚nein‘ zum Neoliberalen, weil wir ein soziales Europa erkämpfen wollen. Das ist die Situation. In Frankreich ist die Debatte über die Marktwirtschaft aufgrund der kommunistischen Tradition, des traditionellen Sozialismus, nie endgültig geführt worden. Die französische Linke hat im Grunde genommen ihre Abkehr von einer staatlich gelenkten Wirtschaft nie vollzogen. Ich sage nicht, von staatlichen Interventionen. Aber die haben ein ganz anderes staatliches Modell.
Irmler: Nun haben ja Chirac und Schröder auch keine Visionen…
Cohn-Bendit: . . . sie sind auch keine ‚Europäer‘ . . .
Irmler: . . . es gibt aber dieses geflügelte Wort von Jaques Delors, dem früheren Präsidenten der EU-Kommission: "In einen Binnenmarkt verliebt man sich nicht!" Was für eine europäische Vision haben Sie denn dem entgegenzusetzen?
Cohn-Bendit: Das Problem ist: Politiker wie Chirac sind nicht glaubwürdig. Vor zwanzig Jahren hatte er eine berühmte Rede gehalten, in der er gesagt hat: Das ist ein Projekt der Ausländer, der ausländischen Partei – Europa. Er war gegen Europa. Ich sage in diesem Wahlkampf: Europa ist eine Chance. Das politische Europa mit einer sozialen Definition und mit einer Grundrechts-Charta. Das ist das Erbe Europas gegen den Totalitarismus – gegen Kommunismus wie Faschismus. Und dieses Europa, was sich auch eine politische Struktur gibt, verpflichtet sich mit dieser Verfassung, eine Rolle zu spielen in der Welt. Mit dieser Verfassung haben wir die Möglichkeit, nicht die Sicherheit – die Verfassung ist schließlich keine Versicherungspolice, sondern die Verfassung ist ein Mittel –, mit dieser Verfassung haben wir die Möglichkeit, die Freiheit, die wir wollen, eigenständig in der Welt zu handeln und Verantwortung zu übernehmen.
Irmler: Wenn ich Ihnen so zuhöre, verfestigt sich bei mir das Gefühl, dass Europa ein Projekt der Eliten war und der Eliten ist.
Cohn-Bendit: Das ist ein Problem, nur . . .
Irmler: . . . aber Sie müssen die Menschen doch begeistern für Europa . . .
Cohn-Bendit: . . . ja, das ist mein Problem, dass ich die Menschen leider nicht begeistern kann, weil ich in dieser Frage "nur" ein Parlamentarier bin. Die Politiker haben sich Jahrzehnte lang, rechts wie links, hinter Europa versteckt. Es gibt den berühmten Satz: "Brüssel hat beschlossen". Sagen Sie mir, wer ist ‚Brüssel‘? Das Männeken Piss? Wenn gesagt wird: "In Berlin ist beschlossen worden", dann wissen Sie, das ist die schwarz-gelbe Regierung, die rot-gelbe Regierung, das sind politische Parteien, die haben dies und jenes beschlossen.
Irmler: Und in Brüssel die Kommission.
Cohn-Bendit: Das ist nicht wahr, die Kommission beschließt gar nichts. Sie schlägt vor . . .
Irmler: Nach dem Verständnis der Leute ist das aber so . . .
Cohn-Bendit: . . . ja, aber warum? Brüssel - das ist eine Black Box. Nichts ist öffentlich, man weiß nicht, was sie diskutieren. Die Regierung kommt zurück und sagt: ‚Brüssel hat beschlossen.‘ Dabei haben sie es mit beschlossen, sie hatten Argumente dafür und dagegen. Das ist nicht transparent. Und jetzt haben viele Menschen Probleme. Und da kommen viele Dinge raus. In Frankreich ist ja die neueste Hass-Figur die des polnischen Klempners. Das ist das tägliche Leben der Menschen wird durch die Politik der nationalen Regierung bestimmt. Was Europa machen könnte – das ist eine richtige Kritik –, macht es nicht. Es gibt zum Beispiel diese Geizkragen – Schröder, Chirac, mit ihrer Reduzierung des europäischen Haushalts. Was heißt Reduzierung des europäischen Haushalts? Dass Europa bestimmte Investitionen in die Wirtschaft, Kommunikationsnetze, Eisenbahn oder Technologieforschung nicht machen kann. Und deswegen kommt Europa bei den einzelnen Menschen nicht an.
Irmler: Kurzum: Europa – die EU – dient im Moment auch als Projektionsfläche für alles Übel dieser Welt?
Cohn-Bendit: So kann man es sagen. Oder ich würde anders sagen, es dient als Projektionsfläche, und die Regierungen haben nicht die Kraft, die Ansprüche, die die Menschen an Europa stellen, aufzunehmen und in eine wirklich europäische Perspektive umzusetzen – politisch, ökonomisch, sozial. Die meisten Regierungschefs sind keine Europäer. Das muss man einfach feststellen. Bundeskanzler Schröder war bis zu dem Tag, wo er Kanzler wurde, gegen den Euro, hat öffentlich dagegen argumentiert.
Irmler: Dem kann man entgegenhalten: Nur Dummköpfe ändern ihre Meinung nicht.
