Freitag, 29. März 2024

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Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt.

Schwarz bleibt schwarz und weiß bleibt weiß. Und mit den Farben bleiben die Vorbehalte. Daran kann auch Stuart Hall so leicht nichts ändern. Über vierzig Jahre lang hat der in Jamaica geborene Vordenker der British Cultural Studies angeschrieben gegen die unverschämte Signalwirkung der Haut, gegen die verbreitete Unlust des Verstandes, hinter hell und dunkel anderes zu sehen als die Mythen von Rasse, Biologie oder gar der Ordnung der Schöpfung. Denn noch immer scheint es manchem, als umschließe eine andere Hautfarbe unweigerlich auch einen anderen, sprich: fremden und bedrohlichen Charakter. Der Rückschluss vom Äußeren auf das Innere, der Glaube, Menschen nach ihrer Hautfarbe bewerten und entsprechend behandeln zu können, ist die banale, aber wirksame Grundlage eines Denkens in rassischen Kategorien - in seinen extremen, gewalttätigen, aber auch seinen alltäglichen, ganz und gar unspektakulären Formen. Vor allem die Auswirkungen der letzteren Variante hat Stuart Hall als Jugendlicher in der damals noch britischen Kronkolonie Jamaika persönlich kennengelernt. Der strikte Gegensatz von Schwarz und Weiß wies den Bewohnern der Insel unerbittlich ihren Platz in der Gesellschaft zu. Die Hierarchie der Farben bestimmte das Leben der Jamaikaner nicht nur im öffentlichen Raum; sie drang auch ein in die intimsten Bereiche des privaten Lebens, kroch bis in die hintersten Winkel der Seele. Dazu Hall:

Kersten Knipp | 13.09.2000
    "Ich wurde in Jamaica vor dem Ende der kolonialen Periode geboren. Ich verließ Jamaica 1951 - unabhängig von Großbritannien wurde die Insel erst 1963. So spielte sich meine Kindheit und Schulzeit in einer durch und durch kolonial geprägten Umgebung ab. Die lokale Gesellschaft bestand aus einigen ortsansässigen Weißen, einer beträchtlichen, größtenteils gemischtrassigen Mittelschicht und einer zahlenmäßig sehr starken, meist schwarzen Landarbeiterklasse auf den Plantagen. Aber in einer kolonialen Gesellschaft wie dieser zählten die beiden großen Farbblöcke, also schwarz und weiß, viel weniger als die sehr feinen Farbabstufungen, die feinen Unterschiede zwischen denjenigen, die ein klein wenig dunkler und jenen, die ein klein wenig heller waren. Alles war auf die weiße Hautfarbe ausgerichtet, und je näher man an das Weiße und die physischen Züge und Charakteristika weißer Menschen herankam, desto höher stand man in der sozialen Hierarchie. Für einen jungen Menschen, der in derartigen Verhältnissen aufwächst, bedeutet dies, dass diese Klassifikationen der Klasse und Hautfarbe die gesamte Weltsicht bestimmen. Hinter meiner Familie stand also dieser imperiale, koloniale Hintergrund, und er bestimmte unser Leben. Ich möchte damit sagen, dass es dadurch für mich sehr schwierig ist, private, persönliche und familäre Gefühle von größeren sozialen, politischen und kulturellen Fragen zu trennen."

    Das Denken in rassischen Hierarchien ist ein Erbe kolonialer Willkür, entstanden in den großen Momenten der europäischen Expansion, während der weltumspannenden Eroberungszüge des 16., 17. Jahrhunderts. Noch heute bestimmte es zumindest unterschwellig unser Denken. Diesen eingefahrenen Stereotypen den Boden zu entziehen, allen Versuchen zuvorzukommen, die Dinge dieser Welt vorschnell auf ihr vermeintliches "Wesen" festzulegen, ist das zentrale Anliegen Stuart Halls und der von ihm mitbegründeten "Cultural Studies". Der jetzt im Hamburger Argument Verlag (http://www.argument.de) erschienene dritte Band mit Halls Essays zeigt es: Die "Cultural Studies" pflegen einen erweiterten Kulturbegriff: alle gesellschaftlichen und politischen Ereignisse gelten ihnen als kulturell grundiert. Unter diesem Blickwinkel interessiert sich Stuart Hall besonders für die kulturellen Entwicklungen in ethnisch gemischten Gesellschaften. Kulturelle Impulse, Hall bestreitet es nicht, gehen selbstverständlich auch von ethnisch homogenen Gesellschaften aus; im mindestens gleichen Maß entstehen sie aber auch in gemixten Gesellschaften, jenen also, die seit langem ein Miteinander unterschiedlicher ethnischer Gruppen kennen. Als besonders fruchtbar haben sich diese Mischformen bisher in den Ländern Südamerikas und der Karibik erwiesen - ausgerechnet jener Region, die sich die Vollstrecker des europäischen Eroberungswillens so gründlich wie kaum andere unterworfen hatten. Hall:

