Donnerstag, 25. April 2024

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COVID-19 und Viruszirkulation
Schulunterricht "ist natürlich ein Risikoszenario"

Natürlich gebe es ein Ansteckungsrisiko, wenn sich viele Menschen über Stunden in einem Klassenraum aufhielten, sagte die Virologin Isabella Eckerle im Dlf. Sie warnt davor, die Rolle von Kindern und Jugendlichen im Virusgeschehen zu unterschätzen. Zu lange habe man sich auf Daten der ersten Jahreshälfte ausgeruht.

Isabella Eckerle im Gespräch mit Ralf Krauter | 24.08.2020
Schüler tragen Masken beim Unterricht im Musikraum
Es brauche jetzt Konzepte und Notfallpläne, um Infektionen durch den Schulbetrieb zu minimieren, sagt die Virologin Eckerle (picture alliance / imagoBROKER / Rupert Oberhäuser)
Kinder seien keine Treiber des COVID-19-Infektionsgeschehens, hieß es nach Studien in der ersten Jahrshälfte 2020. Im Angesicht beschlossener Schulöffnungen nach den Sommerferien empfiehlt die Gesellschaft für Virologie in einer Stellungnahme, sich da nicht zu sicher zu sein:
"Wir warnen vor der Vorstellung, dass Kinder keine Rolle in der Pandemie und in der Übertragung spielen. Solche Vorstellungen stehen nicht im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Fehlende Präventions- und Kontrollmaßnahmen könnten in kurzer Zeit zu Ausbrüchen führen, die dann erneute Schulschließungen erzwingen. Eine Unterschätzung der Übertragungsgefahren an Schulen wäre kontraproduktiv für das kindliche Wohlergeben und die Erholung der Wirtschaft."
Ein Schüler der Klasse 4d in der Goldbeck-Schule kommt mit Mundschutz in die Klasse und stellt seine Schulranzen auf seinen Tisch. 
Wie hoch ist das Corona-Infektionsrisiko in Schulen?
Droht nun mit dem wieder beginnenden Präsenzunterricht eine stärkere Ausbreitung von SARS-CoV-2? Die Studienlage ist nach wie vor unklar. Ein Überblick.
Bisherige Datenlage nicht zuverlässig
Mitgeschrieben an dieser Stellungnahme hat die Virologin Isabella Eckerle von der Universität in Genf. Sie hält die vorliegenden Daten zur Rolle von Kindern im Infektionsgeschehen für nicht zuverlässig. Man müsse "sehr vorsichtig sein mit den Daten, die man in der ersten Hälfte des Jahres gewonnen hat. Man hat tatsächlich zunächst nur einen geringen Anteil an Kindern gesehen. Man weiß aber inzwischen auch, dass Kinder in der Regel nur sehr mild oder auch asymptomatisch (symptomlos) infiziert sind. Das heißt, die sind bei den ganzen Studien, die durchgeführt wurden, einfach unter dem Radar geblieben."
Schulunterricht als typische Ansteckungsreaktion
Zudem hätten Studien im Mai und Juni in einer völlig anderen Situation stattgefunden als jetzt. Die Kinder seien lange nicht in der Schule gewesen, und es habe kaum Viruszirkulation in Deutschland gegeben.
Deswegen böten diese Studien "im Moment keine gute Orientierung für die nächsten Monate - weil die einfach in einer ganz besonderen Situation entstanden sind, die wir jetzt nicht mehr haben. Wir haben jetzt eine höhere Inzidenz, Viruszirkulation in allen Altersgruppen, vor allem auch in den jungen Altersgruppen. Und wir öffnen jetzt die Schulen mit einer ganzen Bandbreite an Maßnahmen oder eben Nicht-Maßnahmen. Das Risiko, dass es da zu Infektionsketten kommt, ist viel, viel höher als im Juni oder im Mai, direkt nach dem Lockdown."