Cohn-Bendit: Das Problem ist nicht, dass Schröder seine Meinung geändert hat, Chirac hat ja auch seine Meinung geändert. Das Problem ist, glaubwürdig zu erklären, dass Politik sich ändert. Und wenn man Europäer sein will, dann kann man nicht den europäischen Haushalt auf ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes reduzieren, weil das bedeutet, ein Europa mit 25 muss billiger sein als ein Europa mit 15. Das ist nach Adam Riese Schwachsinn.
Irmler: Geht die Gleichung wirklich auf: Mehr Geld für die EU, mehr Geld für Europa – gleich mehr Fortschritt? Überlegen Sie sich mal, wie der Haushalt der Deutschen zur Zeit aussieht. Hans Eichel hat wirklich große Probleme. Können Sie in dieser Situation da von den Menschen verlangen, dass sie noch mehr Geld ausgeben für ein Europa, von dem sie ohnehin nicht wissen, wohin das Geld geht?
Cohn-Bendit: Das ist ja richtig, aber das kann man ja auch ändern. Zwei Dinge: Eichel muss Geld für die Bahn investieren, national. Wenn Sie sich die Bahnnetze angucken, dann ist die Bahn, regional und national definiert, europäisch. Eine Bahnlinie geht von Stockholm über Hamburg bis Basel nach Spanien. Basel – Hamburg, das ist der deutsche Teil einer europäischen Linie. Wenn uns eine Investition gelingt mit der europäischen Investitionsbank, für die Modernisierung dieser Linie oder von Westen nach Osten, dann sparen wir Geld in Deutschland.
Irmler: Ein Beispiel. Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. Das reiche Luxemburg, das reichste Land in Europa, bekommt in einigen Regionen noch Geld, und zwar Strukturhilfen. Finden Sie das normal? Irland, ähnliche Beispiele, Spanien . . .
Cohn-Bendit: Mit Spanien ist es schon komplizierter. Da müssten wir schon genau hingucken.
Irmler: Das kann man doch nicht mehr darstellen.
Cohn-Bendit: Erstens ist dies geändert worden. Zweitens muss man sagen, wenn man auf ein Prozent runtergeht, würden zwei Drittel der Förderung in den neuen Bundesländern, die Europa anschafft, wegfallen. Ist das Sinn der Sache? Ich sage, es gibt Investitionen, die Deutschland alleine nicht machen kann, oder Frankreich oder andere. Was Luxemburg angeht, das sind geringfügige Summen. Das sind ungefähr 50.000 Euro, von denen Sie hier sprechen – wahnsinnig wichtig. Ich will gerne eine ganze Stunde über diese 50.000 Euro für Luxemburg reden. Das Problem ist . . .
Irmler: Dies ist doch eine Frage der Psychologie?
Cohn-Bendit: Mit der Psychologie ist das so: Alle sagen, es geht um die Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen von hoher Qualität. Wir werden mit China nicht um irgendwelche Hemdenproduktionen konkurrieren. Wenn Frankreich 100 Airbus-Flugzeuge an China verkauft, 50 TGV und drei Atomkraftwerke, dann ist das die erste Meldung in den Nachrichten. Und wenn die Chinesen sagen, das bezahlen wir mit unseren Hemden, dann finden wir dies skandalös, was die Chinesen machen. Das gleiche gilt für Schröder, wenn er nach China geht. Wir müssen Forschung und Technologie in Europa entwickeln. Darin muss Europa investieren, mehr zusammenbringen, koordinieren. Nicht nur national. Ich glaube, dass das Zusammenfassen der technologischen Fähigkeiten der Europäer uns einen Quantensprung nach vorne bringen würde. Das kann Europa finanzieren, das muss Europa finanzieren. Und das würde allen zugute kommen. Die Wissenschaftler würden nicht nach Amerika gehen, sondern in Europa bleiben.
Irmler: Also Umschichten im EU-Haushalt?
Cohn-Bendit: Nicht nur umschichten, nein, Europa braucht . . .
Irmler: Muss Europa 43 Prozent für die Landwirtschaft ausgeben?
Cohn-Bendit: Nein, muss nicht. Das ist ein Problem. Wissen Sie was, mit dieser Frage verlieren Sie das Referendum in Frankreich. Wenn der europäische Haushalt reduziert wird, hat Europa nicht die Möglichkeit, das zu tun, was es tun muss. Das heißt nicht, dass man nicht reformieren muss. Das bedeutet nicht, dass die Strukturfonds nicht reformiert werden müssen. Aber die Strukturfonds müssen sein, weil es auch um Solidarität der Europäer untereinander geht. Wir brauchen viele Strukturfonds auch in den Erweiterungsländern.
Irmler: Im Moment steht das Wort Solidarität ja nicht sehr hoch im Kurs in den Diskussionen im Rahmen des Europäischen Rates oder anderswo. Im Moment geht es ja darum: Jeder rette sich, wie er kann.
Cohn-Bendit: Und wenn diese Verfassung scheitert, dann noch mehr. Dann kehrt der Geist von Nizza wieder. Die Nacht von Nizza, die Nacht der langen Messer in Nizza, was war das? Jeder für sich, jeder gegen jeden. Höchstwahrscheinlich wird diese Verfassung nicht durchkommen. Das muss man einfach so sehen. Es ist kein Drama in dem Sinne, dass Europa nicht mehr so sein wird, wie es jetzt ist. Es ist aber dramatisch, wenn man es daran misst, was Europa machen müsste. Wenn man die Perspektiven diskutiert, was Europa machen müsste, dann ist es dramatisch, wenn diese Verfassung nicht durchkommt. Wenn man den Alltag der Menschen heute sieht, ist es schon schlimm, wie die Situation jetzt ist.
