Dahrendorf: Parallelität bedeutet nicht, daß es einen Zusammenhang zwischen beiden gibt. Ich gehöre zu denen, die - wie der britische Premierminister Blair - es für ganz verfehlt finden, wenn die Aktionen gegen den Irak in einen direkten Kausalzusammenhang gebracht werden mit den Schwierigkeiten von Herrn Clinton zu Hause. Und umgekehrt bedeuten diese Schwierigkeiten nicht, daß die Vereinigten Staaten aktionsunfähig wären. Sie haben immer eine eindeutige Regierung. Selbst wenn der Präsident zurücktreten müßte, was im Augenblick noch nicht zur Diskussion steht, wäre der Vizepräsident sofort da. Ich glaube also, daß die Ereignisse im Gegenteil gezeigt haben, daß die Aktionsfähigkeit der USA auch durch so schwierige innenpolitische Dinge nicht eigentlich belastet wird.
DLF: Die USA, Lord Dahrendorf, wurden bei ihren Luftangriffen auf den Irak nur von Großbritannien aktiv unterstützt, während sich die übrigen EU-Staaten zurückhielten. Dabei ging es aus der Sicht Washingtons und Londons nur darum, den Diktator Saddam Hussein an der weiteren Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zu hindern, einen Mann also, der schon bei früherer Gelegenheit vor dem Einsatz von Giftgas nicht zurückschreckte und der die UNO-Inspekteure seit seiner Niederlage im Golfkrieg zu täuschen versuchte, wo es nur ging. Hat die demokratische Staatengemeinschaft eigentlich keine gemeinsamen Werte mehr?
Dahrendorf: Gemeinsame Werte hat sie wahrscheinlich schon, aber eine Fähigkeit zur gemeinsamen Aktion hat sie nicht. Das gilt insbesondere für Europa, wo ich es seit langem für eine Illusion gehalten habe, daß es etwa in entscheidenden Fragen eine europäische Gemeinsamkeit der Aktionen gibt: Die deutsche Wiedervereinigung war eine deutsche Aktion gegen den Wunsch von Frankreich und Großbritannien, der Falklandkrieg war eine britische Aktion, die Schaffung der französischen Sprachgemeinschaft unter Führung des früheren UN-Generalsekretärs Butros Ghali ist eine rein französische Aktion, Albanien-Probleme muß Italien allein bewältigen, ohne daß irgend jemand hilft. Wenn es ernst wird, gibt es Europa in internationalen Fragen nicht. Das heißt nicht, daß die gemeinsamen Werte nicht da wären, es heißt aber, daß es keine Institutionen gibt, um diese auszudrücken.
DLF: Wird es vor diesem Hintergrund, Lord Dahrendorf, eigentlich jemals die angestrebte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben können?
Dahrendorf: 'Jemals' ist eine lange Zeit, 'geben können' ist ein weit offenes Wort. Mit kleinen Schritten in Richtung auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird man sicher beginnen können; aber, wie die Beispiele, die ich gegeben habe, zeigen, ist das noch ein weiter Weg, bei dem ganz wenige Schritte bisher gegangen worden sind.
DLF: Die Europäische Union schickt sich derweilen an, zumindest ökonomisch ein sogenannter 'global player' zu werden, also eine weltweit agierende Wirtschaftsmacht. Ist dies ohne verstärkte weltpolitische Verantwortung denkbar oder sinnvoll?
Dahrendorf: Ich bin ein großer Anhänger der europäischen Einigung, und ich würde mir wünschen, daß die Europäische Union ein 'global player' wird, das heißt, eine Macht, die etwas zu sagen hat im Spiel der Großen. Im Augenblick gilt das aber - auch wirtschaftlich - nicht. Das heißt: Zu einem Zeitpunkt, zu dem beispielsweise die amerikanische Zentralbank, die Federal Reserve, sich darauf einstellt, daß sie einen Beitrag leisten muß, um weltweit das Wachstum anzukurbeln, wird die europäische Zentralbank - so wie die Gemeinschaft der nationalen Zentralbanken vor ihr - im wesentlichen auf den Schutz der Stabilität der eigenen Währung achten, also nicht 'global player' sein, sondern eher eine große Menge als eine große Macht, ein quantitatives Gewicht eher als eine qualitative Kraft. Diesen Schritt zu gehen, von der statistischen Größe zur tatsächlichen Teilnahme an der Weltpolitik, hat Europa bisher nicht geschafft.
DLF: Welche Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein?