    "Ja, diese Länder, insbesondere Lateinamerika und die Karibik - nicht nur sie, aber sie in ganz besonderem Maß - sind eine Art Prototyp, denn sie sind das Resultat dieses Synkretismus zwischen unterschiedlichen kulturellen Einflüssen. Sie sind deshalb keine reinen Kulturen, haben keine kontinuierliche Geschichte, die exakt auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen wäre. Sie stellen eine Fertilization, eine Mischung verschiedener Kulturen dar. Als ich zum ersten Mal nach England kam, betrachtet man dies als eine Schwäche; alle sagten, das Problem der Kariben sei, dass sie nicht wüssten, wer sie sie seien. Aber durch ein merkwürdige Laune des Schicksal, durch die Folgen der Globalisierung sehen mittlerweile immer mehr Orte so aus wie diese Flecken in der Karibik. London etwa ist eine durch und durch multikulturelle Metropole. Man braucht nur in irgendeine lokale Schule zu gehen, und man sieht Schüler aus 25 oder 30 verschiedenen Ländern - und alle bezeichnen sich als Bürger Londons. So ist es amüsant und kaum überraschend für mich, dass nun auch die westlichen Metropolen, die großen Städte Europas und Nordamerikas, kulturell hybride, synkretistisch werden. Wenn sie etwa an die Jugendkultur in einer Stadt wie London denken: Sie ist massiv vom Ausland beeinflusst, von Weltmusik, vom kreativen Beitrag junger Afrokariber, von indischer, benghalischer cross-rythm-Musik. Es ist eine unglaubliche Mischung hybriden Ferments, und genau das ist das kreative daran."

    Doch Hall studiert diese ästhetischen Effekte nicht um ihrer selbst willen. Mehr noch interessieren ihn deren politischen Dimensionen. Denn längst kennt die breitgefächerte Gesellschaft des Spätkapitalismus nicht nur eine, sondern zahllose, miteinander konkurrierende kulturelle Ausdrucksformen. Aufgefächert in ungezählte Spielarten, ist Kultur viel mehr als bloßes Schmuckwerk der sozialen Wirklichkeit; vielmehr ebnet sie auch den politischen Ansprüchen ihrer Produzenten den Weg. Paradox formuliert: Kultur ist mehr als nur Kultur - sie ist ein Vehikel sozialer Repräsentation, ein Mittel, sich selbst, den eigenen Erfahrungen, öffentlich Ausdruck zu verleihen, ihnen gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen. Denn nur wenn ich mit meiner eigenen Stimme spreche, kann ich sichergehen, meinem Anliegen eine adäquate Sprache zu verleihen; tun dies andere für mich, erzählen sie meine Geschichte, werden sie ihr unweigerlich einen missverständlichen Ausdruck verleihen, wird sich ihre Sicht der Dinge in den Vordergrund schieben - selbst wenn sie es noch so gut meinen. Aber meistens, die Geschichte des Kolonialismus hat es gezeigt, meinen sie es nicht gut. So stülpten die Eroberer den Erfahrungen der Eroberten ihre eigenen Ausdrucksformen über, kleideten sie in eine absichtsvoll missverständliche, apologetische Form. Deshalb ist auch in den Tropen die Geschichte immer die Geschichte des Stärkeren. Diese historische Lektion des Kolonialismus im Hinterkopf, fordert Hall auch für die Randgruppen der Gegenwart ein Recht auf eigene Ausdrucksformen:

    "Es ist das Recht, sich selbst zu repräsentieren, das Recht, ein eigenes Verständnis seiner Geschichte zu präsentieren. Wir haben erkannt, dass andere Menschen deine Geschichte nicht für dich erzählen können; das war eine frühe, apologetische Illusion der Weißen. Die Weißen dachten, sie bräuchten nur rauszugehen, einen schwarzen Informanten zu befragen und dann die Wahrheit über diese andere Gesellschaft zu schreiben - in einer Art, in der der Informant nicht schreiben könnte. Aber wir wissen inzwischen, dass in dieser Art der Geschichtsschreibung der weiße Historiker seine Auffassung der fremden Gesellschaft direkt auf seinen Informanten projiziert. Wir beanspruchen deshalb, selbst die Autoren unserer Geschichten, unserer Identität zu sein. Am deutlichsten findet dies Ausdruck in den Künsten, in der Musik, vor allem der populären Musik. Denn die Künste sind ein Weg, nicht nur eine schwarze Identität auszudrücken, eine Identität, die bereits geformt ist; vielmehr erkunden und entdecken sie auch, was Schwarzsein im Europa des 21. Jahrhunderts bedeuten könnte. Die Art, sich die Zukunft auszumalen, bedeutet nichts anderes, als die Vergangenheit neu zu beanspruchen. Und genau deshalb engagiere ich mich auch sehr in den visuellen Künsten, deswegen müssen sich schwarze Künstler selber ins Bild setzen, müssen sie das British Empire, müssen sie Britanien, Afrika, Jamaika mit eigenen Augen betrachten und deren Geschichte von ihrem Standpunkt aus erzählen. Ich behaupte nicht, dass das den Geschichten einen höheren Wahrheitsanspruch beschert. Ich meine auch nicht, dass sie die einzige erzählenswerten Geschichten seien. Aber diese Geschichte müssen ihren Platz neben den anderen Geschichten einnehmen."

    Ein anspruchsvolles Programm. Die unterschiedlichen Deutungen nicht nur der Geschichte, sondern auch der Gegenwart werden nicht nur auf Zustimmung stoßen. In der Provinz nämlich - also im Leben der Bevölkerung außerhalb des theoretischen Einzugsgebiets der Cultural Studies - geht bisweilen noch alles seinen gewohnten Gang. Zuviel Buntheit, zuviele unterschiedliche Repräsentationsformen, das wissen die meisten Menschen nur zu gut, würde ihr Leben nur durcheinanderbringen. Ist Halls Programm deshalb nicht vor allem eine theoretische Kopfgeburt? Wie weit verträgt die Gesellschaft eine Aufsplitterung der Lebensformen, inwieweit ist sie in der Lage, das von Hall umrissene Projekt unterschiedlichster Repräsentationsformen überhaupt zu verkraften? Dazu der Autor:

    "Vollständig ist es vielleicht nicht möglich. Aber ich denke, es zunächst in eine intellektuelle, theoretische Sprache gekleidet zu haben. Es ist wohl die Art, in der immer mehr Menschen in der modernen Welt leben werden. Ich würde zustimmen, wenn man sagen würde, dies gelte für die Cities, die großen Städte eher als für die ländlichen Gegenden der Welt. Auf dem Land geht das Leben langsamer voran, dort gibt es nicht so viele potentielle Arten der Lebensführung, es gibt viel mehr Bindung an den Ort, an dem man begonnen hat. Ich glaube, dass die Art, in der jemand seine Identität lebt, auf dem Lande langsamer ist, dass die gegenseitige Durchdringung der unterschiedlichen Lebensstile dort viel langsamer vonstatten geht. Aber in den Städten, glaube ich, lebt fast jedermann in mehr als einer Welt. Man lebt in der Welt des eigenen Heims, welche nicht die der Arbeit ist. Wenn man zur Arbeit geht, setzt man seine Arbeitsmiene auf, man erwartet nicht, dass einen die Kollegen so behandeln wie die Freunde, man erwartet nicht, dass einen die Eltern so behandeln wie der Vorgesetzte. Man sieht also, wir verkehren die ganze Zeit zwischen verschiedenen Welten, und wir finden einen Weg, in diesen verschiedenen Ort einen Raum für uns selbst zu errichten. Und möglicherweise beherrschen Immigranten diese Techniken besser als die, die eine lange Zeit an einem einzigen Ort gelebt haben."

    Halls Essays sind nicht nur theoretisch elegant. Sie sind auch politisch notwendig. Sie können dazu beitragen, die Spannungen und Konflikte multikultureller Gesellschaften wenn nicht zu lösen, so doch zu mindern. Die Welt rückt eng zusammen, und die alten Vorstellungen eines ethnisch sauber aufgeteilten Erdballs haben ihre Berechtigung schon längst verloren. Man wird sich an neue Spielregeln des Zusammenlebens gewöhnen müssen. Noch gehören Halls Überlegungen zur theoretischen Avantgarde. Bald werden sie politisches Allgemeingut sein.