Irmler: Wie erklärt es sich, dass Bundesaußenminister Fischer in jener ‚Nacht der langen Messer’, wie Sie sie nennen, sich hingestellt und gesagt hat, in Nizza seien auf allen Gebieten Fortschritte erreicht worden. Chirac sprach von einem "historischen Vertrag". Die Tinte war noch nicht trocken, da war allen schon klar, dass dieser Vertrag reformiert werden muss.
Cohn-Bendit: Es ist hohle Rhetorik, es ist nicht wahr. Unser Freund Joschka Fischer irrt. Dieser Vertrag ist ein Wahnsinn und macht Europa nicht fit für die Erweiterung. Dieses Gesülze immer, "wir haben etwas geschafft" wenn man genau weiss, dass nichts geschafft wurde, das macht die Menschen rammdösig. Das ist überhaupt keine Frage. Ich bin zutiefst melancholisch im Moment, und auch traurig, weil ich sehe, wir bezahlen oder wir werden geprügelt für alle Fehler, die die gemacht haben. Jahrzehntelang haben die meisten Politiker Europa für ihre nationalen Bedürfnisse instrumentalisiert, umfunktioniert. Es ist nicht ein Europa der Eliten, das jetzt bestraft wird. Die Eliten haben Europa missachtet.
Irmler: Gibt es auch ein Leben ohne Verfassung?
Cohn-Bendit: Immer. Aber erst mal vielleicht nicht viel. Ich jedenfalls werde in ein tiefes Loch fallen. Es wird lange dauern, bis dieses Europa mehr sein wird als ein Markt. Das Schlimme ist, dass diejenigen, die dagegen sind, sagen: Wir wollen nicht nur ein Europa des Marktes. Doch jetzt, wo Europa endlich eine politische Struktur erhält, da sagen die nein. Und was werde sie bekommen? Ein Europa des Marktes.
Irmler: Das ist aber spezifisch französisch. In Großbritannien und den Niederlanden.. . .
Cohn-Bendit: . . sagen sie das Gegenteil. Das ist ein weiteres Problem. Ich sage den Franzosen immer: Ich glaube, ihr habt einen anderen Text. Ihr lest einen anderen Text, eine andere Übersetzung. Lest das, was die Engländer lesen, die Holländer. Die sagen, dieses Sozialgesülze von den Franzosen, das geht uns auf die Nerven. Wir wollen einen härteren Stabilitätspakt, nicht einen weicheren und so weiter. Wir Grünen haben immer einen europäischen Volksentscheid verlangt. Die Europäer stimmen gemeinsam ab – mit doppelter Mehrheit, eine Mehrheit der Bürger und in mindestens 17 von 25 Staaten eine Mehrheit. Da hätte es eine Auseinandersetzung der Europäer untereinander gegeben. Dann hätten wir eine europäische Öffentlichkeit gehabt. Doch was haben die 25 Regierungschefs gemacht? Die haben immer Schiss, immer Angst vor Europa. Das bezahlen wir heute.
Irmler: In der französischen Wirtschaftszeitung Les Echos haben dieser Tage 25 EU-Kommissare ihre Vorstellungen vom künftigen Europa niedergeschrieben. Es liest sich wie in den vielen Prospekten, die um das Kommissionsgebäude herum verteilt werden, diese bunten Prospekte. Nicht sehr konkret also. Ich wollte Sie deshalb mal fragen nach ihrem europäischen Projekt, nach ihrem europäischen Modell. In der Kapitalisdebatte waren die Grünen auffallend abwesend. Deshalb meine Frage: Wie stellen Sie sich Europa künftig vor? Mehr Kapitalismus, weniger Kapitalismus, mehr soziale Marktwirtschaft, Schutz vor wem, Schutz gegen wen?
Cohn-Bendit: Das ist ja typisch die französische Debatte. Wir können die Kapitalismusdebatte führen, aber so unglaubwürdig wie Müntefering in dieser Frage ist, werden alle sagen, niemand will den Kapitalismus abschaffen.
Irmler: Bei Ihnen kommt das Wort schon gar nicht mehr vor. Sie waren ja mal früher auf den Barrikaden, Sie haben Steine geworfen, Sie haben für den Weltfrieden gekämpft gegen das Kapital . . .
Cohn-Bendit: Moment mal, junger engagierter Journalist . . .
Irmler: . . . und jetzt haben Sie das Wort Kapitalismus aus Ihrem Vokabular gestrichen.
Cohn-Bendit: Nein. Wir leben und verteidigen das, was wir soziale Marktwirtschaft nennen. In der sozialen Marktwirtschaft gibt es auch Kapitalisten. Und niemand wird diese Kapitalisten und Lohnabhängige oder Angestellte, Arbeiterinnen und Arbeiter, Freiberufler und so weiter in Frage stellen. Denn wenn man das konsequent weiter denkt, dann muss man für die Planwirtschaft sein. Soziale Marktwirtschaft heißt Regulierung des Kapitalismus. Da muss man konsequent sein und fragen, soll man das flotierende Kapital besteuern? Ja. Doch damit schaffen Sie den Kapitalismus nicht ab, sondern sie sagen, hier gibt es eine neue Entwicklung. Das Finanzkapital nistet sich ein, mischt sich ein in das Produktionskapital, will kurzfristige Rendite, und das macht die Wirtschaft meschugge, weil es keinen Unternehmergeist mehr gibt.
