"Hündchen am Wegesrand" - wie ein wacher Gedanke, der uns unterwegs plötzlich begegnet, um die Umgebung zu warnen. Schau, hier kommt ein Fremder, dessen fremder Blick unsere Welt anders betrachtet, als wir es gewöhnt sind. Eine Gefahr für uns... "Hündchen am Wegesrand" heißt der letzte Band von Milosz, der in deutscher Übersetzung erschien. Milosz:
In unserem Kreis, wo ich lebte, gab es nur ein einziges Auto, das dem Grafen gehörte. Der Ort, wo wir lebten, lag 120 Kilometer von Vilnius entfernt. Mit dem Pferdewagen brauchte man für diese Strecke 2 bis 3 Tage lang. Man reiste damals lange. Es war eine sehr malerische Art die Welt zu entdecken.
Geboren am 30. Juni 1911 im litauischen Seteiniai als Sohn eines Straßenbauingenieurs, gehörte Milosz schon mit 20 zu den Gründern der avantgardistischen Poetengruppe "Zagary". Als eifriger Wanderer bereiste er Anfang der 30er Jahre mit einem Kanu Deutschland und die Schweiz. Nach dem Jurastudium und einem zweijährigen Aufenthalt in Paris arbeitete er beim polnischen Rundfunk, wo er seine Frau kennenlernte. Während der deutschen Besetzung war er für die Presse der Widerstandsbewegung tätig. Nach dem Krieg wurde Milosz zum Kulturattaché in Washington.
1951 gab der Parteilose Milosz seine kritische Solidarität mit den polnischen Kommunisten auf. Wegen der antikommunistischen Hysterie der McCarthy Ära musste er zunächst wieder in Paris Zuflucht suchen, während seine Frau mit beiden Söhnen in Amerika bleiben konnten. 10 Jahre hat er dort verbracht, bevor er an der Universität in Berkeley die Professur für Slavistik übernahm. Die monotone Arbeit der Lehre, dank der auch die Familie versorgt wurde, kompensierte er mit Lektüre. Ob Alttestament, Svedenborg, Kierkegaard, Schestov, ob sein Cousin Oskar Milosz, ein französischer Gnostiker,: die Lektüre sollte ihm die absurde Logik der Welt und die trivialen Grausamkeiten der Ismen, die er hautnah kennenlernte, erklären.
Czeslaw Milosz, der sich schon, bevor ich geboren war, auf die eigene Weltentdeckungsreise begab und auf der besserer Seite des Eisernen Vorhangs lebte, war für mich lange Zeit ein Unbekannter. Damals, als ich mich im Gymnasium fieberhaft mit der Literatur auseinandersetzte und selbst erste Gedichte veröffentlichte, waren alle polnischen Exil-Schriftsteller offiziell ein Tabu. Tot geschwiegen, existierten sie nicht. Das war die niederschmetternde Macht der Zensur: es gab keine Fotos und keine Texte von ihnen. Nur manchmal las man eine abwertende Zeile in der Zeitung. Milosz war ein Verräter besonderer Art. Der Grund des staatlichen Aburteilung war vor allem sein Buch, das das Psychogramm der Seele der damaligen Kommunisten entzifferte.
"Verführtes Denken" hieß seine Auseinandersetzung mit dem praktizierten Kommunismus, die exakt vorausgesagt hat, in welchen Konflikte diese Ideologie führen wird. Besonders in Polen. Milosz:
"Verführtes Denken", das war ein besonderes Abenteuer. Als das Buch in Paris 1953 erschienen ist, wurde es von der gesamten Emigration damals scharf kritisiert - als angeblich krypto-kommunistisches Buch. Aber dieses Buch hatte einen unglaublichen Einfluß in Polen. Obwohl nur wenige Intellektuellen hatten es gelesen. Das Buch war selbstverständlich verboten und seine Leser bestanden aus Zensoren und hochrangigen Parteibeamten. Bis heute denken manche Leute, dass Milosz komplizierte psychologische Rechtfertigungen für den Kommunismus dargestellt hatte, eine Art Stütze für die Machthaber. So waren die Urteile im Kalten Krieg, wenn man sich nicht entscheiden wollte, der einen oder anderen Seite zu dienen.
"Verführtes Denken" erschien in Polen erstmals fast 30 Jahre später - als handgemachter "Samisdat" in den berauschenden Monaten der Solidarnosz-Bewegung. Ich habe das Buch damals gekauft und über alle Wirren der vergangenen 20 Jahren gerettet. Jetzt liegt es vor mir: dicht in zwei Spalten gesetzt, mit einer winzig-kleinen Schrift bedruckte 60 A-4 Seiten in lachsroter Farbe. Kaum lesbar. Die schlechte Farbe ist fast verblasst. Die Inhalte aber haben an ihrer Aussagekraft nichts verloren, stelle ich mit Staunen fest. Die Umstände haben sich zwar geändert, und die damalige Ideologie ist tot. Das System abgeschafft, aber die Eigenschaften der Menschen, der Alfa-, Beta- oder Gammatypen, sind dieselben geblieben. Neuangepasst. Den neuen Zeiten zuliebe, sozusagen. Das stimmt nachdenklich.
