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"Da muss ich wirklich meine Sprache anstrengen"

Wenn Kinder Peter Härtling fragen, ob das Schreiben für sie oder Erwachsene für ihn schwieriger sei, antwortet Härtling: "Es ist wirklich schwieriger, für euch zu schreiben". Tanya Lieske hat Härtling zuhause besucht.

08.05.2010
    Tanya Lieske: Am Mikrofon des Büchermarkts für Junge Leser begrüßt Sie: Tanya Lieske. Der Samstags-Büchermarkt kommt heute von unterwegs, ich sitze im Arbeitszimmer des Schriftstellers Peter Härtling bei ihm zuhause in der Nähe von Frankfurt. Herr Härtling, Sie leben hier seit 1974, waren davor in Berlin und Köln, sind geboren in Chemnitz, haben Kinderjahre in Tschechien, in Olmütz und Brünn in Mähren verbracht, sind zu Kriegsende mit Ihrer Mutter nach Niederösterreich geflohen, haben Ihre Jugendjahre in Nürtingen in Schwaben verlebt. Eine Biografie, die sich liest wie eine kleine Landkarte Deutschlands und der deutschen Geschichte, wie hat dieses rege Leben Sie geprägt, als Mensch, als Schriftsteller?

    Peter Härtling:
    Es war für ein Kind außerordentlich abenteuerlich und auch beängstigend.
    Bis zu meinem 13. Lebensjahr war Krieg. Die Städte, durch die wir gezogen sind, waren für mich jedes Mal ungeheuer aufregend und auch im nachhinein, wenn ich sie heute besuche, noch immer besonders schön, das war Dresden, die Stadt meiner Mutter, das war Brünn, die Stadt meines Vaters, und dann Olmütz, wo wir lebten, alte Städte mit einem wunderbaren Kern, auch in Dresden.

    Diese Erinnerungen an meine Kindheit sind deshalb sehr stark, weil meine Eltern sehr unterschiedlich waren. Meine Eltern...

    Wir flohen vor der Roten Armee aus Olmütz nach Niederösterreich in der Hoffnung, den Russen zu entkommen, wie das so schön hieß. Die Russen kamen uns aber nach und wir erlebten in der kleinen Stadt Zwettl, die ich bis heute begleite, und die mich bis heute begleitet, dort erlebten wir den Einmarsch der Roten Armee mit allem Drum und Dran, meine Mutter wurde vergewaltigt, es gab Typhus, wir spielten mit den sehr, sehr jungen Rotarmisten auf dem Eis. Die Schlittschuhe, die ich zu Weihnachten bekommen hatte, das war ein Geschenk wie vom Himmel gefallen. In dieser Zeit wurden die jungen Männer, die Zwettl lebten, gebeten, sich zu melden in die Gefangenschaft. Mein Vater meldete sich, sehr gesetzesbewusst und ordentlich, viele von den Männern verschwanden. Er kam ins Gefangenenlager und kam dort um.

    Wir fuhren dann mit einem Transport ins Reich, die Österreicher wollten die Reichsdeutschen los werden. Es war ein Transport in Viehwaggons, der ist mir unvergesslich, daraus entstand mein Kinderbuch "Krücke". Das gehört auch zu meiner Kindheit, dass ich oft erlebt habe, dass Menschen sterben. Wir kamen in Nürtingen in einem Städtchen an, das so wohlbehalten war, dass es uns die Sprache verschlug. Nürtingen war vom Krieg verschont geblieben, es waren keine Bomben gefallen, die Nazis waren noch da. In dieser Stadt nahm sich meine Mutter das Leben, weil sie nicht weiter konnte. Ich begann mit 14 zu schreiben. Ich hätte auch durchdrehen können, wie Kinder heute ... ich fing nicht an, zu schreien und nicht um mich zu schlagen, ich las wie ein Verrückter und ich sagte mir dann, das musst du auch können, du musst dich so ausdrücken können, du musst auch von dir erzählen, du musst auch von denen erzählen können, die nichts mehr erzählen, und so fing es an.