Irmler: Die Grünen sind also für die Einführung einer Tobin-Steuer, zum Beispiel?
Cohn-Bendit: Also, ob es die Tobin- oder die Dany-Steuer sein wird, ist egal. Man muss aber ehrlich sein, ehrlich in der Debatte. Seit Beginn dieser Koalition ist die Frage auf dem Tisch, wie entlastet man die Lohnnebenkosten, nicht die Löhne, die Lohnnebenkosten – und da meine ich, ist das Grundproblem dieser Koalition . . .
Irmler: Sie reden jetzt von der deutschen Koalition. Ich rede aber vom europäischen Sozial-Modell.
Cohn-Bendit: Ja, aber das europäische Modell ist im Kern davon betroffen. Schaffen wir auf europäischer Ebene eine Besteuerung, wo nicht nur Arbeit besteuert wird, sondern wo Energiekonsum besteuert wird, wo alle Renditen besteuert werden, alle Einnahmen. Wenn Sie ein Haus in Frankreich kaufen und es wieder verkaufen, soll das besteuert werden. Nehmen Sie die Schweiz als Modell. Von allen Einnahmen wird Ihnen ein Teil genommen und in die Rentenversicherung einbezahlt. Das ist die Bürgerversicherung. Das alles wäre eine Möglichkeit, um die Lohnabhängigen zu entlasten, Arbeit zu schaffen und – das ist das europäische Sozialmodell – eine Sozialkasse für alle zu haben.
Irmler: Mit Steuerpolitik machen die europäischen Staaten doch Standardpolitik.
Cohn-Bendit: Einer der größten, effektivsten europäischen Staaten ist Schweden. Schweden hat eine hohe Steuerquote, eine sehr hohe Effizienz und die niedrigste Arbeitslosenzahl. Warum? Weil sie 1993 Reformen gemacht haben, die die Arbeit entlasten. Man muss auch einmal schauen, was ist - und nicht mit der ideologischen Brille sich das aussuchen, was man will.
Irmler: Inzwischen wird ja schon über ein Nizza + diskutiert. Man kann sich ja durchaus vorstellen, dass der Nizza-Vertrag insoweit verbessert wird, dass man die doppelte Mehrheit, von der Sie sprachen, also einfache Mehrheit in den Ministerräten plus die Mehrheit der europäischen Bevölkerung bei künftigen Abstimmungen heranzieht. Man kann möglicherweise ja auch einen Präsidenten installieren, einen europäischen Ratspräsidenten, der etwas länger in Amt und Würden ist als sechs Monate. Man kann sich sicherlich einiges vorstellen. Halten Sie das für eine Option?
Cohn-Bendit: Die werden schon irgendeinen Schwachsinn machen. Das ist ja überhaupt nicht die Frage. Die Frage ist: Was bringt’s? Was wir mit dieser Verfassung wollten, ist, dass Europa einen Sprung macht, einen Sprung, der sich politisch und auch inhaltlich definiert. Das ist ja der Sinn des ersten und des zweiten Teils der Verfassung mit der Charta der Grundrechte. Europa, das ist unsere Seele. Und daran messen wir unsere Politik, nach innen wie nach außen. Wir wollen, dass diese Politik gemessen wird an sozialen Standards, an ökologischen Standards und an politischen Standards – und an Menschenrechts-Standards. Wenn es keine Verfassung gibt, wird dies fehlen. Deswegen ist ein Nizza - / + uninteressant.
Irmler: Herr Cohn-Bendit, ich bedanke mich für dieses engagierte Gespräch.
Cohn-Bendit: Es stimmt, dass ein Teil der französischen Linken mich als Verräter betrachtet, weil ich für das ‚Ja‘ stimme und auch die Chutzpe habe, mit Vertretern der bürgerlichen Mitte gemeinsam Veranstaltungen zu machen, wo wir miteinander diskutieren, wie wir diese Verfassung interpretieren und welche Unterschiede es gibt. Das finden sie sei Verrat. Aber ich bin ja seit 30 Jahren ein Verräter. Selbstverständlich fühle mich getroffen, weil die Auseinandersetzung in Frankreich sehr, sehr hart ist – verbal gewalttätig. Wenn man sich das im Internet anschaut, dann ist es wirklich atemberaubend, was sich da abspielt. Es ist ein verbaler Bürgerkrieg, der stattfindet.
Irmler: In Frankreich wird Europa als wirtschaftliche Bedrohung empfunden. Es gibt ja sehr viele Franzosen, die halten fest an dem "service public", am öffentlichen Dienst also, an Einrichtungen wie den staatlichen Bahnen oder auch den staatlichen Elektrizitätswerken. Das geht bis hin zum Tabakhändler, der an der luxemburgischen Grenze nichts mehr verkauft, weil an der luxemburgischen Grenze die Tabakwaren sehr viel billiger sind als in Frankreich. Wie können Sie denn diesen Leuten in Ihren Gesprächen und bei ihren öffentlichen Auftreten klar machen, dass dies auch eine Chance ist? Versuchen Sie das?