Bis zum Exil war Milosz in Polen eine Persönlichkeit. Danach ist es still um ihn geworden. Bis zur Verleihung des Nobelpreises wurde er kaum wahrgenommen. Weder in Polen noch unter polnischen Emigranten. Wer liest schon Gedichte? Sogar in Berkeley wurde seine erste Lesung ein halbes Jahr nach dem Nobelpreis veranstaltet. Ich musste selbst erst ein ähnliches Schicksal eines Schriftstellers im Exil erleben, um zu begreifen, wie es ihn schmerzte, als er schrieb:
In einer komplexen Wechselbeziehung mit seinen Lesern erwirbt sich der Schriftsteller einen Namen, gleichgültig, ob er ein großes Publikum erreicht oder einen kleinen Kreis von Liebhabern. Er entwickelt ein Bild seiner selbst, so wie es sich in den Augen derer widerspiegelt, die auf seine Arbeiten reagieren. Wenn er emigriert, ist dieses Bild plötzlich zerstört. Er selbst wird zu einer anonymen Person. Er existiert nicht einmal mehr als Individuum, dessen Vorzüge und Schwächen seinen Freunden bekannt sind. Niemand weiß, wer er ist, und wenn er etwas in der Presse über sich liest, stellt er fest, dass die Angaben auf groteske Weise entstellt sind. Seine Demütigung ist direkt proportional zu seinem Stolz, und das ist vielleicht eine gerechte Strafe." (Ein Schriftsteller im Exil)
Er hatte Glück. Die gerechte Strafe wird seit nunmehr 20 Jahren durch eine enorme Genugtuung ersetzt. Wie eine Ikone wird Milosz in Polen seitdem bewundert, wie ein Prophet, ein Heiliger beinahe. Meine Landsleute haben die moralische Autorität in diesen Zeiten der rasanten Transformation nötig, aber Gott sei dank hat das Bild von Milosz mit der realen Person nichts viel gemeinsam. Mit zunehmendem Alter ist er irgendwie jünger, frecher geworden. Er versteht viel von der Gegenwart, aber versteht doch nicht alles, und dadurch lässt sich mit ihm trefflich diskutieren. Frisch verliebt und verheiratet, will er selbst seine männliche Seite nicht leugnen. Darüber schreibt er in seinem neuen Gedichtband, der gerade auf polnisch unter dem Titel "To" zu deutsch "Das" erschienen ist. Aber seine Gläubigen pflegen ihr eigenes Bild vom Nationaldichter. Und er fügt sich geschmeidig ein und genießt sichtlich den fortdauernden Ruhm.
Seit 10 Jahren hat er, der im heimatlichen Litauen längst ein Fremder ist, ein Haus in Krakau. Der Vielvölkerstaat Polen, in dem er 1911 geboren wurde, hat sich im letzten Jahrhundert so verändert wie kaum ein anderer Staat Europas. Nach dem Krieg gehörte Vilnius zur Sowjetunion und erst seit zehn Jahren ist sie die Hauptstadt des unabhängigen Litauen. Milosz wählte Krakau, weil Krakau Vilnius am ähnlichsten ist. Wie damals Vilnius ist Krakau auch eine magische Stadt mit unzähligen Kirchtürmen, eine Stadt, in der die Leute auf der Straße polnisch sprechen, was ihn, den Emigranten, der in mehreren Sprachen lebte, ständig wundert. Doch in Krakau ist er selten, Kalifornien ist ihm längst zur zweiten Heimat geworden.
Der weite Weg eines Menschen aus einem ländlichen Land, "wo das Heu nach Traum duftete", eines Jungen, der mit schlechtem Gewissen betete und mit gutem Gewissen nicht Kommunist sein konnte, der diesen Zwiespalt wachsen sah - zu Zeiten des Hitler-Stalin-Paktes, der Aufteilung Polens durch Deutschland und die Sowjetunion, zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs und auch danach. Ein Mensch, der immer Widerspruch gegen sich selbst einlegte, weil er gerecht sein wollte, der in den fünfziger Jahren in zwei Büchern seine Generation und sich selbst definierte: als Abtrünnige der Bibel. Was ist dieser Czes³aw Milosz heute? Ein Katholik, Ketzer und Konservativer zugleich. Milosz passt nicht zum heutigen Polen, und noch weniger passt er zu Westeuropa. Deshalb wunderte ich mich, dass so viele Menschen zu seinen Lesungen letztes Jahr in Berlin kamen. Was haben sie von ihm erwartet? Dass er ihnen noch mal sagt, dass Westeuropa seine geistige Basis - die Bibel - längst verraten hat? Oder vielleicht einen neuen Ausbruch moralischer Entrüstung, der ihm den Titel eines politischen Denkers bescherte? Nichts dergleichen. Milosz:
Die Zeiten, in denen wir leben, sind nicht einfach, aber wenn ich mich an meine Jugend erinnere, da waren sie schrecklich. Also muss alles nach den jeweiligen Verhältnissen beurteilt werden. Wir leben jetzt in einem Vakuum. Es ist meiner Meinung nach eine Situation, die an die Zeiten der Entstehung des Christentums und das Ende des Heidentums erinnert. Es gibt, allgemein gesagt, eine Erosion der religiösen Vorstellungskraft. Das ist jedoch ein Prozess, der noch sehr lange dauern kann, und er betrifft uns alle, nicht nur Polen und Osteuropa. Diesen Prozess muss die Kunst beschreiben. Das ist eine Frage der Perspektive und der Geschichtsschreibung. Seien wir bescheiden. So haben zum Beispiel Historiker 500 Jahre chinesischer Geschichte in einem Satz zusammengefasst: vom achten bis zum dreizehnten Jahrhundert gab es dort Unruhen. Punkt.
