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Colonia Tovar

Typisch deutsch - das kleine idyllisches Schwarzwalddorf Colonia Tovar hat sich in Venezuela einen Namen gemacht. Gegründet wurde es von deutschen Auswanderern.

Von Andreas Audretsch | 17.10.2010
    Carina Machado hat ihr Auto auf einem kleinen Parkplatz am Straßenrand abgestellt und schlendert am Waldesrand die Serpentinen entlang. Die Bäume an den steilen, dicht bewachsenen Hängen der venezolanischen Berge lassen nur einzelne Sonnenstrahlen durchblitzen und immer wieder taucht in einiger Entfernung ein Kirchturm auf: grobes Fachwerk, rot gedecktes Dach, an der Spitze ein kleines schwarzes Kreuz.

    Carina Machado lebt in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Am Morgen hat sie sich aufgemacht, die stickige, hektische Stadt hinter sich gelassen und ist hinaus in die Berge gefahren. Ihr Ziel: Ein kleines idyllisches Schwarzwalddorf, etwa drei Autostunden von Caracas entfernt. Colonia Tovar hat sich in Venezuela längst einen Namen gemacht.

    "Mir gefällt es sehr nach Colonia Tovar zu kommen, weil die Atmosphäre sehr schön ist und außerdem das Gemüse und das Obst sehr viel besser ist als das, was es in Caracas gibt; und weil die Luft so viel sauberer und klarer ist."

    Es ist Samstagmorgen, in Colonia Tovar ist Markt. An den steilen Hängen steht ein kleiner Stand neben dem anderen. Die Tovarer verkaufen, was sie hergestellt haben: Zuckergebäck, eingemachte Beeren, Brot, Honig, Obst und Gemüse. Karina Machado schlendert die Straße hinab in den Ort hinein. Vorbei an alten Fachwerkhäusern, die hinter den Marktständen stehen. Sie hält inne, fotografiert die gepflegten kleinen Vorgärten und schlendert weiter. An einem Stand mit zwei großen Bierfässern bleibt sie stehen.

    "Mir gefällt es sehr gut in Colonia Tovar wegen des Bieres, das es hier gibt. Und außerdem mag ich den typisch deutschen Kuchen."

    Typisch deutsch sind auch die vielen kleinen Läden im Erdgeschoss der Fachwerkhäuser. Der Lottoladen trägt den Namen "Das Glück", eine Bäckerei heißt "Herr Peter", eine weitere schlicht "Das Brot", nicht zu vergessen die Restaurants und Hotels: Sie heißen Reebstock, Edelweiß, Baden oder Bergland.

    Angesichts von Hungersnot und Elend hatten 1842 etwa 390 Schwarzwälder den Entschluss gefasst, ihre deutsche Heimat zu verlassen. Zunächst ging es für die Maurer, Metzger, Schuhmacher und Bauern knapp 700 Kilometer ans Meer in Le Havre, dann mit dem Schiff über den Atlantik. Von Durchfall und Gelbfieber gezeichnet erreichten sie schließlich ihre neue Bleibe: In den Bergen unweit der Küste gründeten sie ein kleines Dorf und bauten es stilgetreu nach dem Vorbild ihrer Heimat wieder auf.

    Erst 120 Jahre später, nach dem Bau einer asphaltierten Straße in den 1960er-Jahren kamen die Tovarer wieder in Kontakt mit der Außenwelt.
    Ralf Muttach ist Tovarer in der sechsten Generation. Er betreibt einen kleinen Souvenir-Laden unweit des Marktplatzes. Kuckucksuhren reihen sich an Deutschland-Wimpel, mit Fachwerkhäusern bedruckte Tassen an Musik-CDs mit deutschen Schlagergrößen. Am Eingang prangen große Schilder mit den Zeichen für Master-, Visa- und EC-Karten. Colonia Tovar hat sich zu einem Touristenmagnet für reiche Venezolaner entwickelt, sagt Ralf Muttach, während er die Feuerzeuge und Bonbons auf dem Tresen ordnet. Trotzdem versucht er die Traditionen weiter hochzuhalten.