    Tanya Lieske:
    Sie haben geschrieben, Gedichte zuerst, dann Rezensionen als Feuilletonjournalist. Dann kamen die Romane, und dann, als Sie selbst Vater wurden, auch die Kinderliteratur. Ihr Debüt, "Der Hirbel", fällt in eine Zeit, in der sehr viel debattiert wurde, es ging um Emanzipation, es ging darum, alte Erzählmuster aufzubrechen, den Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, wie Sehen Sie diesen Diskurs heute?

    Peter Härtling:
    Er war wichtig und wirksam. Die Kinderliteratur war damals in einem Zustand, vor allem auch die übersetzte, den ich ärgerlich fand. Und so sagte ich mir, du musst dich wehren dagegen, du musst den Kindern etwas erzählen, was sie selber erfahren, du musst ihnen ihre Erfahrung in Zusammenhängen vermitteln. Ich lernte zum einen die Sprache der Kinder und zum anderen etwas ganz Wesentliches, die Perspektive. Die Perspektive der Kinder ist eine ganz und gar andere, an die man sich als Erzähler gewöhnen muss, die Dinge sind immer größer und alle unerklärt. Wer erklärt einer Zweijährigen, die hier ins Zimmer kommt, den Flügel, der hier steht? Das ist ein Wort, das sie ganz anders kennt. Einen Flügel hat ein Vogel, aber so ein dickes Ding aus Holz kann doch kein Flügel sein. Ich hab dann begonnen, auch eine Philosophie des Schreibens für Kinder zu entwickeln. Es ist grundsätzlich ein Schreiben über Anfänge, über Erstmaligkeiten. Über die erste Liebe, die erste Freundschaft. Über die erste Erfahrung, in ein Wasser zu gehen, zu schwimmen. Über die erste Erfahrung von Hass. Es sind lauter Erstmaligkeiten, und die bedeuten, wenn sie überwunden werden, Weltschöpfung. Und das ist genau ein Anlass zum Schreiben.

    Tanya Lieske:
    Ich versuche mich an einer kleinen Poetik. Es geht Ihnen darum, Anfänge zu schildern, es geht darum, die Größe der Welt zu schildern, es geht darum, die Verrätselung der Welt zu schildern. Sie tun all dies in einer sowohl reduzierten als auch poetischen Sprache. Ich vermute, dass der kreative Prozess nicht immer einfach ist, und dass Sie sehr lange an Ihren Texten sitzen.

    Peter Härtling:
    Ja. Wenn Kinder mich fragen, und das ist eine Grundfrage, schreibst du lieber für Erwachsene oder für uns, und dann pflege ich zu antworten, es ist wirklich schwieriger, für euch zu schreiben. Denn Kinder kennen keine Abstraktion. Wenn ich einen Roman schreibe, kann ich theoretisch werden, kann ich auch essayistisch werden. Bei Kindern muss ich konsequent erzählen, da muss ich auch Gedanken erzählen, da muss ich immer anschaulich bleiben, das heißt, da muss ich wirklich meine Sprache anstrengen, genau zu sein. Und das ist eine unglaublich gute Lehre für's Schreiben überhaupt.

    Tanya Lieske:
    Diese Poetik beinhaltet auch einen Genrebruch, einen Tabubruch, denn Sie pflegen das offene Ende, auch das traurige Ende. Sie sind dem auch treu geblieben in all den Jahren, warum?

    Peter Härtling:
    Ich will Kindern nichts vormachen. Ich kriege Hunderte von Briefen, im Lauf der Jahre sind es sogar Tausende, da kommt oder Vorwurf, warum schreibst du denn kein Happy End? Die Kinder schreiben dann Happy Ends, für den Hirbel, für die Oma, sie schreiben lauter schöne Schlüsse für die Bücher. Ich schreibe Ihnen dann zurück, ich finde es wunderbar, dass ihr euch das ausgedacht habt, ich habe mir nämlich gewünscht, dass Eure Fantasie rege wird, dass ihr die Wirklichkeit neu macht, besser macht. Deswegen sind die Bücher oft offen wie Fragzeichen, auch wie Ausrufezeichen.

    Tanya Lieske:
    Der Hirbel von 1973, Sie haben mal gesagt, ist Ihr liebstes Buch geblieben wir hören mal rein, es liest: Peter Härtling:

    Peter Härtling:
    Der Hirbel, sagen die anderen Kinder, ist der Schlimmste von allen. Das war nicht wahr, doch die Kinder verstanden den Hirbel nicht ... von da an hatte er Kopfschmerzen, und die Großen behaupteten, er sei nicht bei Vernunft.

