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Czernowicz

1990 begann einer der ersten kühnen Neugierigen, der Historiker Karl Schlögel, einen Essay mit groß orchestriertem Einsatz: "Czernowitz gibt es wirklich", hieß es da. Das war damals eine mit großem Staunen vorgetragene Erkenntnis. Seither ist jedoch einiges passiert. Nach dem Ende der Sowjetunion konnte man, wenn man es unbedingt wollte, aus dem Westen wieder in diese mythisch gewordene Stadt fahren.

Von Helmut Böttiger | 24.03.2006
    Sie war jahrzehntelang militärisches Speergebiet gewesen und hieß mittlerweile Tscherniwzi, an der ukrainischen Grenze zu Rumänien. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die Bevölkerung dieser Stadt nahezu vollständig ausgelöscht, mehr als ein Drittel davon waren Juden gewesen, und sie hatte in der Erinnerung als multikulturelle Perle der Bukowina, dem Kronland am äußersten Ende des Habsburgerreichs, zu funkeln begonnen, am Rande der podolisch-wolhynischen Steppe. In der deutschen literarischen Welt erlangte sie dann allmählich als ferne, unbekannte Geburtsstadt Paul Celans eine oft raunend, beschwörende Bedeutung.

    In den neunziger Jahren gab es zunächst waghalsige, dann zögernde und schließlich größere Breitenwirkung erlangende Versuche, im ukrainischen Tscherniwzi, einer Industriestadt mit 250 000 Einwohnern, das alte Czernowitz zu erhaschen. Irgendwann, nach den ersten, abenteuerlichen Individualrecherchen, setzten auch geführte Touristenreisen von spezialisierten Veranstaltern ein. Die Anlaufpunkte dieser Erkundungsfahrten sind inzwischen in etlichen Zeitungsartikeln beschrieben worden. Da ist zum einen Peter Rychlo, der ausgezeichnet Deutsch spricht, sich als Dozent für Weltliteratur an der Universität früh für die Literatur der Bukowina interessierte und ein Bukowina-Institut aufgebaut hat; es widmet sich der lange an den Rand gedrängten Geschichte der Stadt auch außerhalb der russischen und ukrainischen Strömungen. Da ist zum anderen der betagte Josef Burg, ein auf Jiddisch schreibender Dichter, der in den fünfziger Jahren aus dem Osten Russlands hierher gezogen ist. Und die einfühlsamen Filme von Volker Koepp haben unter anderem "Herrn Zwilling und Frau Zuckermann" ins Bild gesetzt, zwei überlebende deutschsprachige Juden, deren habsburgische Sprachfärbung für die spät nach Czernowitz reisenden jungen Spurensucher eine wundersame Aura entfaltete. Es gibt auch bereits einige Stipendiaten und DAAD-Lektoren, die das heutige Czernowitz aus eigener Anschauung kennen und historische Probebohrungen unternehmen, alte Kanaldeckel aus der habsburgischen, der rumänischen und der sowjetischen Zeit fotografieren und die Czernowitz-Nostalgie westlicher Besucher mit der ukrainischen Gegenwart zusammendenken können.

    Der großformatige, mit vielen Bildern versehene Band, den Helmut Braun nun herausgibt, wirkt wie einer von vielen möglichen, vorläufigen Abschlüsse dieser historischen Rekonstruktionsphase. Er geht nicht auf alle Aspekte dessen ein, was Czernowitz mittlerweile bietet, besticht aber durch zwei Aufsätze, die zusammenfassen, was die Forschung über die "untergegangene Kulturmetropole", wie es im Untertitel heißt, bisher zutage gefördert hat. Peter Rychlo beschreibt "Czernowitz als geistige Lebensform" und stellt die verschiedenen sprachlichen und ethnischen Traditionen, die diese Stadt geprägt haben, gleichberechtigt nebeneinander. Das unterscheidet sich wohltuend von national geprägten Erkenntnisinteressen, von deutschen Nostalgikern wie von sowjetischen Ideologen. Es ist noch längst keine Glorifizierung einer vermeintlich multikulturellen Idealwelt, wenn er sachlich konstatiert: Die Zeitungen erschienen in sechs Sprachen - Deutsch, Ukrainisch, Rumänisch, Polnisch, Jiddisch, Hebräisch - und in drei Schriften: mit lateinischen, kyrillischen und hebräischen Buchstaben. Es gab zahlreiche Konfessionen und dementsprechend verschiedene Kirchenbauten.

