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Corona und Gastronomie
Warum die Ansteckungsgefahr in Restaurants schwer zu bewerten ist

Bars, Clubs, Diskotheken, Kneipen und ähnliche Einrichtungen gelten als Orte, an denen sich Menschen mit dem Coronavirus anstecken. Aber wie groß ist das Risiko tatsächlich, sich in einer gastronomischen Einrichtung zu infizieren?

Von Arndt Reuning |
Auf einen Tisch in einen Restaurant stehen verschiedene leere Gläser.
Eine US-Studie kommt zu dem Schluss, dass ein Restaurantbesuch einen gewissen Risikofaktor darstellt, sich anzustecken. (imago / Thomas Vonier)
Was weiß man über die Rolle der Restaurants in der Pandemie?
Es gibt gesicherte Berichte von Ansteckungen, die im Bereich der Gastronomie stattgefunden haben. Zu Beginn der Epidemie in Deutschland fand ein großer Ausbruch bei einem Autozulieferbetrieb in der Nähe von München statt. Das waren die ersten 16 Fälle in Deutschland. Ein Forscherteam hatte damals die Infektionsketten nachverfolgt. Ein Mitarbeiter hatte dabei in der Kantine einen Kollegen angesteckt. Die beiden hatten sich nur kurz zueinander gewandt, um den Salzstreuer zu reichen. Ansonsten hatten sie mit den Rücken zueinander gesessen. Diesen Fall hat das Forscherteam Mitte Mai im Fachmagazin "The Lancet: Infectious Diseases", beschrieben. Ein anderer Fall hat sich am entgegengesetzten Ende der Republik ereignet: in Leer in Ostfriesland. Dort hatte in einem Restaurant eine Feier stattgefunden, bei der sich ungefähr dreißig Gäste infiziert hatten. Also ein typisches Superspreading-Event. Ähnliche Vorfälle wurden aber auch berichtet zum Beispiel aus Berlin.
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Wie groß ist das Risiko, dass sich Menschen im Restaurant anstecken?
Die Datenlage ist eher dünn. Es gibt nur wenige Studien. Eine wurde durchgeführt von der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC in Atlanta. Die Fachleute dort sind zu dem Schluss gekommen, dass ein Restaurantbesuch einen gewissen Risikofaktor darstellt, sich anzustecken. Das war eine Fall-Kontroll-Studie, in der infizierte Fälle einer nichtinfizierten Gruppe gegenübergestellt werden, also der Kontrollgruppe. In diesem Fall waren das Menschen, die sich gemeldet hatten, um sich testen zu lassen, – weil sie COVID-19-typische Symptome hatten. Aber nur bei ungefähr der Hälfte war der Test positiv ausgefallen, also nur die waren infiziert.
Die Probanden in beiden Gruppen waren befragt worden: Was haben sie in den zwei Wochen vorm Einsetzen der Symptome getan? Haben sie sich mit einer großen Gruppe anderer Menschen getroffen? Waren sie einkaufen? Haben sie ein Restaurant besucht? Oder einen Gottesdienst? Waren sie im Fitnessstudio oder in einer Bar? Im Büro oder beim Friseur? Die Antworten beider Gruppen wurden dann verglichen. Und einen deutlichen Unterschied im Verhalten zwischen der Fallgruppe der Infizierten und der Kontrollgruppe der Nicht-Infizierten gab es nur beim Besuch von Restaurants und bei einer Teilgruppe beim Besuch von Bars und Cafés. Die Infizierten berichteten ungefähr doppelt so häufig, in der Zeit vor Ausbruch der Symptome ein Restaurant besucht zu haben, als die Nicht-Infizierten. Das CDC-Team folgert daraus, dass das Essen außer Haus einen Risikofaktor darstellt. Weil man mit Maske nicht essen und trinken kann, empfehlen sie weitere Maßnahmen, wie etwa eine gute Belüftung.
Wie verlässlich ist das Ergebnis dieser US-Studie?
Die Fachleute vom CDC zählen selbst einige Punkte auf, die die Aussagekraft einschränken. Zum einen ist das die Zahl der Probanden: Es waren insgesamt nur knapp 320 Probanden, die Hälfte infiziert, die andere Hälfte nicht infiziert. Und von ihrer Zusammensetzung waren die Gruppen nicht identisch, was zum Beispiel das Alter und Geschlecht anging. Das heißt, es können zufällige Schwankungen in den Daten auftauchen, die das Ergebnis verzerren. Das Ergebnis muss daher auch nicht unbedingt übertragbar sein auf das gesamte Land. Die Gruppen waren auch nicht danach gefragt worden, ob sie innen oder außen gegessen hatten. Das wäre ja auch eine wichtige Information, um das Risiko zu beurteilen. Und: Die Probanden wussten zum Zeitpunkt ihrer Befragung, ob sie infiziert waren oder nicht. Es ist möglich, dass das ihre Antworten beeinflusst hat. Also: das sind doch schon einige Unsicherheiten, die berücksichtigt werden wollen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Wie sieht es in Deutschland aus?
Für Deutschland hatte das Robert-Koch-Institut eine Studie mit solchen Daten veröffentlicht im Epidemiologischen Bulletin 38/2020. Die Daten dafür stammen von den Gesundheitsämtern, die teilweise auch an das RKI übermitteln, wo sich jemand angesteckt hat. Und da liegen die Wohnstätten ganz weit vorne, also die privaten Haushalte, aber auch Wohnheime wie Alten- und Pflegeheime oder Flüchtlingsheime. Rund 30.000 Fälle, Einzelpersonen. In Speisestätten hingegen wurden gerade einmal 300 Fälle verzeichnet, ein Hundertstel der Ansteckungen in Wohnstätten. Das scheint also doch ein anderes Bild zu zeichnen als die Studie aus den USA.