Es wird oft und fast floskelartig gesagt, dass die Schriftsteller in ihrer eigenen Heimat leben, nämlich in ihrer Sprache, egal, wo sie zu Hause sind. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Die Situation der aus dem eigenen Land verbannten Schriftsteller ist besonders schwierig: sie entscheiden sich für das Leben in der Fremde und gegen die Unfreiheit zuhause. Auf der andern Seite hat genau das auch der polnischen Literatur ein Überleben ermöglicht, weil sie von anderen Kulturen inspiriert, beeinflusst und bereichert wurde. "Neue Augen, neue Gedanken, eine neue Distanz: dass ein Schriftsteller all dies im Exil nötig hat, ist kein Geheimnis" schrieb er in seinem Essay "Ein Schriftsteller im Exil" Ob er jedoch sein altes Selbst überwinden kann, hängt von Kräften ab, deren er sich vorher nur sehr undeutlich bewusst war?
Ich war einst ein Exilschriftsteller, aber ich bin es jetzt nicht mehr. Heute allerdings entsteht eine andere Kategorie des Exilschriftstellers: eine Kategorie von Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen, aus familiären, finanziellen oder beruflichen, die Heimat verlassen und im Exil schreiben. Es gibt schon solche Bücher und das ist ein sehr interessantes Phänomen.
Eine Chance bestand für ihn darin, sagte er einmal, die Sprache zu wechseln, das heißt, entweder im wahrsten Sinne des Wortes in der Sprache des Landes zu schreiben, in dem er lebte, oder seine Muttersprache so zu gebrauchen, dass alles, was er schreibt, der neuen Leserschaft verständlich und nachvollziehbar erscheint. In diesem Augenblick aber müsste er aufhören, ein Exilierter zu sein:
Wenn es um mein Exil geht - ich habe meine Bindungen zur Sprache aufrecht erhalten, das ist sehr selten, und Jahrzehnte lang nur auf Polnisch geschrieben. Und ich würde nicht sagen, dass meine Sprache darunter gelitten hat. Vielleicht, wenn ich ein Romancier wäre, wäre das fehlende Alltagsleben mit all seinen Details ein großes Hindernis für mich gewesen. Ich glaube, dass die Emigration meine Sprachsensibilität verstärkt hat. Dadurch hat sich auch mein besonderes Interesse für altertümliche Formen entwickelt. Auch für Hebräisch und Altgriechisch. Aber das Exil hat mir vor allem eines gegeben: Distanz. Und ich meine damit nicht Nostalgie, sondern Distanz im allgemeinen. Mein Buch "Das Tal der Issa" ist ein Ergebnis dieser Distanz: sowohl zeitlich, wie auch räumlich. Simone Weil sagte, dass Distanz die Seele der Schönheit ist.
Aus der Distanz betrachte ich - seit Jahren, ähnlich wie er, eine Exilierte, von Geburt, ähnlich wie er, eine Fremde, das "Land Ulro". Auch dieses Buch habe ich vor 20 Jahren als "Samisdat" gekauft und schleppe es seitdem mit mir durch fremde Städte und gemietete Wohnungen. Das Land Ulro meint das Land der austauschbaren Menschen, was eine Anknüpfung an die Vision des Dichters und Malers William Blake ist, der das alles vorausgesehen hat. Die menschliche Vorstellungskraft muss sich von den Gesetzen der Mechanik befreien... Aus dem Nihilismus der exakten Wissenschaften vermag sonst niemand die Welt herauszuführen als die Bibel... Der Mensch ist ein ambivalentes Wesen. Umkehr ist die entscheidende Geste eines Wesens, das gespannt ist...
Ich lese die verblassten kleinen Buchstaben in meiner Muttersprache in einem fremden Land, und ich bin nicht ganz sicher, ob sie in dieser oder jener Sprache jemand hören will.
Als der Tod schon nahe war, dachte der Dichter bei sich: "Es gab wohl keine Obsession und keine törichte Idee meiner Zeit, in die ich mich nicht Hals über Kopf gestürzt hätte. Man sollte mich in die Wanne setzen, und mich so lange bürsten, bis der ganze Schmutz von mir abgewaschen ist. Und doch: gerade durch diesen Schmutz konnte ich ein Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts sein, und vielleicht wollte es der Herrgott so, damit ich Ihm von Nutzen sei. (Hündchen am Wegesrand)