    Rychlo stellt fest, dass die "eigentliche Geschichte" 1774 mit der Eingliederung ins Habsburgerreich begann. Die Möglichkeit, vielfältigste kulturelle Erscheinungsformen auf engstem Raum in der Waage zu halten, war eng an dieses Reich geknüpft. Dass das gebildete Judentum die Stadt prägte, steht außer Frage: es hob sich durch die deutsche Sprache von der Jiddisch sprechenden jüdischen Orthodoxie ab, durch seine Identitätssuche in der deutschen Hochkultur aber auch von der deutschen Landsmannschaft, die zum literarischen Leben der Stadt so gut wie nichts beitrug. Wie man die Spätblüte der deutschsprachigen Literatur in Czernowitz zwischen 1918 und 1945 inhaltlich bewertet, wäre eine eigene Untersuchung wert; Rychlo stellt das Material und Diskussionsansätze dazu bereit: die Bukowina gehörte zu Rumänien, und das Deutsche wurde hier zu einer Sprachinsel, die von der dynamischen Entwicklung dieser Sprache in ihren Zentren abgeschnitten war und eine teils provinzielle, teils rückwärtsgewandte, aber auch nervöse und verfeinerte Poesie hervorbrachte. Außer Paul Celan hat kaum einer dieser Dichter und Dichterinnen eine Relevanz, die über die Ausgangsbedingungen hinausgeht, als kulturgeschichtliches Phänomen sind sie jedoch in jedem Fall aufschlussreich.

    Die Historikerin Mariana Hausleitner widmet sich anschließend detailliert der Geschichte der Bukowina vom 18. bis zum 20. Jahrhundert: die wechselnden Strömungen und Dominanzen, die Herausbildung eines spezifischen genius loci, die Radikalisierung, die nationalsozialistische Katastrophe und den Neubeginn nach 1945, als die Stadt vor allem von besitzlosen Schichten aus der Ostukraine neu bevölkert wurde. Was 1990 noch wie eine terra incognita wirkte, die Besonderheit des Schauplatzes Bukowina, erscheint jetzt schon ausgiebig erforscht. Herausgeber Helmut Braun, ein Rose Ausländer-Spezialist, und Othmar Andrée variieren mit ihren Texten über die Czernowitzer Dichter und den Mythos Czernowitz die beiden großen Aufsätze am Beginn des Buches, zusätzlich sind Preziosen von Alfred Kittner, Gregor von Rezzori und von Albert Londres in das Buch aufgenommen. Zusammen mit den alten Ansichtskarten und nachkolorierten Fotografien entsteht so ein Bild von Czernowitz, das der Nostalgie einerseits durchaus nachgibt, sich aber durch die differenzierteren Texte auch absichert. Platz genug für weitere Studien und Reportagen hinterlässt dieser Band durchaus.

    Das neue Czernowitz, bis in die Tage der "orangenen Revolution" vom Herbst 2004, wird in einem Artikel des dort lebenden Journalisten Bohdan Zahajskij behandelt. Die chaotische Zeit eines Anarchokapitalismus in den ersten Jahren nach der ukrainischen Unabhängigkeit tritt dabei deutlich ins Licht. Der Widerstreit zwischen sich beschleunigender Marktwirtschaft und der Besinnung auf ein potenzielles "Weltkulturerbe" taucht aber eher zwischen den Zeilen auf. Der alte habsburgische Stadtkern, über Jahrzehnte hinweg unangetastet, ist zum Teil kaum noch zu retten. Die Tourismus-Industrie scheint aber immerhin ein Bewusstsein für das besondere Kapital zu schaffen, das in Tscherniwzi schlummert.

    "Czernowicz"
    Von Helmut Braun (Hrsg.)
    (Steidl Verlag)