Dahrendorf: Nicht nur die Schaffung eines Amtes, beispielsweise eines Herrn oder einer Frau, die Europa nach außen vertreten. Denn nach außen vertreten kann dieser Herr oder kann diese Frau nur das, worüber sich die Mitgliedstaaten einig sind. Und solche Einigkeit ist eben sehr schwer herzustellen. Ich war vor vielen Jahren der Handelsvertreter, nämlich der Kommissar der Europäischen Gemeinschaft, verantwortlich für Außenhandel. Und ich weiß, wie es sich anfühlte, wenn mein Gegenüber - in dem Fall der amerikanische Handelsvertreter - eine Position 'verhandeln' konnte, während ich nach drei Sätzen immer zurückgehen mußte zu dem Ausschuß nach Artikel 113, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind, und mir da ein neues Mandat holen mußte; übrigens ein Mandat, das mein Gegenüber ebenso rasch kannte wie ich, denn unter anderem ist diese Europäische Gemeinschaft durchlässig wie ein Sieb, wenn es um Informationen an Außenstehende geht. Das heißt: Es reicht nicht, eine Position zu schaffen. Nein, was geschehen muß, ist, daß ein paar führende Politiker Europas darangehen müssen, die wirklich gemeinsamen Interessen Europas zu definieren. Das mögen am Anfang sehr wenige sein, aber man kann ja mit wenigen anfangen, beispielsweise mit der Rolle der Menschenrechte in den internationalen Beziehungen. Wenn das nicht geschieht, wenn also nicht die führenden Politiker der Nationalstaaten gemeinsame Interessen klar definieren, dann kann Europa nicht gemeinsam handeln.
DLF: Ein Versuch, zusammenzuwachsen in Europa, wird in wenigen Tagen, Lord Dahrendorf, die Einführung der neuen Gemeinschaftswährung EURO sein. In 11 Ländern der Europäischen Union - darunter Deutschland, Frankreich und auch Italien. Sie haben dies im März dieses Jahres als 'schweren Fehler' bezeichnet. Inzwischen haben sich die Rahmendaten wohl etwas verbessert, die Zinsen sind europaweit gefallen, in Deutschland sinkt die Arbeitslosenzahl, zwar langsam, aber stetig. Bleiben Sie dennoch bei Ihrem harten Urteil?
Dahrendorf: Nun, ich hatte andere politische Ziele für wichtiger gehalten, zum Beispiel die Arbeitslosigkeit oder die Veränderung der Angebotsbedingungen für wirtschaftliches Wachstum. Aber die Europäische Union hat sich entschieden, und ich muß sagen - als einer, der gegenüber dieser Entscheidung skeptisch war -, daß ich einschränkungslos zugebe: Es ist eine mutige Entscheidung, von der man nur hoffen kann, daß sie gelingt. Man muß aber auch sehen, was die Währungsunion nicht bedeutet: Sie hat nichts zu tun mit der Arbeitslosigkeit und sie hat praktisch nichts zu tun mit dem Wirtschaftswachstum. Sie schafft stabile Währungsrahmenbedingungen, Punkt, nicht mehr. Alles andere bleibt Aufgabe - im Augenblick - der nationalen Politik oder der nationalen Politiken. Wir werden möglicherweise bald eine Europäische Union haben, bei der die Hälfte der Länder dem EURO anhängen und die andere Hälfte nicht. Und damit wird es verschiedene politische Institutionen geben, insbesondere verschiedene währungspolitische Institutionen geben. Das ist bedauerlich, und ich bin sehr gespannt, wie Europa damit fertig wird. Ich bin natürlich auch gespannt, ob mit den Staaten der Europäischen Union, die jetzt noch nicht zu EURO-Land gehören, in naher Zukunft die Entscheidung fällen, um dem Beitritt zum EURO nachzusuchen, und es wird mich sehr interessieren, zu sehen, was geschieht, wenn dieser Augenblick eintritt. Das gilt für Großbritannien, es gilt aber ebenso für Schweden, und es gilt auch für Dänemark. Und man wird sehen, ob die griechischen Bemühungen, bis 2001 die Maastricht-Bedingungen zu erfüllen, erfolgreich sind. In jedem Fall führt der EURO zu einer Spaltung Europas und nicht zu seiner Einigung.
DLF: Rechnen Sie mit einem Beitritt Großbritanniens zum EURO-Land in absehbarer Zukunft?
Dahrendorf: Nun, hier fangen wir an, die merkwürdigen Vokabeln zu verwenden, die in der britischen Diskussion eine so große Rolle spielen, wie zum Beispiel ^babseh-bare Zukunft'. Es ist leicht, darauf 'Ja' zu sagen, es ist auch leicht, darauf 'Nein' zu sagen. Ich glaube nicht, daß Großbritannien vor der nächsten britischen Unterhauswahl, die frühestens 2001 stattfindet, auch nur anfangen wird, die Vorbereitungen für die Volksabstimmung zu treffen, die nötig ist als Voraussetzung des Beitritts. Und ich würde mich daher sehr wundern, wenn Großbritannien schon 2002 - wenn das EURO-Geld tatsächlich eingeführt wird - dazugehört. Meine Vermutung ist: Es wird wesentlich später sein.
DLF: Lord Dahrendorf, die EU, bzw. einige ihrer Mitgliedsländer, haben in den vergangenen Jahren beitrittswilligen Staaten in Mittel- und Osteuropa recht konkrete Hoffnungen auf einen baldigen EU-Beitritt gemacht. Nun wird auch schon verhandelt mit Staaten wie Estland und Polen und Tschechien und Ungarn und sogar Zypern. Hat die EU diesen Staaten zu viele Hoffnungen gemacht?