02.05.2020, Berlin: Ein Kind steht mit seinen Eltern auf einem Spielplatz im Volkspark Wilmersdorf. Nachdem Spielplätze zur Eindämmung des Coronavirus geschlossen waren, öffnen diese nun wieder. Foto: Christoph Soeder/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit der aktuellen Berichterstattung und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits | Verwendung weltweit
Forscher: Die meisten Infektionen kommen von Erwachsenen
Kinder sind nicht die Treiber des aktuellen Corona-Infektionsgeschehens - zu dieser Erkenntnis kamen im Juni baden-württembergische Forscher nach einer Studie mit 2.500 Kindern und 2.500 Elternteilen.
Schulunterricht - viele Menschen über lange Zeit in einem geschlossenen Raum - sei "natürlich ein Risikoszenario", eine typische Ansteckungssituation, sagte Eckerle. Es müsse dafür jetzt schon Notfallpläne geben, was bei einem lokalen Ausbruch zu tun sei, wer zu informieren und zu testen sei, wer in Quarantäne müsse, damit es im Herbst und Winter nicht zu Panikreaktionen und Schulschließungen komme.
Es werde zwar viel über Masken gesprochen, geringer sei die Sensibilisierung für neuere Erkenntnisse, etwa die Virusübertragung durch schwebende Partikel (Aerosole) in der Luft.
Nach Eckerles Ansicht müssten Infektionsschutzkonzepte der Aerosol-Übertragung durch ausreichendes Lüften entgegenwirken. Auch Raumgrößen und Maximalanzahl der anwesenden Schüler seien wichtige Faktoren. Hierfür brauche es nicht nur infektionswissenschaftliche Expertise, sondern auch gebäudetechnische.

Das Interview im Worlaut:
Ralf Krauter: Die Zahl der Neuinfektionen in den Altersgruppen von 5 bis 34 Jahren steigt gerade auffällig schnell. Frau Eckerle, was passiert da gerade?
Isabella Eckerle: Ich denke, wir sehen in der jüngeren Bevölkerungsgruppe im Moment einmal den Effekt der Reiserückkehrer, die ja doch einen Teil der Infektionen im Moment ausmachen. Und wir haben eben in der jüngeren Altersgruppe auch das Problem, dass die Infektionen viel häufiger sehr mild oder asymptomatisch verlaufen, das heißt, es ist eigentlich sehr viel schwieriger, dem Infektionsgeschehen in der Altersgruppe Herr zu werden. Ein zusätzlicher Faktor ist sicher auch einfach der psychologische Faktor, dass inzwischen auch eine allgemeine Müdigkeit eintritt, was die ganzen Maßnahmen betrifft. Der Chor der Stimmen, die gegen diese Maßnahmen jetzt protestiert, wird ja auch immer lauter. Auch da könnte ich mir vorstellen, dass vielleicht gewisse Lockerungen, dass man jetzt vielleicht eher mal auf eine Party geht oder eben gerade im Sommer vielleicht auch nicht nur Urlaub von Zuhause macht, sondern eben auch Urlaub von den Präventionsmaßnahmen, dass das vielleicht in der jüngeren Altersgruppe ausgeprägter ist, die ja auch einfach ein viel geringeres Risiko hat, schwer zu erkranken. Das sind alles Faktoren, die ich mir da vorstellen könnte.
Eine Frau trägt eine Maske zum Schutz gegen das neuartige Coronavirus, während sie auf einer Bank sitzt und die Bildzeitung liest.Die Titelschlagzeile lautet: "Heute Corona-Kehrtwende!".
Die Heidelberg-Studie von Mai 2020
Wissenschaft findet meist eher im Verborgenen statt. In Coronazeiten ist das anders. Studien-Ergebnisse wie etwa die zum Infektionsrisiko von Kindern aus Heidelberg werden umgehend öffentlich diskutiert. Zwar fesselt dieser Streit das Publikum, aber was bedeutet das für die Wissenschaft?
