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Corona-Lektüre
Surreale Quarantäne

Marlen Haushofer hält in ihrem Roman "Die Wand" ihre Erzählerin jahrelang unter einer Kuppel gefangen. Auf der Alm muss sie ihrem Leben einen neuen Sinn geben. Ihr Existenzkampf ist eine eindrückliche Lektüre, die Leserinnen auch heute Trost spenden kann.

Von Helmut Krausser |
    Buchcover: Marlen Haushofer: „Die Wand“
    Camus Roman „Die Pest“ ist der Klassiker der Stunde, Marlen Haushofers 1963 erschienenes Hauptwerk "Die Wand" aber auch. (Buchcover List/Ullstein Verlag)
    Den Roman "Die Wand" der österreichischen Autorin Marlen Haushofer habe ich bislang wohl dreimal gelesen. Es gibt nicht viele Bücher, denen ich diese Aufmerksamkeit zuteilwerden lasse. Und eher selten ist darunter das Buch einer Autorin. Was nicht misogyn klingen, sondern den Stellenwert des Buches hervorheben soll. Ich komme noch aus einer Generation, in der ein angeblicher Literaturpapst verkündet hat, dass es Frauen nicht gegeben sei, Romane zu schreiben.
    "Die Wand" war für mich immer DAS Paradebeispiel für die Unsinnigkeit dieses Verdikts. Es gibt kaum einen besseren Anlass als die momentane Coronavirus-Krise, um ihn in die Hand zu nehmen. Denn das Buch handelt von einer surrealen, von einer unfreiwilligen Quarantäne, in die eine namenlose, zirka vierzig Jahre alte Frau gerät.
    Auf der Almhütte von Bekannten irgendwo in den österreichischen Alpen ist sie gerade allein, ihre Begleiter sind ins Dorf gefahren, als sich plötzlich eine durchsichtige, doch undurchlässige Wand um sie herum auftut, wie eine riesige Glaskuppel, nur halt nicht aus Glas, das könnte man zerbrechen. Doch gegen die Wand gibt es kein Mittel der Gewalt.
    Grundfragen des Seins zwingen sich auf
    Der Raum unter dieser Kuppel ist sehr groß. Die Frau hat dabei Platz. Etliche Kilometer sind ihr geblieben, während die Außenwelt, die sie wie durch ein Fernglas betrachten kann, stillsteht. Man könnte sagen, diese Frau, eine kultivierte Städterin, an harte körperliche Arbeit sicher nicht gewöhnt, ist aus der Zeit gefallen und muss sich nun mit der Natur neu arrangieren. Abgesehen von der Wand selbst gibt es kein weiteres fantastisches Element. Was folgt, ist der sehr präzise Bericht darüber, wie eine Frau ihre Verzweiflung besiegt und sich durch einen enormen Kraftakt an die vorhandenen Bedingungen der Natur anpasst.
    Für sie geht es darum, ob und wie man das Unabänderliche hinnehmen - oder Selbstmord begehen muss. Die Erzählerin ist gezwungen, Grundfrage des Seins zu beantworten, sie ist gezwungen, einen neuen Sinn für ein neues Leben finden. Oder wenigstens auf Zeit spielen, um genauer darüber nachdenken zu können. Zur Seite stehen ihr dabei keine Menschen, wohl aber Tiere, ein Hund namens Luchs, mehrere Katzen, eine weiße Krähe, und eine Kuh, die auf den Namen Bella hört.
    Wie der erste Mensch
    Zuerst finden sich noch die üblichen Konservenvorräte in der Hütte, wie man sie für etwaige Katastrophenfälle anlegt. Auch ein Gewehr und einige Schachteln Patronen erweisen sich als nützlich. Aber bald muss die Frau lernen, neue Proviantquellen zu erschließen. Noch ist Sommer, noch ist Zeit, Maßnahmen zu ergreifen, um den kommenden Winter vielleicht zu überleben. Gleichsam wie der erste Mensch muss sie lernen, auf der Alm zu überleben, mit allem, was dazugehört, also auch die Aussaat und die Ernte, die Tierzucht und der Fourage von Tierfutter.