Dahrendorf: Die EU nicht, denn die Kommission hat sich in dieser Frage sehr verantwortlich verhalten. Aber einzelne Führer von Mitgliedstaaten der EU haben völlig unverantwortliche Äußerungen in den Beitrittsländern gemacht. Dazu gehört Präsident Chirac, dazu gehört auch Bundeskanzler Kohl, die deutlich gesagt haben, im Jahre 2000 könnte Polen Mitglied der Europäischen Union sein - wo sie doch wissen konnten, daß es weder 2000 noch 2002 sein wird. Meine Vermutung ist: Es wird nicht vor 2006 sein. Jetzt hört man ja auch andere Töne aus den Hauptstädten. Jetzt sagen sehr wenige, daß der Beitritt bald geschehen wird. In der Tat: Jetzt stellt sich die Frage, ob nicht zum Zeitpunkt des Abschlusses der Beitrittsverhandlungen die Völker der neu hinzukommenden Staaten so desillusioniert sind, daß sie dort, wo Volksabstimmungen nötig werden, möglicherweise - jedenfalls nicht eindeutig - für und vielleicht sogar gegen den Beitritt stimmen. Ich rede hier von Polen, aber auch von anderen Ländern. Ich halte das für eine sehr bedauerliche Entwicklung. Nach meiner Meinung hat die Europäische Union versagt, als sie nicht unmittelbar nach 1989, also nach den befreienden Revolutionen von 1989, den ostmitteleuropäischen Staaten den Weg zur Union geebnet hat. Ich bedaure auch, daß die NATO da schneller gewesen ist und sozusagen ersatzweise einspringen mußte, weil die Europäische Union noch nicht bereit war. Und ich kann nur hoffen, daß dieses langsame Tempo der Europäischen Union nicht zur Enteuropäisierung Europas führt, also dazu, daß es weitere und tiefgehende Spaltungen gibt, die ich jedenfalls nicht will.
DLF: Könnte die EU überhaupt erweitert werden, ohne nicht auch eine grundlegende Strukturreform ihrer selbst in Angriff zu nehmen?
Dahrendorf: Ja und nein. Man kann auch zuerst erweitern und dann die Strukturreform vornehmen. Ich sehe nicht die großen und wichtigen Entscheidungen, die die Europäische Union nicht treffen konnte wegen ihrer jetzigen Strukturen. Strukturen haben sich da ein bißchen verselbständigt und sind zum Argument gegen beschleunigte Beitrittsverhandlungen geworden.
DLF: Was muß in der EU vordringlich reformiert werden nach Ihrer Einschätzung?
Dahrendorf: Das Bewußtsein der Ziele, die man sich setzt. Das heißt: Die EU ist kein Staat, sie wird auch kein Staat. Sie ist eine Institution, die dem Ausdruck gemeinsamer Interessen dient. Und diese gemeinsamen Interessen sind immer ungenauer geworden, immer ungenauer. Der gemeinsame Markt war ein gemeinsames Interesse. Man kann argumentieren - ich habe es nicht getan -, daß die gemeinsame Währung ein gemeinsames Interesse ist. Aber wie man jetzt sieht, einigt sie nicht, sondern sie spaltet. Und nun ist die Frage: Wo liegen wirklich ernsthaft gemeinsame Interessen, bei denen gemeinsames Handeln möglich und nötig ist? Das ist ein großes Thema, und es würde leider in diesem Zusammenhang zu weit führen, es im einzelnen zu erörtern. Aber es gibt schon Antworten auf diese Frage. Da sehe ich die nächste Aufgabe drin.
DLF: Hauptproblem in der EU ist wohl die hohe Arbeitslosigkeit - Sie haben gerade schon darauf hingewiesen, als wir über den EURO sprachen - eine Arbeitslosigkeit, die selbst in Ländern mit einer florierenden Wirtschaft, wie Großbritannien, eine bestimmte Mindestrate von, sagen wir 4 bis 5 Prozent, nicht mehr zu unterschreiten scheint. Müssen wir uns in Zeiten hocheffizienter Rationalisierung und Maschinennutzung und weltweiter wirtschaftlicher Konzentrationsprozesse eigentlich vom Gedanken der Vollbeschäftigung auf Dauer verabschieden?