    Tanya Lieske:
    Der Hirbel, ein sehr sensibles Kind, auch ein künstlerisches Kind mit autistischen Zügen, wann ist er Ihnen das erste Mal über den Weg gelaufen?

    Peter Härtling:
    Das war in den Sechziger Jahren. Da arbeitete meine Frau, die hat Psychologie studiert, als Praktikantin in einem Heim. Und dort erlebte sie den Hirbel in allen Spielarten, ein Kind, das im Grunde elend dran war. Er redete in Zusammenhängen nur, wenn er sang, und er war richtig abgefeimt, wenn es darum ging, mit Psychologinnen und Erzieherinnen zu sprechen, denn die kannte er schon. Wahrscheinlich ist er in einer Psychiatrie verschwunden.

    Tanya Lieske:
    Das Schreiben für Kinder, haben Sie mal gesagt, ist immer ein Schreiben über die Kunst der Überlebens. Was all ihre Figuren eint, den Hirbel, Kalle, Theo, Fränze ist, dass sie irgendwann von den Erwachsenen im Stich gelassen werden, oder dass Erwachsene sich in Themen verlieren, die nicht mehr nachvollziehbar sind, und dass von irgendwoher eine helfende Person kommt, oft biographisch gar nicht angebunden. Nachdem ich Ihre Biografie gelesen habe, "Leben lernen", habe ich das als Muster in Ihrem eigenen Leben wieder gefunden. Ist es vielleicht doch so, dass Sie Ihre eigene Kindheit wieder und wieder beschreiben?

    Peter Härtling:
    Ich habe vor einigen Jahren den Auftrag gehabt, auf einem Kongress zu sprechen, der Kriegskindern galt und mir wurde klar, wie traumatisch besetzt ich bin, und dass ich einfach schreibend fortwährend und konsequent damit umging, dass das ein Movens war, auch für den Umgang mit meinen Kindern, der frei und offen war, unsere Kinder sind heute unsere Freunde. Ja, diese traumatische Kindheit ist tatsächlich die Basis für das, was ich schreibe.

    Tanya Lieske:
    Am deutlichsten, am autobiografischsten sind Sie geworden in der Geschichte von Krücke, Sie haben dazu aber gebraucht bis 1987. Thomas, das Flüchtlingskind, das von seiner Mutter getrennt wird, dem der Krüppel Krücke hilft, das Ganze vor dem Hintergrund des zerstörten und besetzten Wiens. Sie haben auch für Krücke die Dritte Person gewählt. Warum hat es so lange gedauert und brauchten Sie diese Distanz des auktorialen Erzählens?

    Peter Härtling:
    Es hat so lange gedauert, weil dann wieder Kriege kamen, als meine Kinder verwirrt und verstört wurden, weil im Fernsehen wieder Kriegsaufnahmen kamen, von Kindern, flüchtenden Frauen, zerstörten Häusern, begannen sie mich zu fragen, nachdem sie mich vorher ausgelacht hatten, wenn ich gesagt habe, wisst ihr, ich habe mal Hunger gehabt, dann fragten sie mit einem Mal, wie hast du denn da gelebt? Und da fing ich an zu erzählen, und da fiel mir ein, dass eigentlich das Leben im Krieg gar nicht so furchtbar und einschüchternd und beängstigend war für das Kind, sondern das Leben nach dem Krieg. Und ich dachte dann an Wien, an die Bronka, die es wirklich gab, und an Krücke, den es auch wirklich gab. Krücke, den ich so nennen, das war ein Mann, der auf dem Transport von Wien eine wunderbar segensreiche Rolle für die Kinder spielte. Er hüpfte von Waggon zu Waggon, holte die Kinder ab zum Spielen. Dieser Mann endete in Nürtingen nicht mit einem Orden auf der Brust, sondern in einem Kiosk, und verkaufte Bier, Zigaretten und Sprudelwasser. Also kein Held, aber einer, der für mich wahrscheinlich wirklich ein Held war.