Sind die Zahlen aus Deutschland verlässlicher?

Auch diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Zum einen: Sie bilden nicht das gesamte Geschehen ab. Wie gesagt: Die Gesundheitsämter übermitteln dem RKI, wo eine Infektion stattgefunden hat. Allerdings lässt sich nur für ein Viertel der Fälle ein Ausbruchsgeschehen zuordnen. Nur für 50.000 Fälle von 200.000 ungefähr existieren diese Angaben überhaupt. Für den Rest, für drei Viertel der Fälle, wissen wir es einfach nicht, und in dieser Dunkelziffer könnten sich natürlich Ansteckungen im Restaurant verstecken. Und dann kommt es außerdem zu einer statistischen Verzerrung dadurch, dass sich diese Infektionsketten im Haushalt leichter zurückverfolgen lassen als zum Beispiel im öffentlichen Raum, wie etwa im Personennahverkehr oder eben in Restaurants.
Welches Fazit lässt sich ziehen?
Das britische wissenschaftliche Beratergremium SAGE hat im September eine Übersicht zusammengestellt, wie verschiedene nicht-pharmazeutische Maßnahmen sich auf die Ausbreitung der Pandemie auswirken dürften. Die Schließung von Gaststätten habe demnach eine mittelmäßige, eine moderate Wirkung. Aber selbst diese Aussage ist nur mittelmäßig belastbar, von einer mittleren Konfidenz. Die effektive Reproduktionszahl ließe sich damit wahrscheinlich um 0,1 bis 0,2 senken.
Was man relativ gut kennte, das sind die Randbedingungen, unter denen sich das Virus ausbreitet: also enger Kontakt zwischen Menschen, kein Mund-Nasen-Schutz, schlechte Belüftung und lautes Singen und Sprechen. Dass diese Umstände nicht überall gleich sind, macht die Bewertung in den Gaststätten auch schwierig. Man kann nicht alle Betriebe über einen gemeinsamen Kamm scheren. Es macht einen Unterschied aus, ob ich in einem Speiselokal sitze mit einer guten Klimaanlage und ausreichendem Abstand der Tische zueinander. Oder ob ich einer Kneipe feiere, als sei es Ischgl 2019. Aber wenn ich das unbedingt will, dann kann ich das natürlich auch zu Hause tun.