Dahrendorf: Wenn 4 bis 5 Prozent die ganze Wahrheit der britischen Situation wäre, dann hätten wir in Großbritannien Vollbeschäftigung und brauchten uns nicht von dem Gedanken zu verabschieden. Tatsächlich ist aber die britische Situation viel schwieriger. Wenn man sich nämlich ansieht, in welchen Haushalten es keinen einzigen Beschäftigten gibt, dann finden Sie, daß Großbritannien plötzlich an der Spitze Europas - das heißt, an der negativen Spitze - liegt. In mehr Haushalten in Großbritannien gibt es keinen Beschäftigten als in Deutschland oder in Frankreich oder in Spanien. Das Problem existiert überall. Es existiert aber auf sehr unterschiedliche Weise. Und - um das gleich zu sagen - es ist kein europäisches Problem, es ist auch keines, wo Europa viel tun kann, um es zu lösen. Es ist ein Problem, das sich in jedem Einzelstaat, und da wiederum in Regionen, unterschiedlich stellt. Nach meiner Meinung sollten wir uns die Arbeitslosigkeit viel genauer ansehen als wir das tun, nicht nur Globalzahlen verwenden. Und wir sollten uns fragen, wo diese Arbeitslosigkeit wirklich einschneidende Probleme stellt und wo sie lösbare Probleme stellt. Einschneidend sind die Probleme dort, wo Arbeitslose keinerlei Alternative haben. Das ist das Problem der östlichen Bundesländer in Deutschland, keine Alternative. Wer arbeitslos ist, hat nichts. Im westlichen Deutschland: Wer arbeitslos ist, hat in der Regel eine ganz gute Versorgung. In der Tat, die Mehrzahl der deutschen Arbeitslosen steht sich wirtschaftlich besser als die unteren 20 Prozent der britischen Beschäftigten. Das heißt: Die Arbeitslosigkeit ist ein merkwürdiges Problem im westlichen Deutschland. Noch merkwürdiger ist sie in Spanien. Das ist die höchste Arbeitslosenrate in Europa, aber es gibt praktisch keine Arbeitslosenunterstützung - und trotzdem explodiert das Land nicht. Irgend etwas muß da ja anders sein als anderswo. Also: Ein viel genauerer Blick auf das, was auf dem Arbeitsmarkt geschehen ist, ist nötig, als wir ihn uns erlauben, wenn wir immerfort von Globalzahlen reden und Prozentsätze uns gegenseitig vorhalten. Und dieser genauere Blick wird wahrscheinlich auch zu einer viel detaillierteren, viel komplizierteren, aber viel wirksameren Politik führen, als sie gegenwärtig von irgend jemandem in Europa in die Wege geleitet wird.
DLF: Dennoch, gerade nach diesen Ausführungen: Sollte man das Wort 'Vollbeschäftigung' dann nicht besser aus dem öffentlichen Sprachgebrauch streiche?
Dahrendorf: Ja, man sollte. Ich würde aber auch hoffen, daß man auch das Wort 'Arbeitslosigkeit' bald aus dem öffentlichen Sprachgebrauch streichen kann, weil man sich einfach einem neuartigen Arbeitsmarkt gegenüber sieht, einem Arbeitsmarkt, bei dem manche gelegentlich unbeschäftigt und sonst beschäftigt sind, einem Arbeitsmarkt, bei dem Menschen eine Reihe von Alternativen haben, einem Arbeitsmarkt, bei dem die öffentlichen Leistungen eine wesentliche Rolle spielen. Ich glaube, daß wir da eine ganz andere Sprache brauchen, und es gibt ja gerade in Deutschland Institute - es hört Ihnen wohl niemand zu - wie das von Herrn Biedenkopf eingerichtete Institut für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, die dazu Wichtiges gesagt haben. Also, mein Plädoyer ist: Genau hinsehen, was eigentlich diese Arbeitslosigkeit ist, klarer einsehen, daß es in bestimmten Bereichen eine Wiederholung von 1929/30/31gibt - und das östliche Deutschland ist leider dafür ein Beispiel -, aber auch sehen, daß es in vielen anderen Bereichen eine völlig neue Situation gibt, für die daher auch neue Ansätze des Handels gefunden werden müssen.
DLF: Sind die Sozialstruktur und die sozialen Sicherungssysteme in den westlichen Industrieländern vor diesem Hintergrund überhaupt überlebensfähig?
Dahrendorf: Nun, überlebensfähig sind sie sicher. Reformbedürftig sind sie auch. Es ist eindeutig so, daß die bloße Extrapolation dessen, was in den 50er und 60er Jahren an sozialen Ansprüchen institutionell verankert worden ist, nicht funktionieren wird. Und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits kann kein Land sie sich leisten, und andererseits treffen diese Ansprüche manche derer, die sie am dringendsten hätten, am wenigsten. Das heißt, es bleiben Probleme, es bleiben große offene Probleme des sozialen Ausschlusses, die von diesen Systemen nicht bewältigt werden. Es ist also eine Reformbedürftigkeit da, und dafür gab es ja auch in Deutschland einen gewissen Sinn. Manche der Reformen hat die neue Regierung wieder rückgängig gemacht. Es wird interessant sein zu sehen, welche eigenen Reformen sie anzubieten hat angesichts der neuartigen Probleme. Ich habe aber keinen Zweifel daran, daß ein System der Sozialleistungen sowohl nötig als auch finanzierbar ist, das dafür sorgt, daß niemand im Prinzip ausgeschlossen wird von der Teilnahme - sei es am Arbeitsmarkt, sei es am Leben des Gemeinwesens überhaupt.
DLF: Sie haben dem die Überschrift 'Sozialdemokratisches Jahrhundert' gegeben. Das endet nun. Was erwartet uns danach?
