
Christoph Reimann: Arthur Russell ist mittlerweile bekannter als zu Lebzeiten. Das liegt auch daran, dass nach und nach sein Archiv zugänglich gemacht wird. Und da gibt es viel zu entdecken. Ein paar Aufnahmen sind jetzt auf der Compilation "Iowa Dream" erschienen. Peter Broderick hat sie zusammengestellt. Er ist selbst Musiker und Russell-Fan. Was haben Sie gefunden, als Sie in die Archive von Arthur Russell geschaut haben? Er galt als chaotisch. Seine Bänder sollen überall herumgelegen haben. Was haben Sie vorgefunden?
Peter Broderick: Ich habe viel Chaos vorgefunden. Auf jeden Fall unheimlich viel Material. So viel Material, dass ich mich darin verloren habe. Es ist toll, die Chance zu haben, die unveröffentlichte Musik von deinem Lieblingsmusiker zu hören. Erst mal denkt man dann: "Wow, das ist so eine Ehre, ich bin überwältigt." Das denke ich auch heute immer noch. Es war jedoch so viel Material, dass es irgendwann eine echte Herausforderung wurde, mich durch diese ganzen Tapes zu arbeiten und etwas Produktives damit zu machen. Aber ja, ich hatte einen Schatz von Aufnahmen vor mir, die mich manchmal verwirrt haben, aber auch immer wieder vom Hocker rissen.
"Russell interessierte sich nicht für Vollendung"
Reimann: Arthur Russell interessierte sich nicht für Vollendung. Er nahm Songs viele, viele Male auf. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass es so viel Material von ihm gibt. Wie sind Sie an dieses Album "Iowa Dream" rangegangen? Die Songs darauf wirken in sich geschlossen. Wie haben Sie das erreicht, ohne dass die Songs dabei den Geist von Arthur Russell verloren haben?
Reimann: Arthur Russell hat sich nicht fürs Fertigstellen interessiert. Er nahm Songs viele, viele Male auf. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass es so viel Material von ihm gibt. Wie sind Sie an dieses Album "Iowa Dream" rangegangen? Die Songs darauf wirken in sich geschlossen. Wie haben Sie das erreicht, ohne dass die Songs dabei den Geist von Arthur Russell verloren haben?
Broderick: Es gab viele Herangehensweisen, die vom jeweiligen Song abhingen. Wie Sie sagen, es ging um 19 Songs auf dem Album. Einige Songs waren nahezu vollständig, sie brauchten nur einen abschließenden Schliff, zum Beispiel durch ein gutes Mastering. In anderen Fällen gab es dann Songs, bei denen die Bänder dann knisterten und zischten. Das hat Nerven gekostet, weil es manchmal echt schwierig war, den Song rauszuhören.
In diesen Fällen habe ich mit digitaler Software gearbeitet und habe versucht, wie ein Chirurg die Songs so gut wie möglich von diesen Störgeräuschen zu befreien. Denn das waren ja unbeabsichtigte Effekte - durch Bänder, die zu oft benutzt worden waren oder sich eben langsam auflösten.
"Würde Arthur das gefallen?"
Dann gab es wieder andere Fälle, in denen es vielleicht zehn verschiedene Aufnahmen zu demselben Song gab, und keine Einzige war für sich vollständig abgeschlossen. Also musste ich aus den zehn Versionen eine machen und die entsprechenden Teile zusammenfügen. Naja, und da kommt man dann langsam in den Bereich, dass man sich fragt: "Würde Arthur das gefallen? Hätte er es auch so gemacht?" Ich habe so viel Zeit mit dieser Musik verbracht und habe versucht, so gut wie möglich,e die Essenz des jeweiligen Songs zu verstehen. Das war das Ziel. Es ging mir nicht um Selbstprofilierung. Nun müssen die Hörer und Hörerinnen entscheiden, wie gut sie das finden.
Reimann: Was macht denn die Essenz eines Songs von Arthur Russell aus? Er war ein klassisch ausgebildeter Komponist, ein Cellist, er war ein Folk-Sänger, er mischte in der Discomusik-Szene der 70er-Jahre in New York mit – was ist die DNA eines Arthur-Russell-Songs?
