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Dänemarks Junge fordern mehr Denkfreiheit

Jugendliche in ganz Europa haben letzte Woche auf die Geschehnisse in Athen reagiert - als Zeichen der Solidarität. Offenbar verbindet diese oft als unpolitisch kritisierte Generation doch mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Der erste Beitrag unserer Sendereihe in Europa heute "Jugend in Unruhe" geht nach Kopenhagen, wo Jugendliche seit Jahren immer wieder auf die Straße gehen.

Von Marc-Christoph Wagner | 15.12.2008
    Es ist ein Katz- und Maus-Spiel. Spontan und ohne Anmeldung haben sich Dutzende Jugendliche in der Kopenhagener Innenstadt versammelt und demonstrieren Solidarität mit ihren Altersgenossen in den griechischen Städten. Das war am vergangenen Mittwoch.

    Binnen weniger Momente waren die Gassen der Innenstadt wieder erleuchtet von Blaulicht. Wieder, denn erst im vergangenen Jahr erlebte die dänische Hauptstadt eine Reihe von Nächten, in denen sich Jugendliche und die Polizei Straßenschlachten lieferten, in denen Autos brannten, Fensterscheiben zerstört wurden, Pflastersteine und Tränengaspatronen durch die Luft flogen. Auslöser war der Abriss eines Jugendzentrums, das die Stadt Kopenhagen an einen privaten Investor verkauft hat.

    Demonstrantin: "Dieses Haus war ein Symbol – es symbolisierte, dass es in Kopenhagen Platz gab für Andersdenkende, für Leute, die einen anderen Lebensstil führen, weniger kommerziell denken. Dieses Symbol haben sie niedergerissen, dieses Symbol für Vielfalt."

    Demonstrant: " In Dänemark erleben wir eine immer größer werdende Diskriminierung von Minderheiten. Wir wollen keine gleichgeschaltete Gesellschaft. Eben darum demonstrieren wir."

    Viele Bürger zeigten zunächst Solidarität mit den Jugendlichen, waren jedoch überrascht, teilweise auch entsetzt über die Brutalität, mit der einzelne Demonstranten zu Werk gingen. In Dänemark schien eine neue Stufe der Gewalt erreicht:

    "Offenbar hat unsere Regierung irgendeine Agenda, dass die Freiräume alle wegmüssen. Wieso, wissen wir nicht, wir verstehen es nicht. Jede Großstadt der Welt braucht Freiräume."

    Zwischenfrage: " Rechtfertigt dieses Anliegen denn Gewalt?"

    "In diesem Fall schon. Ja, schon – mit der Polizeigewalt und dem vielen Tränengas, das in den letzten Tagen eingesetzt wurde. Das ist genug."

    Doch wie erklärt sich die steigende Frustration dänischer Jugendlicher, die sinkende Hemmschwelle gegenüber der Gewalt? Jugendarbeitslosigkeit, Korruption, fehlende Zukunftsperspektiven – all das, was die griechischen Jugendlichen mit auf die Straße trieb, ist in Dänemark kaum vorhanden. Auf den ersten Blick gleicht der nordeuropäische Wohlfahrtsstaat einem prosperierenden Musterland, das jedem Einzelnen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung bietet. Doch eben das ist Teil des Problems, meint die Sozialpsychologin Tine Bryld, die sich seit mehr als 30 Jahren mit Jugendkulturen beschäftigt.

    "Wir erwarten von unseren Jugendlichen, dass sie auf eigenen Füßen stehen. Dass sie ihr Leben und ihre Ausbildung in die eigene Hand nehmen. Wir sind ein sehr puritanisches Land, hier muss man sich ordentlich benehmen. Man darf nicht rauchen, nicht trinken und muss die Erwartungen erfüllen. Und eben dieser Perfektionsanspruch der Mittelschicht ist es, der Andersdenkende provoziert."

    Hinzu komme die zunehmende Vernetzung der Jugendlichen. Die Solidaritätskundgebungen der vergangenen Woche in Kopenhagen und anderen europäischen Städten seien keineswegs zufällig oder spontan entstanden, ist Tine Bryld überzeugt.

    "Heute gibt es Mobiltelefone, das Internet, Facebook, die Jugendlichen simsen ohne Ablass – benutzen alle Medien, um den Kontakt zueinander zu halten. Zu jeder Zeit lässt sich Solidarität mobilisieren – im Lande selbst, aber auch international. Heute ist es kein Problem, 400 Leute binnen einer halben Stunde auf die Straße zu bringen. Das war früher nicht möglich."

    Demonstrationen wie in der vergangenen Woche, so Bryld, mögen nicht immer eine tiefer liegende Botschaft haben. Dennoch müsse man die Jugendlichen ernst nehmen und verstehen, dass sie gehört werden wollen. Nur so könne man ihre Radikalisierung auf Dauer verhindern:

    "Die Hauptverantwortung liegt bei der Staatsmacht. Wir tun zu wenig, um einen Dialog mit den Jugendlichen am Rande der Gesellschaft zu etablieren. Immer wieder heißt es, wir sprechen nicht mit Leuten, die zu Gewalt greifen, Haschisch rauchen und dergleichen. Es ist wie bei unserer Integrationspolitik – setzen wir auf Konfrontation oder Integration? Und da Phaben sich unsere Politiker leider recht eindeutig für Ersteres entscheiden."