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Couragiertes Handeln

Einstmals, in antiker Zeit, spielten Begriffe eine Rolle, die der Gegenwart nicht mehr so ohne weiteres verständlich sind: "Tapferkeit" zum Beispiel, andreia im Griechischen, eine Tugend genannt, arete, eine der wichtigsten Tugenden sogar; Tugend verstanden als herausragende Eigenschaft, als Vortrefflichkeit, als Exzellenz. Wo ist in der Gegenwart die Exzellenz der Tapferkeit geblieben? Sie ist anrüchig geworden, verdorben von Kriegen, in die tapfere Soldaten zu ziehen hatten, um allzu oft sinnlose Tode zu sterben. Um diesen militärischen Aspekt der Tapferkeit beiseite zu lassen und ihren offenkundig unverzichtbaren Wert doch wieder geltend zu machen, ist der Begriff der "Zivilcourage" erfunden worden. Auch die geschlechtliche Gebundenheit der Tapferkeit an Männlichkeit erschien aus guten Gründen überholt; die Zivilcourage ist geschlechtsneutral. Und weil die Zeitumstände nun so sind, dass einige wichtige Werte wie Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit ohne diesen einen der Zivilcourage womöglich gefährdet sind, macht der Begriff Karriere.

Wilhelm Schmid | 17.07.2002
    Was ist Zivilcourage? Wie kommen Menschen dazu, sie zu entwickeln? Dem geht ein Buch nun gründlicher und lebensnäher als alle anderen nach: Couragiertes Handeln von Wolfgang Heuer. Dass Heuer ein sehr guter Kenner des Werks von Hannah Arendt ist, überrascht nicht. Sie war es, die in ihrer Philosophie Konsequenzen aus der Erfahrung des Nationalsozialismus zog, sich dem engagierten politischen Denken und Handeln widmete und damit die Zivilcourage zum Begriff machte. Bekanntlich ist bei öffentlichen Sonntagsreden und privaten Verlautbarungen an "Zivilcourage" kein Mangel. Die Frage ist nur, wie Menschen wirklich zu dieser Eigenschaft kommen und schließlich couragiert handeln. Dem anhand einer Fülle von erzählten Lebenserfahrungen (konzentriert auf ostdeutsche Biographien) nachzugehen, ist die Stärke dieses Buches.

    Und seine Quintessenz: Um zur Zivilcourage fähig zu sein, muss man kein besonderer Mensch sein, weder sonderlich moralisch noch auffällig stark Anderen zugewandt; kein Altruist, kein "Gutmensch" also. Es bedarf offenkundig auch keiner außerordentlich großen Reflektiertheit, denn sonst wären Intellektuelle die couragiertesten Menschen, nicht nur im Reden, sondern auch im Tun. Sinnlos, die Zivilcourage zur Norm machen zu wollen, vielmehr bedarf es der Ausbildung eines Gespürs, und das wächst mit der Entwicklung des Selbst und seinen Erfahrungen; sowohl den schlimmen, die dazu führen können, andere in Bedrängnis nicht allein zu lassen, als auch den ermutigenden, die dem gelebten Beispiel anderer folgen, weniger den Moralpredigten. Die couragierten Menschen, so Heuer, "handelten nach eigenen Gewohnheiten und Maßstäben, die sie kaum in Begriffe fassen konnten."

    Couragiertes Handeln beruht letztlich, wie einst die Tapferkeit in der Antike, auf einem couragierten Sein. Gerade dies zeigt das vorliegende Buch exemplarisch auf. Zivilcourage ist keine isolierte, für sich bestehende Eigenschaft, sondern geht immer aus dem Zusammenhang eines ganzen Lebens hervor und hat ihren Platz in der Gesamtheit der Erfahrungen und Vorstellungen eines Menschen, die er im Laufe der Zeit gemacht und sich zurechtgelegt hat. Wesentlich ist der Mut zum eigenen, selbständigen, engagierten und kreativen Leben, der gesamte Mut zum Sein, der Lebensmut; der Mut, sich mit Widrigkeiten auseinander zu setzen, Schwierigkeiten durchzustehen und nicht dem Leben abzuverlangen, alles Erwünschte ohne Widerstände umstandslos serviert zu bekommen. Kein blinder Mut, der Gefahren nicht wahrnehmen würde. Kein rücksichtsloser Mut, der über Leichen ginge. Vielmehr ein Mut, der, wie einst in der Antike, mit Klugheit, Besonnenheit und Gerechtigkeit im Verbund steht^md der am Beginn der Moderne, bei Kant, mit Selberdenken, Selbstverantwortung und Selbstachtung in Verbindung gebracht worden ist, deren Grundlage er zugleich darstellt, denn wie sonst sollte das Subjekt sich auf den Weg dazu begeben?

    Immer aber ist es der Mut eines Einzelnen, der sein Leben nicht daran orientiert, was "alle tun", sondern was er oder sie selbst nach bestem Wissen und Gewissen für richtig hält. Daher geht es beim couragierten Handeln primär eben nicht um das Leben eines anderen Menschen, sondern um das eigene Leben. Es so zu gestalten, dass dies dem Selbst Achtung vor sich selbst abverlangt, ist der Sinn des Lebensmutes. Dass das Leben wirklich ein "eigenes" sein könnte, halten manche für undenkbar. Aber das große Problem eines "eigenen Lebens" besteht nicht etwa darin, dass es von anonymen Mächten und ganzen Systemen unmöglich gemacht werden würde, sondern dass manche Menschen zu mutlos dazu sind. Sie zu ermutigen, auch angesichts widriger Umstände, darin besteht der Gewinn des vorliegenden Buches. Es bietet den Stoff für eine neue Aktualität der Tapferkeit.