Nicht weniger als vier Stücke hat Regisseur Sebastian Nübling in seinen knapp vierstündigen Crash-Kurs in klassischer Mythologie einbezogen. Und auch wer auf gelegentliche Blitzlichter wartet, die der theatralische parforce-Ritt durchs klassische Werksgebäude erbringt, wird nicht enttäuscht. Freilich: die Mythenschau ist monströs und der Schnelldurchlauf vergröbert die Konflikte fast zwangsläufig. Klar ist: "Familie" war und ist über zweieinhalbtausend Jahre und mehrere Generationen hinweg ein Synonym für Schicksal, Fluch und Fatum: Alle klagen. Alle haben Grund zu klagen. Alle rechtfertigen sich. Keiner macht was falsch – und am Ende sind fast alle tot. Nur die Technokraten bleiben übrig. Ödipus' buchhalterisch-brave Tochter Ismene, eine selbstgerechte Opportunistin, und der Machtmensch Kreon, der Bruder Iocastes, die Ödipus' Mutter war und seine Frau. Und natürlich der wankelmütige Chor der Wechselwähler. Hier zeigt Nübling, was er kann, wenn er zu Figuren oder Themen einen Zugang hat: Die Auguren und Orakel der archaischen Zeit waren nichts anderes als die frühe Form der Medien, die das Schicksal, von dem sie kündeten, erst eigentlich herstellten. Und das Pendant zu dem, was im antiken Drama der Chor war, sind heute Fan-Gruppen, Groupies und Hooligans, eine manipulierte und manipulierende Masse.
Ein stampfender, rhythmisch zuckender, sich zusammenballender, wieder auseinanderfallender und sich neu formierender Schwarm, der von Fall zu Fall die Idole wechselt, an die er sich anlagert. Bis Parteigänger aus ihnen werden, ununterscheidbar zusammengesetzt aus bewegten Figuren und linientreu eingekleideten, lädierten Schaufensterpuppen. Diese Disko-Volk-Massenszenen sind die beweglichsten, bewegendsten und politisch aufschlussreichsten Elemente der Inszenierung. Gerade da, wo sie erst die Klage einer Figur, einer Stimme, gebetsmühlenartig wiederholen und sie schließlich übertönen, vernichten – das Einzelschicksal brüllend ausblenden.
Die virtuosen Chor-Szenen machen freilich schlagartig klar, was der guide der guided tour nicht vermochte und fast kommentarlos verschwieg : die enormen Spannungen in und zwischen den wuchtigen Theater-Figuren psychologisch und mythologisch auszuloten. Viel wuchtiger Text wird einfach wie bildungsbeflissen abgespult, viel und deklamatorisch über Leid, Schmerz und Hass gesprochen. Entstehen konnte keines dieser Gefühle auch nur für Augenblicke. Ödipus hält sich an zwei Blindenstöcken fest, kriegt Klötze untergeschoben, damit er als Unglücksverursacher an Größe gewinnt, und stottert seine Unschuldsbeteuerungen ins Leere. Iocaste versucht Frieden im Ton eines Philosophie-Einführungskurses zu stiften. Ismene, Antigones angepasste Schwester ist farb- und kraftlos. Antigone schlüpft erst mit Pappi Ödipus in ein Riesenkleid und läuft später in kindlichem Trotzkopfgebaren gegen Wände, ohne dass sich Türen des Interesses an ihr öffneten. An heiklen Stellen begnügt sie sich damit, zu schreien oder zu quieken. Von der ihr eigenen Mischung aus Aufrichtigkeit und Kalkül keine Spur. Alle anderen brüllen unisono, und Teiresias geistert als grinsende Charge seiner selbst durchs Gebäude. Dieser Inszenierung gelingt es, das Theater, das der gängigen Lesart nach am Anfang der europäischen Kultur stand, das Theater als Kraftwerk der Gefühle, fast totzumachen.
Die hinteren Reihen des Zuschauerpodests in der Zürcher Schiffbau-Halle leerten sich schon vor dem Ende der Aufführung bedenklich: Man weiß ja, dass Ödipus und seine Kinder in die Falle eines grausam-selbst-gemachten Schicksals gehen und dass es kein Entkommen gibt. Wozu das Ende abwarten, wenn der doppelte Boden fehlt und man selbst in der post-freudianischen Ära nichts begreift von dieser perfiden, undurchdringlichen Mischung aus Vorsehung und blindwütiger Selbsterfüllung, die einst das Handlungsgeflecht zum Mythos verdichtet hat.
Ein stampfender, rhythmisch zuckender, sich zusammenballender, wieder auseinanderfallender und sich neu formierender Schwarm, der von Fall zu Fall die Idole wechselt, an die er sich anlagert. Bis Parteigänger aus ihnen werden, ununterscheidbar zusammengesetzt aus bewegten Figuren und linientreu eingekleideten, lädierten Schaufensterpuppen. Diese Disko-Volk-Massenszenen sind die beweglichsten, bewegendsten und politisch aufschlussreichsten Elemente der Inszenierung. Gerade da, wo sie erst die Klage einer Figur, einer Stimme, gebetsmühlenartig wiederholen und sie schließlich übertönen, vernichten – das Einzelschicksal brüllend ausblenden.
Die virtuosen Chor-Szenen machen freilich schlagartig klar, was der guide der guided tour nicht vermochte und fast kommentarlos verschwieg : die enormen Spannungen in und zwischen den wuchtigen Theater-Figuren psychologisch und mythologisch auszuloten. Viel wuchtiger Text wird einfach wie bildungsbeflissen abgespult, viel und deklamatorisch über Leid, Schmerz und Hass gesprochen. Entstehen konnte keines dieser Gefühle auch nur für Augenblicke. Ödipus hält sich an zwei Blindenstöcken fest, kriegt Klötze untergeschoben, damit er als Unglücksverursacher an Größe gewinnt, und stottert seine Unschuldsbeteuerungen ins Leere. Iocaste versucht Frieden im Ton eines Philosophie-Einführungskurses zu stiften. Ismene, Antigones angepasste Schwester ist farb- und kraftlos. Antigone schlüpft erst mit Pappi Ödipus in ein Riesenkleid und läuft später in kindlichem Trotzkopfgebaren gegen Wände, ohne dass sich Türen des Interesses an ihr öffneten. An heiklen Stellen begnügt sie sich damit, zu schreien oder zu quieken. Von der ihr eigenen Mischung aus Aufrichtigkeit und Kalkül keine Spur. Alle anderen brüllen unisono, und Teiresias geistert als grinsende Charge seiner selbst durchs Gebäude. Dieser Inszenierung gelingt es, das Theater, das der gängigen Lesart nach am Anfang der europäischen Kultur stand, das Theater als Kraftwerk der Gefühle, fast totzumachen.
Die hinteren Reihen des Zuschauerpodests in der Zürcher Schiffbau-Halle leerten sich schon vor dem Ende der Aufführung bedenklich: Man weiß ja, dass Ödipus und seine Kinder in die Falle eines grausam-selbst-gemachten Schicksals gehen und dass es kein Entkommen gibt. Wozu das Ende abwarten, wenn der doppelte Boden fehlt und man selbst in der post-freudianischen Ära nichts begreift von dieser perfiden, undurchdringlichen Mischung aus Vorsehung und blindwütiger Selbsterfüllung, die einst das Handlungsgeflecht zum Mythos verdichtet hat.