    Tanya Lieske:
    Sie werden in diesem November 77 Jahre alt, ein wirklich reiches Leben liegt hinter Ihnen, Sie haben fast nichts ausgelassen, waren Cheflektor und Geschäftsführer in einem großen deutschen Verlag, haben die Buchmesse in ihren tollsten Zeiten erlebt, Sie haben bei Günter Grass Fisch gegessen und Ingeborg Bachmann betrunken nach Hause getragen. Sie sind ein sehr musikalischer Mensch, in der Rückschau, gibt es einen Grundton Ihres Lebens?

    Peter Härtling:
    Es ist eigentlich der Kammerton. Es ist der Ton, nach dem gestimmt wird. Den brauche ich. Den Ton, von dem alles ausgeht, nach dem alle Instrumente suchen und operieren. Das ist für mich ganz wichtig.

    Tanya Lieske:
    Das eingestrichene A, da klingt so etwas an wie eine Reduktion auf das Wesentliche. Ich übertrage das auf unsere Situation hier, Sie empfangen nicht mehr all zu viele Journalisten, konzentrieren sich auf das Schreiben. Was bleibt noch zu tun, was bleibt noch zu schreiben?

    Peter Härtling:
    Ich schreibe an einem Buch über eine Person, die mich seit vielen Jahren fesselt und fasziniert, über Fanny Mendelssohn Henkel, die Schwester von Felix Mendelssohn, eine große Musikerin und eine fabelhafte Frau, eine mutige Frau.

    Tanya Lieske:
    Sie schreiben auch für Kinder, eben fertig geworden Paul das Hauskind, worum geht es?

    Peter Härtling:
    Paul entstand nach zehn Jahren, nachdem ich zehn Jahre lang für Kinder nicht geschrieben hatte es waren zehn Jahre, in denen ich oft krank war, oft nicht schreiben konnte. Dieses Buch ist über drei Jahre entstanden, dieses Kind begleitete mich und auch das Nachdenken über Kindesvernachlässigung und Kindesmissbrauch. Wie oft wird darüber heute geredet und man denkt gar nicht daran, dass die Kinder in den Familien oft verloren sind. Und ich sagte mir, gut, dann erzähl mal, was hilfreich sein kann.

    Tanya Lieske:
    Paul leidet an einer Art Wohlstandsverwahrlosung. Die Eltern verdienen gut, machen Karriere, haben richtig mit sich selbst zu tun, sind in New York, sind Ihnen solche Kinder, solche Familien begegnet?

    Peter Härtling:
    Ja. Meine Frau war viele Jahre auf dem Jugendamt in Groß Gerau als Familienpsychologin. Sie begegnen mir auch unter den Jungen Leuten, die ich durch meine Kinder kennen lerne. Was mich da erstaunt, ist dieser Karriereautismus bei Dreißigjährigen, dass die Geradlinig auf ihren Erfolg zu rennen, und für Kinder da wenig Platz ist. Und die Kinder werden fabelhaft ausstaffiert, sie kriegen alles, und sie kriegen den Mund und den Kopf gestopft, und wie man sagt, verwahrlosen sie auch. Ich finde, dass unsere Gesellschaft in ihren Diskussionen, wenn es um Kinder geht, mitunter extrem verlogen funktioniert. Wenn man die Jugendministerin und Sozialministerin anhört, was sie alles vorhaben. Diese Vorhaben, die hilfreich sein könnten, werden nie realisiert.

    Tanya Lieske:
    Peter Härtling war heute unser Gast im Büchermarkt für Junge Leser. Sein erzählendes Werk, demnächst: "Paul das Hauskind" ist bei Beltz und Gelberg erschienen. Seine Erwachsenenromane gibt es als Taschenbuch im dtv-Verlag, und es gibt eine sehr schöne, von ihm herausgegebene Märchensammlung im Aufbau-Verlag. Herr Härtling, danke für das Gespräch.

    Peter Härtling auf dradio.de:

    Zum 70. Geburtstag von Peter Härtling

    Peter Härtling: "Romane für Kinder", Verlag Beltz & Gelberg 2008, 478 Seiten

    Ein Heine-Buch für Kinder: Peter Härtling: "Lebet wohl, wir kehren nie, nie zurück von Bimini"