Dahrendorf: Das, was endet, ist jenes sozialdemokratische Jahrhundert, das die Antwort vom Staat, von staatlicher Wirtschaftspolitik und von staatlich organisierter Umverteilung erwartet hat. Das, was wir jetzt erleben, ist die Suche nach Wegen, um durch stärkere Beteiligung dezentraler, auch individüller Art soziale Fragen wie die des Ausschlusses zu lösen. Dafür haben wir noch keinen Namen. Manche nennen es in Deutschland 'Neue Mitte', manche nennen es in Großbritannien 'Dritter Weg'. Ich halte nicht sonderlich viel von diesen Begriffen, aber die Suche nach diesen Begriffen zeigt, daß wir irgendwo auf dem Weg sind zu einer neuen Formulierung dessen, was zivilisierte Bürgergesellschaften im nächsten Jahrhundert tun können und müssen. Zwingen Sie mich nicht, jetzt meinerseits irgendeine griffige Vokabel zu erfinden. Wir gehen in eine offene Gesellschaft hinein; so ganz weiß noch niemand, was die Antwort ist. Wahrscheinlich gibt es viele Antworten, viele Länder können auch unterschiedliche Antworten geben. Aber es sind Antworten, die anders aussehen als die einer klassischen Sozialdemokratie mit ihrer Staatsgläubigkeit.
DLF: Was wird aus dem Staat, hat er da noch eine Rolle zu spielen oder muß er sich dem Diktat des Marktes, der Wirtschaft unterordnen?
Dahrendorf: Nein, der Staat hat eine schlanke, aber entscheidende Rolle zu spielen: Für den Markt setzt er die Regeln. Wir sehen ja am russischen Beispiel, was geschieht, wenn man sich auf Verträge nicht verlassen kann. In der Tat: Wenn man sich auf elementare Rechtssicherheit nicht verlassen kann - das ist eine der Aufgaben des Staates, die mitten hinein reicht in das Wirken des Marktes. Und der Staat behält auch Aufgaben bei der Sicherung der Bürgerrechte für alle, einschließlich des sozialen Einflusses, wie ich das genannt habe. Aber der Staat kann nicht sinnvoll das Ziel der Hoffnung auf Lösung aller Fragen sein, sondern behält eine beschränktere Rolle, als er sie beispielsweise in den 50er und 60er Jahren hatte.
DLF: Die USA, Lord Dahrendorf, wurden bei ihren Luftangriffen auf den Irak nur von Großbritannien aktiv unterstützt, während sich die übrigen EU-Staaten zurückhielten. Dabei ging es aus der Sicht Washingtons und Londons nur darum, den Diktator Saddam Hussein an der weiteren Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zu hindern, einen Mann also, der schon bei früherer Gelegenheit vor dem Einsatz von Giftgas nicht zurückschreckte und der die UNO-Inspekteure seit seiner Niederlage im Golfkrieg zu täuschen versuchte, wo es nur ging. Hat die demokratische Staatengemeinschaft eigentlich keine gemeinsamen Werte mehr?
Dahrendorf: Gemeinsame Werte hat sie wahrscheinlich schon, aber eine Fähigkeit zur gemeinsamen Aktion hat sie nicht. Das gilt insbesondere für Europa, wo ich es seit langem für eine Illusion gehalten habe, daß es etwa in entscheidenden Fragen eine europäische Gemeinsamkeit der Aktionen gibt: Die deutsche Wiedervereinigung war eine deutsche Aktion gegen den Wunsch von Frankreich und Großbritannien, der Falklandkrieg war eine britische Aktion, die Schaffung der französischen Sprachgemeinschaft unter Führung des früheren UN-Generalsekretärs Butros Ghali ist eine rein französische Aktion, Albanien-Probleme muß Italien allein bewältigen, ohne daß irgend jemand hilft. Wenn es ernst wird, gibt es Europa in internationalen Fragen nicht. Das heißt nicht, daß die gemeinsamen Werte nicht da wären, es heißt aber, daß es keine Institutionen gibt, um diese auszudrücken.
DLF: Wird es vor diesem Hintergrund, Lord Dahrendorf, eigentlich jemals die angestrebte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben können?
Dahrendorf: 'Jemals' ist eine lange Zeit, 'geben können' ist ein weit offenes Wort. Mit kleinen Schritten in Richtung auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird man sicher beginnen können; aber, wie die Beispiele, die ich gegeben habe, zeigen, ist das noch ein weiter Weg, bei dem ganz wenige Schritte bisher gegangen worden sind.
DLF: Die Europäische Union schickt sich derweilen an, zumindest ökonomisch ein sogenannter 'global player' zu werden, also eine weltweit agierende Wirtschaftsmacht. Ist dies ohne verstärkte weltpolitische Verantwortung denkbar oder sinnvoll?
Dahrendorf: Ich bin ein großer Anhänger der europäischen Einigung, und ich würde mir wünschen, daß die Europäische Union ein 'global player' wird, das heißt, eine Macht, die etwas zu sagen hat im Spiel der Großen. Im Augenblick gilt das aber - auch wirtschaftlich - nicht. Das heißt: Zu einem Zeitpunkt, zu dem beispielsweise die amerikanische Zentralbank, die Federal Reserve, sich darauf einstellt, daß sie einen Beitrag leisten muß, um weltweit das Wachstum anzukurbeln, wird die europäische Zentralbank - so wie die Gemeinschaft der nationalen Zentralbanken vor ihr - im wesentlichen auf den Schutz der Stabilität der eigenen Währung achten, also nicht 'global player' sein, sondern eher eine große Menge als eine große Macht, ein quantitatives Gewicht eher als eine qualitative Kraft. Diesen Schritt zu gehen, von der statistischen Größe zur tatsächlichen Teilnahme an der Weltpolitik, hat Europa bisher nicht geschafft.