"Vorsichtig sein mit Daten aus der ersten Jahreshälfte"
Krauter: Jetzt haben ja bisherige Studien, die sich mit der Rolle von Kindern und Jugendlichen speziell befasst haben, meistens zu den Ergebnissen geführt, die sind kein Treiber des Infektionsgeschehens. Das war das Ergebnis der sogenannten Heidelberg-Studie vom Juni, für die 2.500 Kinder und Eltern in Baden-Württemberg untersucht worden waren, und das war auch das Ergebnis einer Studie mit über 2.000 Schulkindern in Sachsen, die im Juli präsentiert worden ist. Sind denn diese Befunde von damals, also Kinder und Jugendliche spielen keine große Rolle beim Infektionsgeschehen, im Lichte der neueren Erkenntnisse und Entwicklungen noch haltbar aus Ihrer Sicht?
Eckerle: Ich glaube, da muss man sehr vorsichtig sein mit den Daten, die man in der ersten Hälfte des Jahres gewonnen hat. Man hat tatsächlich zunächst nur einen geringen Anteil an Kindern gesehen, man weiß aber inzwischen auch, dass eben Kinder in der Regel nur sehr mild oder auch asymptomatisch infiziert sind, das heißt, die sind bei den ganzen Studien, die durchgeführt wurden, einfach unter dem Radar geblieben. Zu den beiden Studien, die Sie jetzt genannt haben, muss man sagen, das waren Studien, die durchgeführt wurden zu einer Zeit, als der Lockdown gerade eben frisch aufgehoben wurde und wir erfreulicherweise ja eine sehr, sehr geringe Viruszirkulation hatten. Das heißt, diese Kinder waren in der Zeit davor sehr lange nicht in der Schule, waren zu Hause mit ihren Eltern, und es gab zu dieser Zeit eigentlich kaum Viruszirkulation in Deutschland, das heißt, die sind in einem vollkommen anderem Setting entstanden, als wir das im Moment haben. Deswegen glaube ich, dass diese Studien uns im Moment keine gute Orientierung für die nächsten Monate liefern können, weil die einfach in so einer ganz besonderen Situation entstanden sind, die wir jetzt nicht mehr haben. Wir haben jetzt eine höhere Inzidenz, wir haben Viruszirkulation in allen Altersgruppen, vor allem eben auch in den jungen Altersgruppen, und wir öffnen jetzt die Schulen mit einer ganzen Bandbreite an Maßnahmen oder eben Nicht-Maßnahmen, das heißt, das Risiko, dass es da eben zu Infektionsketten kommt, ist natürlich viel, viel höher als im Juni oder Mai, direkt nach dem Lockdown.
Im Winter "viel Zeit in Innenräumen"
Krauter: Die Gesellschaft für Virologie hat vor gut zwei Wochen eine Stellungnahme herausgegeben zu diesem Thema. Sie haben mitgeschrieben an dieser Stellungnahme vom 6. August, und da steht unter anderem drin, erstens, Kinder infizieren sich etwa gleich häufig wie Erwachsene, zweitens, die Viruslast bei Kindern ist ähnlich wie bei Erwachsenen, und drittens, unklar ist noch, ob Kinder genauso ansteckend sind wie erwachsene Infizierte. Welche Konsequenzen sollen wir aus all dem jetzt ziehen, was folgt daraus ganz konkret für die Praxis in den Schulen, Kitas und Kindergärten?
Eckerle: Wichtig ist, um einfach noch mal auf den Begriff zurückgekommen – Sie hatten ja schon den Treiber der Infektionen genannt, dafür haben wir im Moment keinen Anhalt, aber wir müssen einfach auch sehen, dass die Daten, die wir haben, die sind nicht zuverlässig, weil wir einfach diese große Menge an asymptomatischen Kindern verpassen. Selbst wenn man jetzt sagt, Kinder sind keine Treiber, dann nehmen sie trotzdem am Infektionsgeschehen teil, und ich glaube, das ist eine ganz wichtige Nachricht. Für die Schulen ergibt sich eben daraus, dass man eben jetzt antizipieren muss, dass wir uns in den Winter reinbewegen, dass wir uns eventuell in eine Phase bewegen, wo wir noch mehr Fallzahlen haben, wo wir viel Zeit in Innenräumen verbringen müssen.