Cohn-Bendit: Das gesellschaftliche Modell vieler Franzosen – links wie rechts – ist ein Modell, wo sich hinter dem Sozialen im Grunde genommen ein Verständnis von Nation versteckt. Und die französische Nation hat eine – ich nenne sie mal – gaullistisch-kommunistische Identität. Das ist ein Staat, der sich immer sehr misstrauisch gegenüber einer Marktwirtschaft zum Beispiel gezeigt hat. Es ist eine Gesellschaft, die ihre größten Erfolge hatte – Wachstumserfolge, in den 60er Jahren – eben durch eine Mitverwaltung der Gaullisten und der Kommunisten. Und Sie haben recht, beide sind für einen zentralistischen Staat. Und in einer globalisierten Welt träumen die Franzosen von einem solchen Zustand.
Irmler: Und da kommt dann ein Daniel Cohn-Bendit daher wie ein "cheven sur la soupe" – wie man im französischen sagt – wie ein Haar auf der Suppe und propagiert eine neoliberale EU-Verfassung.
Cohn-Bendit: Es ist höchstwahrscheinlich, dass das "Nein" gewinnt in Frankreich. Das muss man an diesem heutigen Sonntag einfach mal so feststellen. Es ist denjenigen, die für das ‚Nein‘ sind, gelungen, diese Auseinandersetzung zu einer Auseinandersetzung zu machen um ein liberales Europa, ein neoliberales Europa oder ein soziales Europa. Wir sagen ‚nein‘ zum Neoliberalen, weil wir ein soziales Europa erkämpfen wollen. Das ist die Situation. In Frankreich ist die Debatte über die Marktwirtschaft aufgrund der kommunistischen Tradition, des traditionellen Sozialismus, nie endgültig geführt worden. Die französische Linke hat im Grunde genommen ihre Abkehr von einer staatlich gelenkten Wirtschaft nie vollzogen. Ich sage nicht, von staatlichen Interventionen. Aber die haben ein ganz anderes staatliches Modell.
Irmler: Nun haben ja Chirac und Schröder auch keine Visionen…
Cohn-Bendit: . . . sie sind auch keine ‚Europäer‘ . . .
Irmler: . . . es gibt aber dieses geflügelte Wort von Jaques Delors, dem früheren Präsidenten der EU-Kommission: "In einen Binnenmarkt verliebt man sich nicht!" Was für eine europäische Vision haben Sie denn dem entgegenzusetzen?
Cohn-Bendit: Das Problem ist: Politiker wie Chirac sind nicht glaubwürdig. Vor zwanzig Jahren hatte er eine berühmte Rede gehalten, in der er gesagt hat: Das ist ein Projekt der Ausländer, der ausländischen Partei – Europa. Er war gegen Europa. Ich sage in diesem Wahlkampf: Europa ist eine Chance. Das politische Europa mit einer sozialen Definition und mit einer Grundrechts-Charta. Das ist das Erbe Europas gegen den Totalitarismus – gegen Kommunismus wie Faschismus. Und dieses Europa, was sich auch eine politische Struktur gibt, verpflichtet sich mit dieser Verfassung, eine Rolle zu spielen in der Welt. Mit dieser Verfassung haben wir die Möglichkeit, nicht die Sicherheit – die Verfassung ist schließlich keine Versicherungspolice, sondern die Verfassung ist ein Mittel –, mit dieser Verfassung haben wir die Möglichkeit, die Freiheit, die wir wollen, eigenständig in der Welt zu handeln und Verantwortung zu übernehmen.
Irmler: Wenn ich Ihnen so zuhöre, verfestigt sich bei mir das Gefühl, dass Europa ein Projekt der Eliten war und der Eliten ist.
Cohn-Bendit: Das ist ein Problem, nur . . .
Irmler: . . . aber Sie müssen die Menschen doch begeistern für Europa . . .
Cohn-Bendit: . . . ja, das ist mein Problem, dass ich die Menschen leider nicht begeistern kann, weil ich in dieser Frage "nur" ein Parlamentarier bin. Die Politiker haben sich Jahrzehnte lang, rechts wie links, hinter Europa versteckt. Es gibt den berühmten Satz: "Brüssel hat beschlossen". Sagen Sie mir, wer ist ‚Brüssel‘? Das Männeken Piss? Wenn gesagt wird: "In Berlin ist beschlossen worden", dann wissen Sie, das ist die schwarz-gelbe Regierung, die rot-gelbe Regierung, das sind politische Parteien, die haben dies und jenes beschlossen.
Irmler: Und in Brüssel die Kommission.
Cohn-Bendit: Das ist nicht wahr, die Kommission beschließt gar nichts. Sie schlägt vor . . .
Irmler: Nach dem Verständnis der Leute ist das aber so . . .