Der arbeitswütige Musiker - ein schwieriger Charakter
Broderick: Wenn ich davon spreche, die Essenz eines Songs zu verstehen, dann meine ich tatsächlich einen bestimmten Song. Ich kann nicht per se das Wesen seiner Musik beschreiben. Es ist mehr ein Gefühl oder eine Intuition. Du hörst dir die zehn Versionen eines Songs immer und immer wieder an, und auf einmal bekommst du eine Idee davon, wohin der Song geht und wie er gemeint ist. Ich musste mir und meinem Gefühl da vertrauen und bin mir sicher, dass jeder, der den Job an meiner Stelle getan hätte, das anders gemacht hätte. Nur hatte ich das Glück, dass eben ich in der Position war.
Das Corsogespräch mit Peter Broderick –
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Reimann: Viele der Songs, die jetzt auf der Kompilation sind, sind in den frühen 70er-Jahren entstanden. Damals war Arthur Russell gerade nach New York gezogen. Er versuchte sein Glück im Musikgeschäft. Zweimal stand er kurz davor, einen Plattenvertrag mit einem Major-Label einzugehen. Aber letztlich ist der Plan nicht aufgegangen. Weshalb? Das Material, wie wir jetzt hören, war toll.
Broderick: Verschiedene Leute haben den schwierigen Charakter von Arthur Russell angesprochen. Ich denke nicht, dass er jemand war, der einfach im Umgang war, was die Arbeit anging. In künstlerischer Hinsicht war er kompromisslos. Aber das sind nur Spekulationen, denn ich habe ihn nicht erlebt.
Lehrstück über die Mechanismen der Musikindustrie
Vor dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrung in der Musikindustrie kann ich nur sagen, ich habe über die Jahre so viele tolle und unglaublich talentierte Musiker erlebt, die es aus dem einen oder anderen Grund nicht geschafft haben. Und die, die groß rausgekommen sind, waren nicht zwangsläufig die besten Musiker. Sie waren vielleicht einfach die besseren Geschäftsleute. Das ist ein Fakt, der einem Angst als Künstler machen kann, weil man es nicht wahrhaben möchte, aber so ist es eben. Wer weiß schon, woran es genau bei Arthur gehapert hat. Ich bin mir sicher, es war eine Kombination aus allem.
Was ich aber wirklich bemerkenswert an ihm finde, ist sein unbedingter Wille - dass er seiner Musik ohne wenn und aber verpflichtet war und dass sie nach allem, doch zu einem gewissen Grad ihren Platz in der Welt gefunden hat. Es gibt so viel Wertschätzung für seine Arbeit. Vielleicht ist das das, was zum Schluss zählt. Im Leben vieler Menschen – inklusive meinem – spielt seine Musik eine besondere Rolle, und das ist toll.
Der Zeit voraus
Reimann: Genres waren Arthur Russell egal, und er war schwul. In heutiger Popmusik geht es um das Kreuzen verschiedener Genres, verschiedener Stile, und es gibt mehr queere Künstler-Personen als je zuvor. War Russell seiner Zeit voraus?
Broderick: Definitiv. Als ich an den Songs zu "Iowa Dream" anfing zu arbeiten, dachte ich bei einigen, die sind so innovativ, dass sie aus der Jetzt-Zeit stammen könnten. So viele Grenzen werden überschritten, wie es heute in Popmusik ganz selbstverständlich der Fall ist. Damals war es das nicht. Genau das ist ja die Definition von jemandem, der seiner Zeit voraus ist.
Reimann: Zum Beispiel bei welchem Song?
Broderick: Zum Beispiel in dem Song "Barefoot in New York". Sowas habe ich noch nie gehört, und trotzdem berührt der Song so viele Dinge, die mir vertraut sind. Er kreiert da etwas ganz Eigens, das keiner sonst geschaffen hat. Der Song hört sich so frisch an und haut mich um.
"Er hat mit Sprache und Worten gespielt"
Reimann: Das ist der Song, in dem er absichtlich stottert, oder?
Broderick: Ja, da gibt es eine Art vorgetäuschtes Stottern, was wirklich bizarr ist.
Reimann: Haben Sie eine Erklärung für das Stottern?
Broderick: Er hat mit Sprache und Worten gespielt. Wie beides hervorgebracht wird und Bedeutung bekommt. Und ich glaube, er mochte es auch ein bisschen, Leute an der Nase herumzuführen, sie zu verwirren. Ich denke, das kommt von einer Art Verspieltheit und war Ausdruck seines Experimentierens.
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