DLF: Welche Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein?
Dahrendorf: Nicht nur die Schaffung eines Amtes, beispielsweise eines Herrn oder einer Frau, die Europa nach außen vertreten. Denn nach außen vertreten kann dieser Herr oder kann diese Frau nur das, worüber sich die Mitgliedstaaten einig sind. Und solche Einigkeit ist eben sehr schwer herzustellen. Ich war vor vielen Jahren der Handelsvertreter, nämlich der Kommissar der Europäischen Gemeinschaft, verantwortlich für Außenhandel. Und ich weiß, wie es sich anfühlte, wenn mein Gegenüber - in dem Fall der amerikanische Handelsvertreter - eine Position 'verhandeln' konnte, während ich nach drei Sätzen immer zurückgehen mußte zu dem Ausschuß nach Artikel 113, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind, und mir da ein neues Mandat holen mußte; übrigens ein Mandat, das mein Gegenüber ebenso rasch kannte wie ich, denn unter anderem ist diese Europäische Gemeinschaft durchlässig wie ein Sieb, wenn es um Informationen an Außenstehende geht. Das heißt: Es reicht nicht, eine Position zu schaffen. Nein, was geschehen muß, ist, daß ein paar führende Politiker Europas darangehen müssen, die wirklich gemeinsamen Interessen Europas zu definieren. Das mögen am Anfang sehr wenige sein, aber man kann ja mit wenigen anfangen, beispielsweise mit der Rolle der Menschenrechte in den internationalen Beziehungen. Wenn das nicht geschieht, wenn also nicht die führenden Politiker der Nationalstaaten gemeinsame Interessen klar definieren, dann kann Europa nicht gemeinsam handeln.
DLF: Ein Versuch, zusammenzuwachsen in Europa, wird in wenigen Tagen, Lord Dahrendorf, die Einführung der neuen Gemeinschaftswährung EURO sein. In 11 Ländern der Europäischen Union - darunter Deutschland, Frankreich und auch Italien. Sie haben dies im März dieses Jahres als 'schweren Fehler' bezeichnet. Inzwischen haben sich die Rahmendaten wohl etwas verbessert, die Zinsen sind europaweit gefallen, in Deutschland sinkt die Arbeitslosenzahl, zwar langsam, aber stetig. Bleiben Sie dennoch bei Ihrem harten Urteil?
Dahrendorf: Nun, ich hatte andere politische Ziele für wichtiger gehalten, zum Beispiel die Arbeitslosigkeit oder die Veränderung der Angebotsbedingungen für wirtschaftliches Wachstum. Aber die Europäische Union hat sich entschieden, und ich muß sagen - als einer, der gegenüber dieser Entscheidung skeptisch war -, daß ich einschränkungslos zugebe: Es ist eine mutige Entscheidung, von der man nur hoffen kann, daß sie gelingt. Man muß aber auch sehen, was die Währungsunion nicht bedeutet: Sie hat nichts zu tun mit der Arbeitslosigkeit und sie hat praktisch nichts zu tun mit dem Wirtschaftswachstum. Sie schafft stabile Währungsrahmenbedingungen, Punkt, nicht mehr. Alles andere bleibt Aufgabe - im Augenblick - der nationalen Politik oder der nationalen Politiken. Wir werden möglicherweise bald eine Europäische Union haben, bei der die Hälfte der Länder dem EURO anhängen und die andere Hälfte nicht. Und damit wird es verschiedene politische Institutionen geben, insbesondere verschiedene währungspolitische Institutionen geben. Das ist bedauerlich, und ich bin sehr gespannt, wie Europa damit fertig wird. Ich bin natürlich auch gespannt, ob mit den Staaten der Europäischen Union, die jetzt noch nicht zu EURO-Land gehören, in naher Zukunft die Entscheidung fällen, um dem Beitritt zum EURO nachzusuchen, und es wird mich sehr interessieren, zu sehen, was geschieht, wenn dieser Augenblick eintritt. Das gilt für Großbritannien, es gilt aber ebenso für Schweden, und es gilt auch für Dänemark. Und man wird sehen, ob die griechischen Bemühungen, bis 2001 die Maastricht-Bedingungen zu erfüllen, erfolgreich sind. In jedem Fall führt der EURO zu einer Spaltung Europas und nicht zu seiner Einigung.
DLF: Rechnen Sie mit einem Beitritt Großbritanniens zum EURO-Land in absehbarer Zukunft?