Cohn-Bendit: . . . ja, aber warum? Brüssel - das ist eine Black Box. Nichts ist öffentlich, man weiß nicht, was sie diskutieren. Die Regierung kommt zurück und sagt: ‚Brüssel hat beschlossen.‘ Dabei haben sie es mit beschlossen, sie hatten Argumente dafür und dagegen. Das ist nicht transparent. Und jetzt haben viele Menschen Probleme. Und da kommen viele Dinge raus. In Frankreich ist ja die neueste Hass-Figur die des polnischen Klempners. Das ist das tägliche Leben der Menschen wird durch die Politik der nationalen Regierung bestimmt. Was Europa machen könnte – das ist eine richtige Kritik –, macht es nicht. Es gibt zum Beispiel diese Geizkragen – Schröder, Chirac, mit ihrer Reduzierung des europäischen Haushalts. Was heißt Reduzierung des europäischen Haushalts? Dass Europa bestimmte Investitionen in die Wirtschaft, Kommunikationsnetze, Eisenbahn oder Technologieforschung nicht machen kann. Und deswegen kommt Europa bei den einzelnen Menschen nicht an.
Irmler: Kurzum: Europa – die EU – dient im Moment auch als Projektionsfläche für alles Übel dieser Welt?
Cohn-Bendit: So kann man es sagen. Oder ich würde anders sagen, es dient als Projektionsfläche, und die Regierungen haben nicht die Kraft, die Ansprüche, die die Menschen an Europa stellen, aufzunehmen und in eine wirklich europäische Perspektive umzusetzen – politisch, ökonomisch, sozial. Die meisten Regierungschefs sind keine Europäer. Das muss man einfach feststellen. Bundeskanzler Schröder war bis zu dem Tag, wo er Kanzler wurde, gegen den Euro, hat öffentlich dagegen argumentiert.
Irmler: Dem kann man entgegenhalten: Nur Dummköpfe ändern ihre Meinung nicht.
Cohn-Bendit: Das Problem ist nicht, dass Schröder seine Meinung geändert hat, Chirac hat ja auch seine Meinung geändert. Das Problem ist, glaubwürdig zu erklären, dass Politik sich ändert. Und wenn man Europäer sein will, dann kann man nicht den europäischen Haushalt auf ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes reduzieren, weil das bedeutet, ein Europa mit 25 muss billiger sein als ein Europa mit 15. Das ist nach Adam Riese Schwachsinn.
Irmler: Geht die Gleichung wirklich auf: Mehr Geld für die EU, mehr Geld für Europa – gleich mehr Fortschritt? Überlegen Sie sich mal, wie der Haushalt der Deutschen zur Zeit aussieht. Hans Eichel hat wirklich große Probleme. Können Sie in dieser Situation da von den Menschen verlangen, dass sie noch mehr Geld ausgeben für ein Europa, von dem sie ohnehin nicht wissen, wohin das Geld geht?
Cohn-Bendit: Das ist ja richtig, aber das kann man ja auch ändern. Zwei Dinge: Eichel muss Geld für die Bahn investieren, national. Wenn Sie sich die Bahnnetze angucken, dann ist die Bahn, regional und national definiert, europäisch. Eine Bahnlinie geht von Stockholm über Hamburg bis Basel nach Spanien. Basel – Hamburg, das ist der deutsche Teil einer europäischen Linie. Wenn uns eine Investition gelingt mit der europäischen Investitionsbank, für die Modernisierung dieser Linie oder von Westen nach Osten, dann sparen wir Geld in Deutschland.
Irmler: Ein Beispiel. Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. Das reiche Luxemburg, das reichste Land in Europa, bekommt in einigen Regionen noch Geld, und zwar Strukturhilfen. Finden Sie das normal? Irland, ähnliche Beispiele, Spanien . . .
Cohn-Bendit: Mit Spanien ist es schon komplizierter. Da müssten wir schon genau hingucken.
Irmler: Das kann man doch nicht mehr darstellen.
Cohn-Bendit: Erstens ist dies geändert worden. Zweitens muss man sagen, wenn man auf ein Prozent runtergeht, würden zwei Drittel der Förderung in den neuen Bundesländern, die Europa anschafft, wegfallen. Ist das Sinn der Sache? Ich sage, es gibt Investitionen, die Deutschland alleine nicht machen kann, oder Frankreich oder andere. Was Luxemburg angeht, das sind geringfügige Summen. Das sind ungefähr 50.000 Euro, von denen Sie hier sprechen – wahnsinnig wichtig. Ich will gerne eine ganze Stunde über diese 50.000 Euro für Luxemburg reden. Das Problem ist . . .
Irmler: Dies ist doch eine Frage der Psychologie?
Cohn-Bendit: Mit der Psychologie ist das so: Alle sagen, es geht um die Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen von hoher Qualität. Wir werden mit China nicht um irgendwelche Hemdenproduktionen konkurrieren. Wenn Frankreich 100 Airbus-Flugzeuge an China verkauft, 50 TGV und drei Atomkraftwerke, dann ist das die erste Meldung in den Nachrichten. Und wenn die Chinesen sagen, das bezahlen wir mit unseren Hemden, dann finden wir dies skandalös, was die Chinesen machen. Das gleiche gilt für Schröder, wenn er nach China geht. Wir müssen Forschung und Technologie in Europa entwickeln. Darin muss Europa investieren, mehr zusammenbringen, koordinieren. Nicht nur national. Ich glaube, dass das Zusammenfassen der technologischen Fähigkeiten der Europäer uns einen Quantensprung nach vorne bringen würde. Das kann Europa finanzieren, das muss Europa finanzieren. Und das würde allen zugute kommen. Die Wissenschaftler würden nicht nach Amerika gehen, sondern in Europa bleiben.
Irmler: Also Umschichten im EU-Haushalt?
Cohn-Bendit: Nicht nur umschichten, nein, Europa braucht . . .