Ich denke, man muss jetzt die Grundsettings sozusagen schaffen, wie wir durch diesen Winter kommen wollen mit offenen Schulen, weil ich glaube, es ist allen klar, dass es nicht wieder zu Schulschließungen kommen soll. Die negativen Auswirkungen für die Kinder, für das Wohlbefinden der Kinder, für die Familien, aber natürlich auch für die Unternehmen, für die Arbeitnehmer, die waren immens, und die möchte man auf jeden Fall vermeiden. Ich glaube aber, je wichtiger es einem ist, dass man die Schulen offen hält, umso wichtiger ist es, dass man jetzt eben geeignete Präventionsmaßnahmen ergreift und versucht, eine Strategie zu entwickeln, was passiert, wenn ich einen positiven Fall habe, wer muss in Quarantäne, wie werde ich das kommunizieren, wie werden die Eltern involviert, wie werden die Lehrer involviert, wen muss ich alles testen, also dass man eben diese Szenarien im Vorfeld schon durchspielt, damit es nicht am Schluss zu einer Panikreaktion kommt und man dann eben wieder die Schulen schließen muss, weil man sich nicht auf diese Situation vorbereitet hat.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
"Aerosolübertragung noch nicht so gut berücksichtigt"
Krauter: In dieser eben schon erwähnten Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie, da werden schon einige sehr konkrete Punkte genannt. Da steht drin, konsequentes Tragen von Alltagsmasken in allen Schuljahrgängen wäre ratsam, auch während des Unterrichts. Da steht auch drin, wir brauchen eine umfassende Teststrategie, die Schülern und Lehrerinnen garantiert, dass 24 Stunden nach Probenahme auch ein Befund da ist. Und da wird auch drauf abgehoben, dass sofortige Kurzzeitquarantäne nötig wäre, wenn zum Beispiel in einem Klassenverband positive Fälle auftreten. Wenn Sie sich jetzt anschauen, was in Deutschland im föderalen Flickenteppich so alles passiert, haben Sie das Gefühl, dass diese Empfehlungen da schon angekommen sind an der Basis?
Eckerle: Ich glaube zum Teil, über die Masken wurde ja viel gesprochen, ich glaube aber, viele andere Punkte, die jetzt auch gerade relativ neu dazugekommen sind, zum Beispiel diese Aerosolübertragung, dass die noch nicht so gut berücksichtigt werden. Ich glaube, das liegt auch daran, dass man jetzt sehr lange sich ein bisschen auf diesen Daten der ersten Jahreshälfte, sag ich mal, ausgeruht hat, weil man immer gesagt hat, na ja, die Kinder, die spielen schon keine Rolle, und die Schulen, das kann man jetzt einfach so alles wieder aufmachen. Ich glaube, wenn man sich die Daten genau anguckt, dann sieht man, dass man da einfach aufpassen muss. Und was jetzt einfach immer klarer wird: Je mehr und je länger sich mehrere Menschen in einem geschlossenen Innenraum aufhalten, desto höher ist das Risiko für eine Übertragung, und das ist eben genau das, was in der Schule passiert. Da sitzen 20, 30 Schüler in einem Klassenraum über sechs, sieben Stunden, das ist natürlich ein Risikoszenario, und da muss eben ein ganzes Paket aus Maßnahmen ergriffen werden. Ein ganz wichtiger Punkt ist sicher die verbesserte Luftzirkulation, es gibt einfach jetzt Hinweise drauf, dass das Virus eben auch über die Luft übertragen wird, und dann wären auch die Masken kein hundertprozentiger Schutz, und da muss es einfach Konzepte geben. Das ist aber zum Beispiel auch was, was nicht aus den Infektionswissenschaften kommen kann, sondern wo die technische Expertise von anderen Bereichen miteinbezogen werden muss. Da gibt es sicher eine große Expertise, die da Empfehlungen geben kann, wie oft man lüftet, wie groß der Raum sein muss, um den Luftaustausch gut zu gewährleisten, wie viele Kinder denn sich in einem Raum aufhalten sollten. Da gibt es, glaube ich, ganz viele Strategien, die man wahrscheinlich ohne extrem großen Aufwand sehr effektiv umsetzen könnte und die wahrscheinlich den Unterschied machen, ob man eben gut durch den Winter kommt oder ob man dann Fälle an der Schule hat und die Schule wieder schließen muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.