Dahrendorf: Nun, hier fangen wir an, die merkwürdigen Vokabeln zu verwenden, die in der britischen Diskussion eine so große Rolle spielen, wie zum Beispiel ^babseh-bare Zukunft'. Es ist leicht, darauf 'Ja' zu sagen, es ist auch leicht, darauf 'Nein' zu sagen. Ich glaube nicht, daß Großbritannien vor der nächsten britischen Unterhauswahl, die frühestens 2001 stattfindet, auch nur anfangen wird, die Vorbereitungen für die Volksabstimmung zu treffen, die nötig ist als Voraussetzung des Beitritts. Und ich würde mich daher sehr wundern, wenn Großbritannien schon 2002 - wenn das EURO-Geld tatsächlich eingeführt wird - dazugehört. Meine Vermutung ist: Es wird wesentlich später sein.
DLF: Lord Dahrendorf, die EU, bzw. einige ihrer Mitgliedsländer, haben in den vergangenen Jahren beitrittswilligen Staaten in Mittel- und Osteuropa recht konkrete Hoffnungen auf einen baldigen EU-Beitritt gemacht. Nun wird auch schon verhandelt mit Staaten wie Estland und Polen und Tschechien und Ungarn und sogar Zypern. Hat die EU diesen Staaten zu viele Hoffnungen gemacht?
Dahrendorf: Die EU nicht, denn die Kommission hat sich in dieser Frage sehr verantwortlich verhalten. Aber einzelne Führer von Mitgliedstaaten der EU haben völlig unverantwortliche Äußerungen in den Beitrittsländern gemacht. Dazu gehört Präsident Chirac, dazu gehört auch Bundeskanzler Kohl, die deutlich gesagt haben, im Jahre 2000 könnte Polen Mitglied der Europäischen Union sein - wo sie doch wissen konnten, daß es weder 2000 noch 2002 sein wird. Meine Vermutung ist: Es wird nicht vor 2006 sein. Jetzt hört man ja auch andere Töne aus den Hauptstädten. Jetzt sagen sehr wenige, daß der Beitritt bald geschehen wird. In der Tat: Jetzt stellt sich die Frage, ob nicht zum Zeitpunkt des Abschlusses der Beitrittsverhandlungen die Völker der neu hinzukommenden Staaten so desillusioniert sind, daß sie dort, wo Volksabstimmungen nötig werden, möglicherweise - jedenfalls nicht eindeutig - für und vielleicht sogar gegen den Beitritt stimmen. Ich rede hier von Polen, aber auch von anderen Ländern. Ich halte das für eine sehr bedauerliche Entwicklung. Nach meiner Meinung hat die Europäische Union versagt, als sie nicht unmittelbar nach 1989, also nach den befreienden Revolutionen von 1989, den ostmitteleuropäischen Staaten den Weg zur Union geebnet hat. Ich bedaure auch, daß die NATO da schneller gewesen ist und sozusagen ersatzweise einspringen mußte, weil die Europäische Union noch nicht bereit war. Und ich kann nur hoffen, daß dieses langsame Tempo der Europäischen Union nicht zur Enteuropäisierung Europas führt, also dazu, daß es weitere und tiefgehende Spaltungen gibt, die ich jedenfalls nicht will.
DLF: Könnte die EU überhaupt erweitert werden, ohne nicht auch eine grundlegende Strukturreform ihrer selbst in Angriff zu nehmen?
Dahrendorf: Ja und nein. Man kann auch zuerst erweitern und dann die Strukturreform vornehmen. Ich sehe nicht die großen und wichtigen Entscheidungen, die die Europäische Union nicht treffen konnte wegen ihrer jetzigen Strukturen. Strukturen haben sich da ein bißchen verselbständigt und sind zum Argument gegen beschleunigte Beitrittsverhandlungen geworden.
DLF: Was muß in der EU vordringlich reformiert werden nach Ihrer Einschätzung?
Dahrendorf: Das Bewußtsein der Ziele, die man sich setzt. Das heißt: Die EU ist kein Staat, sie wird auch kein Staat. Sie ist eine Institution, die dem Ausdruck gemeinsamer Interessen dient. Und diese gemeinsamen Interessen sind immer ungenauer geworden, immer ungenauer. Der gemeinsame Markt war ein gemeinsames Interesse. Man kann argumentieren - ich habe es nicht getan -, daß die gemeinsame Währung ein gemeinsames Interesse ist. Aber wie man jetzt sieht, einigt sie nicht, sondern sie spaltet. Und nun ist die Frage: Wo liegen wirklich ernsthaft gemeinsame Interessen, bei denen gemeinsames Handeln möglich und nötig ist? Das ist ein großes Thema, und es würde leider in diesem Zusammenhang zu weit führen, es im einzelnen zu erörtern. Aber es gibt schon Antworten auf diese Frage. Da sehe ich die nächste Aufgabe drin.
DLF: Hauptproblem in der EU ist wohl die hohe Arbeitslosigkeit - Sie haben gerade schon darauf hingewiesen, als wir über den EURO sprachen - eine Arbeitslosigkeit, die selbst in Ländern mit einer florierenden Wirtschaft, wie Großbritannien, eine bestimmte Mindestrate von, sagen wir 4 bis 5 Prozent, nicht mehr zu unterschreiten scheint. Müssen wir uns in Zeiten hocheffizienter Rationalisierung und Maschinennutzung und weltweiter wirtschaftlicher Konzentrationsprozesse eigentlich vom Gedanken der Vollbeschäftigung auf Dauer verabschieden?