Irmler: Muss Europa 43 Prozent für die Landwirtschaft ausgeben?
Cohn-Bendit: Nein, muss nicht. Das ist ein Problem. Wissen Sie was, mit dieser Frage verlieren Sie das Referendum in Frankreich. Wenn der europäische Haushalt reduziert wird, hat Europa nicht die Möglichkeit, das zu tun, was es tun muss. Das heißt nicht, dass man nicht reformieren muss. Das bedeutet nicht, dass die Strukturfonds nicht reformiert werden müssen. Aber die Strukturfonds müssen sein, weil es auch um Solidarität der Europäer untereinander geht. Wir brauchen viele Strukturfonds auch in den Erweiterungsländern.
Irmler: Im Moment steht das Wort Solidarität ja nicht sehr hoch im Kurs in den Diskussionen im Rahmen des Europäischen Rates oder anderswo. Im Moment geht es ja darum: Jeder rette sich, wie er kann.
Cohn-Bendit: Und wenn diese Verfassung scheitert, dann noch mehr. Dann kehrt der Geist von Nizza wieder. Die Nacht von Nizza, die Nacht der langen Messer in Nizza, was war das? Jeder für sich, jeder gegen jeden. Höchstwahrscheinlich wird diese Verfassung nicht durchkommen. Das muss man einfach so sehen. Es ist kein Drama in dem Sinne, dass Europa nicht mehr so sein wird, wie es jetzt ist. Es ist aber dramatisch, wenn man es daran misst, was Europa machen müsste. Wenn man die Perspektiven diskutiert, was Europa machen müsste, dann ist es dramatisch, wenn diese Verfassung nicht durchkommt. Wenn man den Alltag der Menschen heute sieht, ist es schon schlimm, wie die Situation jetzt ist.
Irmler: Wie erklärt es sich, dass Bundesaußenminister Fischer in jener ‚Nacht der langen Messer’, wie Sie sie nennen, sich hingestellt und gesagt hat, in Nizza seien auf allen Gebieten Fortschritte erreicht worden. Chirac sprach von einem "historischen Vertrag". Die Tinte war noch nicht trocken, da war allen schon klar, dass dieser Vertrag reformiert werden muss.
Cohn-Bendit: Es ist hohle Rhetorik, es ist nicht wahr. Unser Freund Joschka Fischer irrt. Dieser Vertrag ist ein Wahnsinn und macht Europa nicht fit für die Erweiterung. Dieses Gesülze immer, "wir haben etwas geschafft" wenn man genau weiss, dass nichts geschafft wurde, das macht die Menschen rammdösig. Das ist überhaupt keine Frage. Ich bin zutiefst melancholisch im Moment, und auch traurig, weil ich sehe, wir bezahlen oder wir werden geprügelt für alle Fehler, die die gemacht haben. Jahrzehntelang haben die meisten Politiker Europa für ihre nationalen Bedürfnisse instrumentalisiert, umfunktioniert. Es ist nicht ein Europa der Eliten, das jetzt bestraft wird. Die Eliten haben Europa missachtet.
Irmler: Gibt es auch ein Leben ohne Verfassung?
Cohn-Bendit: Immer. Aber erst mal vielleicht nicht viel. Ich jedenfalls werde in ein tiefes Loch fallen. Es wird lange dauern, bis dieses Europa mehr sein wird als ein Markt. Das Schlimme ist, dass diejenigen, die dagegen sind, sagen: Wir wollen nicht nur ein Europa des Marktes. Doch jetzt, wo Europa endlich eine politische Struktur erhält, da sagen die nein. Und was werde sie bekommen? Ein Europa des Marktes.
Irmler: Das ist aber spezifisch französisch. In Großbritannien und den Niederlanden.. . .
Cohn-Bendit: . . sagen sie das Gegenteil. Das ist ein weiteres Problem. Ich sage den Franzosen immer: Ich glaube, ihr habt einen anderen Text. Ihr lest einen anderen Text, eine andere Übersetzung. Lest das, was die Engländer lesen, die Holländer. Die sagen, dieses Sozialgesülze von den Franzosen, das geht uns auf die Nerven. Wir wollen einen härteren Stabilitätspakt, nicht einen weicheren und so weiter. Wir Grünen haben immer einen europäischen Volksentscheid verlangt. Die Europäer stimmen gemeinsam ab – mit doppelter Mehrheit, eine Mehrheit der Bürger und in mindestens 17 von 25 Staaten eine Mehrheit. Da hätte es eine Auseinandersetzung der Europäer untereinander gegeben. Dann hätten wir eine europäische Öffentlichkeit gehabt. Doch was haben die 25 Regierungschefs gemacht? Die haben immer Schiss, immer Angst vor Europa. Das bezahlen wir heute.
Irmler: In der französischen Wirtschaftszeitung Les Echos haben dieser Tage 25 EU-Kommissare ihre Vorstellungen vom künftigen Europa niedergeschrieben. Es liest sich wie in den vielen Prospekten, die um das Kommissionsgebäude herum verteilt werden, diese bunten Prospekte. Nicht sehr konkret also. Ich wollte Sie deshalb mal fragen nach ihrem europäischen Projekt, nach ihrem europäischen Modell. In der Kapitalisdebatte waren die Grünen auffallend abwesend. Deshalb meine Frage: Wie stellen Sie sich Europa künftig vor? Mehr Kapitalismus, weniger Kapitalismus, mehr soziale Marktwirtschaft, Schutz vor wem, Schutz gegen wen?