    "Also ich bin der Oberzunftmeister, der Präsident vom Jockele-Verein in Colonia Tovar. Das Jockele kommt von Endingen am Kaiserstuhl. In Tovar wird Fasnacht gefeiert, wie in Deutschland, also wie in Endingen. Am schmutzige Dunschdig hammers Hemdglunkerumzug und dann hammer Zischtig, Trauer-Zischtig, da tu mers Jockele in den Brunnen rein und dann tum mo alle a Trauerumzug mache."

    Ralf Muttach kennt die Traditionen nicht nur aus der Überlieferung. Er hatte das Glück für zwei Jahre eine Ausbildung in Endingen im Schwarzwald machen zu dürfen, gelernter Koch ist er nun, mit deutschem Zeugnis.

    Der 35-Jährige dreht sich um und beugt sich zu der Stereoanlage hinunter, die hinter dem Tresen steht. Die wenigsten Venezolaner, die in seinen Shop kommen, interessieren sich wirklich für die deutschen Traditionen und das echte Leben in Tovar, erzählt er, während er das CD-Fach öffnet. Die meisten wollen deutsche Klischees.

    "Deutsche Musik hab ich immer im Laden, ne."

    Er hat ein Geschäft aus seinem Deutschsein gemacht. Doch das ist nur die Oberfläche. Die Zerrissenheit ist echt.

    "Meine Heimat ist Venezuela, weil ich bin hier aufgewachsen. Aber für die Venezolaner sind wir auch Ausländer, wir sind die Deutschen, los Allemanes, wir sind keine Venezolaner für die Einheimischen. Also hier sind wir Ausländer und in Deutschland sind wir auch Ausländer. Es ist nicht einfach!"

    Ronald Gutmann hebt den Deckel eines großen Topfes an und blinzelt in den Dampf. Der kräftige junge Mann ist Geschäftsführer des Selva Negra, des Schwarzwaldhotels. Es ist Mittagszeit und in der Küche herrscht Hochbetrieb. Die Köche braten Rouladen, setzen Rinderfonds an und blanchieren Gemüse.

    Ronald Gutmann:
    "Wir haben jetzt zum Beispiel hier einen richtigen badischen Sauerbraten. Er ist vom Rinderfleisch, das vorher in Rotwein mariniert ist, zusammen mit verschiedenen Gemüsen und das wird dann natürlich mit Spätzle serviert, die in Butter geschwenkt sind, dann Petersilie, gehackt oben drauf, dann vielleicht noch gratinierter Blumenkohl serviert."

    Er setzt den Deckel vorsichtig wieder auf den Topf zurück. Das Selva Negra ist das größte Hotel im Ort. 45 Zimmer kann der 32-Jährige Geschäftsführer seinen Gästen anbieten. Dazu die geräumige Präsidentensuite. Auch Roman Herzog und Willy Brandt waren schon hier, erzählt Ronald Gutman stolz.

    Das große Fachwerkhaus liegt idyllisch zwischen Tannen, die die Auswanderer Mitte des 19. Jahrhunderts direkt nach ihrer Ankunft gepflanzt hatten. Im Restaurant sitzen die Gäste am großen Kamin auf rustikalen Eckbänken, die Wände sind mit Holzpanelen ausgekleidet. Es ist ein Stück Deutschland in den südamerikanischen Bergen, aber ganz ohne Venezuela geht es auch im Selva Negra nicht.

    Ronald Gutmann:
    "Die Tovarer Küche ist sehr venezolanisch. Weil es gab damals leider nicht die Waren und Zutaten, um auch weiter deutsch zu kochen. Da hat sich auch zwischen den Sauerbraten … er wird manchmal zum Beispiel serviert mit einer Kochbanane oder mit Reis. Aber wir versuchen natürlich, hier in unserem Hotel und unserem Restaurant so echt deutsch zu kochen, wie es nur möglich ist."

