Bei den meisten Infektionsfällen ist nicht bekannt, wo sich Corona-Infizierte angesteckt haben. Forscher des Hermann-Rietschel-Instituts der Technischen Universität Berlin haben nun Berechnungen zum Ansteckungsrisiko für verschiedene Innenraum-Szenarien veröffentlicht. "Es ist von großem Interesse, typische Situationen miteinander zu vergleichen, um einen generellen Eindruck zu bekommen", sagt Studienautor Martin Kriegel zur Motivation seiner Untersuchung. Bislang ist diese Studie noch nicht von unabhängigen Experten begutachtet und noch nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden.
Der Belüftungsexperte Martin Kriegel, Direktor des Hermann-Rietschel-Instituts, und seine Kollegin Anne Hartmann haben alltägliche Situationen in den Fokus genommen. Für ihre Berechnungen haben sie untersucht, wie sich die Aerosole in gängigen Orten wie Theater, Restaurants und Schulen verteilen und daraus Rückschlüsse auf das Ansteckungsrisiko mit dem Coronavirus gezogen.
Für die Studie geht Kriegel davon aus, dass sich eine infizierte Person in einem geschlossenen Raum befindet und untersucht dann, wie wahrscheinlich es ist, dass sich andere Menschen in dem Raum über Aerosolpartikel mit dem Virus anstecken. Berücksichtigte Einflussfaktoren sind dabei Aufenthaltsdauer im Raum, Atemaktivität von Quelle und Empfänger, Aerosolkonzentration im Raum und Quellstärke (Emissionsrate). Es wurde also beachtet, wie lange man sich im Raum befindet, wie groß der Raum ist, wie die Lüftungssituation ist und ob schwer geatmet wird.
Außerdem wurde bei den Berechnungen die Einhaltung der Hygiene- und Lüftungsregeln vorausgesetzt und die Schutzwirkung einer Maske mit 50 Prozent einbezogen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich in einer bestimmten Umgebung mit dem Coronavirus ansteckt, nennt Martin Kriegel den situationsbezogenen R-Wert. Die Annahme dabei ist, dass es eine bestimmte Virenmenge gibt, die zur Ansteckung erforderlich ist.
Bei diesem Vergleich kommt heraus, dass beim Supermarktbesuch dieses Risiko ungefähr bei eins liegt. Wenn also tatsächlich eine infizierte Person in den Supermarkt geht und dort alle übrigen Personen eine Maske tragen, dann wird nach Kriegels Berechnungen im Durchschnitt eine weitere Person angesteckt.
Das Gute an den Berechnungen von Martin Kriegel ist, dass nun unterschiedliche Situationen vergleichbar sind. Kriegels Berechnung besagen zum Beispiel: Wenn die Hälfte der Sitze bei einem Theater- oder Kinobesuch belegt sind, ist es dort nur etwa halb so riskant, sich mit Corona zu infizieren, wie beim Einkaufen im Supermarkt. Obwohl bei diesen Orten des kulturellen Bereichs die Aufenthaltsdauer deutlich länger ist, scheint das Risiko geringer, weil es dort meistens leistungsfähige Lüftungsanlagen gibt. Auch beim Friseur ist das Risiko nur halb so groß, denn dort sind nur wenige Personen im Raum.
Hingegen gilt ein Restaurantbesuch laut der Studie als doppelt so riskant wie der Gang zum Supermarkt. Im Restaurant kann zwar ein gewisser Abstand eingehalten werden, aber es werden keine Masken getragen. Das Fitnessstudio ist problematisch, weil dort viel geatmet wird. Der situationsbezogene R-Wert liegt bei Studios bei 3,4.
Am dramatischsten ist es laut den Berechnungen an der Oberschule, wenn dort bei vollbesetzter Klasse keine Maske getragen würde. Dann würde der situationsbedingte R-Wert bei über zehn liegen, also ein zehnmal so hohes Risiko wie bei einem Supermarktbesuch.
Es ist interessant, diese verschiedenen Szenarien zu vergleichen. Forscher Kriegel geht davon aus, dass die Maske die Ansteckung um die Hälfte verringert. Entsprechend spiegelt sich das in den Zahlen wider. Für die Oberschule hat Martin Kriegel das durchexerziert: Maske tragen reduziert das Risiko um die Hälfte. Weiter wird es deutlich durch geringere Personenzahl reduziert, also wenn man die Klasse zum Beispiel teilt und eine Hälfte zu Hause bleibt. Von diesen plastischen Modellrechnungen kann auch abgelesen werden, dass sich das Risiko ziemlich effektiv beeinflussen lässt. In der Summe geht es bei den Schulöffnungen somit nicht nur darum, ob geöffnet wird, sondern vor allem wie. Mit entsprechenden Konzepten lässt sich das Risiko an den verschiedenen Orten verringern.
Am effektivsten wird das Coronavirus ausgebremst, wenn bei Öffnungen die bekannten Maßnahmen (Maske, Abstand, Lüften) gleichzeitig angewendet werden. Das ist wie beim Schweizer Käse: Man hat verschiedene Käsescheiben (die für Maßnahmen stehen) mit Löchern an unterschiedlichen Stellen. Wenn die übereinander gelegt werden, dann bleibt am Ende keine Lücke für das Virus.
Die Studie an der TU Berlin beschäftigt sich nur mit dem Risiko in Räumen und schließt die Anfahrt und Abfahrt zu dem jeweiligen Ort aus. Die Kontakte auf dem Weg müssen also noch obendrauf gerechnet werden. Deshalb hat auch die veröffentlichte wissenschaftliche Leitlinie zur Schulöffnung betont, dass die Schulbusse beim Infektionsrisiko mitgedacht werden müssen. Diese müssten entlastet werden, zum Beispiel durch versetzte Anfangszeiten beim Schulbeginn. Auch im Freizeitbereich wie bei einem Theaterbesuch muss das Davor und Danach draufgerechent werden.
Außerdem ist zu beachten, dass diese Studie grundsätzlich davon ausgeht, dass eine infizierte Person im Raum ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich keine infizierte Person im Raum befindet, wurde nicht berücksichtigt. Wenn die Infektionszahlen generell niedrig sind, dann ist meistens keine Person im Supermarkt, die Viren ausstößt. Das tatsächliche Risiko einer Infektion ist somit erheblich niedriger.
Studienautor Kriegel räumt ein: "Es ist ein einfaches Abschätzungsmodell, das allerdings auf einem detaillierten Infektionsrisikomodell basiert, das an realen Ausbrüchen validiert wurde." Zudem seien noch grundlegende medizinische Fragen unklar, etwa wie viele Viren in Aerosolpartikeln und welche Viruskonzentration für eine Infektion notwendig seien. "Man bräuchte eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit, um ein umfassendes, ganzheitliches Modell zu erhalten."
(Quelle: Volkart Wildermuth, dpa)