Cohn-Bendit: Das ist ja typisch die französische Debatte. Wir können die Kapitalismusdebatte führen, aber so unglaubwürdig wie Müntefering in dieser Frage ist, werden alle sagen, niemand will den Kapitalismus abschaffen.
Irmler: Bei Ihnen kommt das Wort schon gar nicht mehr vor. Sie waren ja mal früher auf den Barrikaden, Sie haben Steine geworfen, Sie haben für den Weltfrieden gekämpft gegen das Kapital . . .
Cohn-Bendit: Moment mal, junger engagierter Journalist . . .
Irmler: . . . und jetzt haben Sie das Wort Kapitalismus aus Ihrem Vokabular gestrichen.
Cohn-Bendit: Nein. Wir leben und verteidigen das, was wir soziale Marktwirtschaft nennen. In der sozialen Marktwirtschaft gibt es auch Kapitalisten. Und niemand wird diese Kapitalisten und Lohnabhängige oder Angestellte, Arbeiterinnen und Arbeiter, Freiberufler und so weiter in Frage stellen. Denn wenn man das konsequent weiter denkt, dann muss man für die Planwirtschaft sein. Soziale Marktwirtschaft heißt Regulierung des Kapitalismus. Da muss man konsequent sein und fragen, soll man das flotierende Kapital besteuern? Ja. Doch damit schaffen Sie den Kapitalismus nicht ab, sondern sie sagen, hier gibt es eine neue Entwicklung. Das Finanzkapital nistet sich ein, mischt sich ein in das Produktionskapital, will kurzfristige Rendite, und das macht die Wirtschaft meschugge, weil es keinen Unternehmergeist mehr gibt.
Irmler: Die Grünen sind also für die Einführung einer Tobin-Steuer, zum Beispiel?
Cohn-Bendit: Also, ob es die Tobin- oder die Dany-Steuer sein wird, ist egal. Man muss aber ehrlich sein, ehrlich in der Debatte. Seit Beginn dieser Koalition ist die Frage auf dem Tisch, wie entlastet man die Lohnnebenkosten, nicht die Löhne, die Lohnnebenkosten – und da meine ich, ist das Grundproblem dieser Koalition . . .
Irmler: Sie reden jetzt von der deutschen Koalition. Ich rede aber vom europäischen Sozial-Modell.
Cohn-Bendit: Ja, aber das europäische Modell ist im Kern davon betroffen. Schaffen wir auf europäischer Ebene eine Besteuerung, wo nicht nur Arbeit besteuert wird, sondern wo Energiekonsum besteuert wird, wo alle Renditen besteuert werden, alle Einnahmen. Wenn Sie ein Haus in Frankreich kaufen und es wieder verkaufen, soll das besteuert werden. Nehmen Sie die Schweiz als Modell. Von allen Einnahmen wird Ihnen ein Teil genommen und in die Rentenversicherung einbezahlt. Das ist die Bürgerversicherung. Das alles wäre eine Möglichkeit, um die Lohnabhängigen zu entlasten, Arbeit zu schaffen und – das ist das europäische Sozialmodell – eine Sozialkasse für alle zu haben.
Irmler: Mit Steuerpolitik machen die europäischen Staaten doch Standardpolitik.
Cohn-Bendit: Einer der größten, effektivsten europäischen Staaten ist Schweden. Schweden hat eine hohe Steuerquote, eine sehr hohe Effizienz und die niedrigste Arbeitslosenzahl. Warum? Weil sie 1993 Reformen gemacht haben, die die Arbeit entlasten. Man muss auch einmal schauen, was ist - und nicht mit der ideologischen Brille sich das aussuchen, was man will.
Irmler: Inzwischen wird ja schon über ein Nizza + diskutiert. Man kann sich ja durchaus vorstellen, dass der Nizza-Vertrag insoweit verbessert wird, dass man die doppelte Mehrheit, von der Sie sprachen, also einfache Mehrheit in den Ministerräten plus die Mehrheit der europäischen Bevölkerung bei künftigen Abstimmungen heranzieht. Man kann möglicherweise ja auch einen Präsidenten installieren, einen europäischen Ratspräsidenten, der etwas länger in Amt und Würden ist als sechs Monate. Man kann sich sicherlich einiges vorstellen. Halten Sie das für eine Option?
Cohn-Bendit: Die werden schon irgendeinen Schwachsinn machen. Das ist ja überhaupt nicht die Frage. Die Frage ist: Was bringt’s? Was wir mit dieser Verfassung wollten, ist, dass Europa einen Sprung macht, einen Sprung, der sich politisch und auch inhaltlich definiert. Das ist ja der Sinn des ersten und des zweiten Teils der Verfassung mit der Charta der Grundrechte. Europa, das ist unsere Seele. Und daran messen wir unsere Politik, nach innen wie nach außen. Wir wollen, dass diese Politik gemessen wird an sozialen Standards, an ökologischen Standards und an politischen Standards – und an Menschenrechts-Standards. Wenn es keine Verfassung gibt, wird dies fehlen. Deswegen ist ein Nizza - / + uninteressant.
Irmler: Herr Cohn-Bendit, ich bedanke mich für dieses engagierte Gespräch.