    Leonardo Fer, ein schlanker Mann mit feinen Zügen, kocht schon seit vielen Jahren im Selva Negra. Wie Ralf Muttach, der Shop-Besitzer, hat er eine Ausbildung in Endingen, im Schwarzwald gemacht, nun arbeitet er für Ronald Gutmann. Gekonnt zerteilt er mit einem großen Messer ein Stück Fleisch, legt es beiseite und wischt sich die Hände am Geschirrtuch im Gürtel ab. Er hat die Heimat seiner Ururgroßeltern kennen und lieben gelernt, erzählt er. Gerne würde er für immer zurück an den Kaiserstuhl.

    Leonardo Fer:
    "Meine Vorfahren kommen alle aus Deutschland. Ich würde gerne nach Deutschland gehen, aber ich habe einen venezolanischen Pass und dabei brauche ich ein Visum, um nach Deutschland zu gehen. Ich habe es schon versucht, aber es geht nicht mehr. Ich meine, die Situation hier ist nicht einfach."

    Heimat ist Colonia Tovar, da ist sich Leonardo Fer sicher. Die Sehnsucht nach Deutschland, wo 1842 alles begann ist trotzdem ein ständiger Begleiter.

    Karina Machado ist durch die Straßen des kleinen Dorfes geschlendert und steht nun auf dem großen Marktplatz im Zentrum. Vor ihr die kleine Fachwerk-Kirche, daneben die Stände der Tovarer. Nun, am Nachmittag, ist der Platz noch belebter als am Morgen. Die Terrasse des Kaffee Muhstall liegt gegenüber der Kirche und ist gut besucht. Mit knöchellangen Kleidern und Bollenhüten servieren junge Frauen Schwarzwälder Kirschtorte, warmen Apfelkuchen mit Schlagsahne, Kaffee und heiße Schokolade.

    An einem der Tische sitzen Heidi und Alexandra Collin. Mutter und Tochter verbindet eine gemeinsame Leidenschaft: Die Geschichte und Sprache Colonia Tovars. Heidi Collin stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch, legt den Kopf schief und wirft ein Stück Zucker in den Kaffee. Gemeinsam mit der Universität Freiburg arbeitet die 43-jährige an einem Wörterbuch. In Deutschland wird das reine Alemannisch heute gar nicht mehr gesprochen, erläutert sie und auch in Tovar gerät es mit jeder Generation ein Stück weiter in Vergessenheit; zu stark ist der Einfluss des Spanischen. Seit in den 60er-Jahren die Straße gebaut wurde, wurde die deutsche Kultur in den Bergen Venezuelas zusehends verwässert. Der Tourismus, der heute eine wichtige Einnahmequelle der Tovarer ist, kam damals wie ein Überfall.

    "Als sie die Straße fertig gebaut haben von Caracas bis Tovar, das war die erste, sind eine Menge Touristen hier hergekommen, die Oma hatte vor dem Haus eine Menge Rosen und am Samstag und am Sonntag, wenn die Leute gekommen sind, haben sie alle Rosen rausgerissen und sind zum Teil bis in die Häuser gegangen. Danach haben sie die Leute gewarnt und dann waren sie etwas bessere Touristen." (lacht)

    Heute erleben Alexandra und Heidi Collin den Einfall der venezolanischen Oberschicht jedes Wochenende. Von Montag bis Freitag arbeiten Sie dafür, das deutsche Dorf, welches sie von ihren Müttern und Großmüttern geerbt haben, am Leben zu erhalten. Das Wörterbuch soll im nächsten Jahr veröffentlicht werden, zum Nachruf auf die deutsche Kolonie in Venezuela soll es nicht werden.