    Wie so oft bei guter Literatur liegt die Spannung in der nüchternen und exakten Schilderung der Ereignisse, die für sich genommen, gar nicht so spektakulär sein müssen.
    Man kann den Roman wohl am ehesten dem sogenannten magischen Realismus zuordnen und vielerlei psychologische Hypothesen aufstellen, inwieweit die Wand vielleicht sogar einem inneren Wunsch entspricht, auf sich selbst gestellt zu sein, der eigenen Ur-Angst begegnend, sei es auch unter archaischen Bedingungen.
    Wo bleiben Würde und Verpflichtungen?
    Gern wird der Roman als einer der radikalen Ökologie verstanden, oft mit einer stark feministischen Wertung, was meiner Meinung nach letztlich allein darauf beruht, dass die Protagonistin weiblich ist, und dass, so viel Spoiler muss leider sein, am Ende ein recht garstiger Mann auftaucht, der von der Ich-Erzählerin getötet wird. Dieses vorwegzunehmen berührt nicht das Wesentliche des Buches.
    Ich persönlich habe den Roman, vielleicht weil ich ein Mann bin, eher als meditative Auseinandersetzung mit der Einsamkeit gelesen, eine Auseinandersetzung, die philosophische Komplexität erreicht, dabei aber fast immer eine recht einfache Sprache verwendet, die nie gekünstelt oder exaltiert wirkt, obwohl es doch viele Momente der äußersten Verzweiflung gegeben haben muss.
    Ich denke, dieser Text könnte manch einem, der jetzt zu Hause auf seinem Sofa sitzt, ein guter Trost sein. Er stellt die existentiellsten Fragen: Dürfen wir resignieren, sollten wir es gar um unsere Würde zu bewahren, oder müssen wir das Unmögliche möglich machen und uns neu erfinden? Haben wir gar eine Verpflichtung dazu, weil es Lebewesen gibt, und seien es auch nur Tiere, die unsrer bedürfen?
    Schreiben gegen Einsamkeit und Langeweile
    Das größte Problem der Einsamkeit ist selbstverständlich die Langeweile. An schwere Arbeit gewöhnt man sich schnell, und schließlich ist es ja gerade sie, die die Langeweile am nachhaltigsten vertreibt.
    Die Frau findet irgendwann ein leeres Heft und beginnt aufzuschreiben, was geschehen ist, obwohl sie daran zweifelt, dass irgendjemand es einst lesen wird. So ist der Roman, wie so viele Romane, auch einer über die Arbeit des Autors,. "Die Wand", so viel sei auch verraten, bietet kein Happy End, es ist offen, was mit der Protagonistin passiert. Optimistisch wird nur das Glück des aktuellen Tages notiert, nämlich dass die Kuh Bella, begattet vom eigenen Nachwuchs, ein Kalb haben wird.
    Ein Mord ohne Gewissensbisse
    Wie zu jedem hervorragenden Buch gehört auch, dass gewisse Rätsel bleiben, die man sich nicht leicht erklären kann. Als zum Beispiel, wie vorhin erwähnt, nach fast drei Jahren plötzlich ein anderer Mensch, ein Mann, in ihre Welt, ihre Kuppel eindringt und ohne ersichtlichen Grund zwei ihrer Lieblingstiere tötet, greift sie sofort zum Gewehr und erschießt ihn, ohne auch nur eine Sekunde zu bedenken, ob sich der Mann von den Tieren vielleicht angegriffen gefühlt haben mochte oder ob es sonst irgendetwas Entlastendes über ihn zu sagen gegeben hätte.
    Schließlich handelt es sich, nach so langer Zeit, um das erste menschliche Wesen, mit dem sie wieder eine gehobene Kommunikation hätte führen können. Sie wird, man muss das einmal so sagen, zur Mörderin, mindestens zur Totschlägerin und sie verliert kein Wort, keine weitere Reflektion darauf, empfindet kein bissiges Gewissen. Das ist in seiner radikalen Entschiedenheit großartig, aber auch verstörend.
    Die Todesszene wurde von manchen Seiten als Kampfsignal gegen das Patriarchat gewertet, doch da bin ich mir nicht so sicher. Eins ist das Buch nämlich auch; absolut erotikfrei. Ob die Erzählerin den Eindringling überhaupt als Mann angesehen hat oder nur als zufällig männlichen Eindringling mit Waffe, weiß allein der Geier. Es ist ein Moment der komplett ausgeblendeten moralischen Reflektion, völlig archaisch, ebenso düster wie faszinierend.
    Aufgabe des Ich
    Man muss vielleicht annehmen, dass die Erzählerin sich längst damit abgefunden hat, allein, zumindest als einziger Mensch in einer Welt zu leben, mit der sie sich zu arrangieren wusste. Dass sie die Zumutung der Kuppel als eine Art Exerzitium für sich angenommen hat, für ein neues Einssein mit der Natur, das ein Zweisein als unnatürlich empfände.
    "Manchmal verwirren sich meine Gedanken, und es ist, als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken. Und der Wald will nicht, dass die Menschen zurückkommen. Damals, im zweiten Sommer, war es mit mir noch nicht so weit gekommen. Die Grenzen waren noch streng gezogen. Es fällt mir schwer, beim Schreiben mein früheres und mein neues Ich auseinanderzuhalten, mein neues Ich, von dem ich nicht sicher bin, dass es nicht langsam von einem größeren Wir aufgesogen wird. Aber schon damals bahnte die Verwandlung sich an. Die Alm war schuld daran. Es war fast unmöglich, in der summenden Stille der Wiese unter dem großen Himmel ein einzelnes abgesondertes Ich zu bleiben, ein kleines, blindes, eigensinniges Leben, das sich nicht einfügen wollte in die große Gemeinschaft. Einmal war es mein ganzer Stolz gewesen, ein solches Leben zu sein, aber auf der Alm schien es mir plötzlich sehr armselig und lächerlich, ein aufgeblasenes Nichts."
    Menschliche Abgründe
    Dieses überhaupt nicht eine Sekunde Nachdenken darüber, ob man die errungene Autarkie aufgeben und die bezwungene Welt mit jemand anderem teilen möchte, könnte amazonenhaft gemeint sein. Doch lässt sich die Tat simpler deuten.
    Die Frau hat zwei Wesen verloren, mit denen sie etwas verband, und deshalb nimmt sie unverzüglich Rache. Wie auch immer. So gut die Leserschaft die Protagonistin auch kennenlernen wird, es bleiben unausgeleuchtete Abgründe übrig.
    Härter als Robinson Crusoe
    Der viel bekanntere Vorgängerroman, der Kulturgeschichte geschrieben hat, ist "Robinson Crusoe" von Daniel Dafoe. Dort aber sind die Bedingungen anders. Der einsame Gestrandete hat es meist mit genießbaren klimatischen Konditionen zu tun, und nach einiger Zeit wird ihm ein Gefährte beigesellt, in Form des jungen Eingeborenen Freitag. Haushofers Roman geht sozusagen zwei Härtegrade weiter.
    Zu guter Letzt kann er gar als Beispiel dienen dafür, dass Literatur manchmal mehr Zeit hat, als man in dieser schnelllebigen Welt glauben möchte. So wurde das Buch nach über fünfzig Jahren, entdeckt in einer Grabbelkiste von einer französischen Bloggerin, in Frankreich 2019 zum unwahrscheinlichen Spät-Bestseller. Die Verfilmung von Julian Pölsler mit Martina Gedeck in der Hauptrolle kann als Beispiel für eine gelungene Adaption gelten, doch die Tiefe und Wucht der Lektüre vermag er nicht zu ersetzen. Ich gehe so weit zu sagen, bzw. zum ersten Mal die Werbe-Plattitüde zu verwenden, dass dies eines jener Bücher ist, nach dessen Lektüre man nicht mehr derselbe ist wie zuvor.
    Marlen Haushofer: "Die Wand".
    List Verlag, Berlin, 288 Seiten, 10 Euro.