Dahrendorf: Wenn 4 bis 5 Prozent die ganze Wahrheit der britischen Situation wäre, dann hätten wir in Großbritannien Vollbeschäftigung und brauchten uns nicht von dem Gedanken zu verabschieden. Tatsächlich ist aber die britische Situation viel schwieriger. Wenn man sich nämlich ansieht, in welchen Haushalten es keinen einzigen Beschäftigten gibt, dann finden Sie, daß Großbritannien plötzlich an der Spitze Europas - das heißt, an der negativen Spitze - liegt. In mehr Haushalten in Großbritannien gibt es keinen Beschäftigten als in Deutschland oder in Frankreich oder in Spanien. Das Problem existiert überall. Es existiert aber auf sehr unterschiedliche Weise. Und - um das gleich zu sagen - es ist kein europäisches Problem, es ist auch keines, wo Europa viel tun kann, um es zu lösen. Es ist ein Problem, das sich in jedem Einzelstaat, und da wiederum in Regionen, unterschiedlich stellt. Nach meiner Meinung sollten wir uns die Arbeitslosigkeit viel genauer ansehen als wir das tun, nicht nur Globalzahlen verwenden. Und wir sollten uns fragen, wo diese Arbeitslosigkeit wirklich einschneidende Probleme stellt und wo sie lösbare Probleme stellt. Einschneidend sind die Probleme dort, wo Arbeitslose keinerlei Alternative haben. Das ist das Problem der östlichen Bundesländer in Deutschland, keine Alternative. Wer arbeitslos ist, hat nichts. Im westlichen Deutschland: Wer arbeitslos ist, hat in der Regel eine ganz gute Versorgung. In der Tat, die Mehrzahl der deutschen Arbeitslosen steht sich wirtschaftlich besser als die unteren 20 Prozent der britischen Beschäftigten. Das heißt: Die Arbeitslosigkeit ist ein merkwürdiges Problem im westlichen Deutschland. Noch merkwürdiger ist sie in Spanien. Das ist die höchste Arbeitslosenrate in Europa, aber es gibt praktisch keine Arbeitslosenunterstützung - und trotzdem explodiert das Land nicht. Irgend etwas muß da ja anders sein als anderswo. Also: Ein viel genauerer Blick auf das, was auf dem Arbeitsmarkt geschehen ist, ist nötig, als wir ihn uns erlauben, wenn wir immerfort von Globalzahlen reden und Prozentsätze uns gegenseitig vorhalten. Und dieser genauere Blick wird wahrscheinlich auch zu einer viel detaillierteren, viel komplizierteren, aber viel wirksameren Politik führen, als sie gegenwärtig von irgend jemandem in Europa in die Wege geleitet wird.
DLF: Dennoch, gerade nach diesen Ausführungen: Sollte man das Wort 'Vollbeschäftigung' dann nicht besser aus dem öffentlichen Sprachgebrauch streiche?
Dahrendorf: Ja, man sollte. Ich würde aber auch hoffen, daß man auch das Wort 'Arbeitslosigkeit' bald aus dem öffentlichen Sprachgebrauch streichen kann, weil man sich einfach einem neuartigen Arbeitsmarkt gegenüber sieht, einem Arbeitsmarkt, bei dem manche gelegentlich unbeschäftigt und sonst beschäftigt sind, einem Arbeitsmarkt, bei dem Menschen eine Reihe von Alternativen haben, einem Arbeitsmarkt, bei dem die öffentlichen Leistungen eine wesentliche Rolle spielen. Ich glaube, daß wir da eine ganz andere Sprache brauchen, und es gibt ja gerade in Deutschland Institute - es hört Ihnen wohl niemand zu - wie das von Herrn Biedenkopf eingerichtete Institut für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, die dazu Wichtiges gesagt haben. Also, mein Plädoyer ist: Genau hinsehen, was eigentlich diese Arbeitslosigkeit ist, klarer einsehen, daß es in bestimmten Bereichen eine Wiederholung von 1929/30/31gibt - und das östliche Deutschland ist leider dafür ein Beispiel -, aber auch sehen, daß es in vielen anderen Bereichen eine völlig neue Situation gibt, für die daher auch neue Ansätze des Handels gefunden werden müssen.
DLF: Sind die Sozialstruktur und die sozialen Sicherungssysteme in den westlichen Industrieländern vor diesem Hintergrund überhaupt überlebensfähig?
Dahrendorf: Nun, überlebensfähig sind sie sicher. Reformbedürftig sind sie auch. Es ist eindeutig so, daß die bloße Extrapolation dessen, was in den 50er und 60er Jahren an sozialen Ansprüchen institutionell verankert worden ist, nicht funktionieren wird. Und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits kann kein Land sie sich leisten, und andererseits treffen diese Ansprüche manche derer, die sie am dringendsten hätten, am wenigsten. Das heißt, es bleiben Probleme, es bleiben große offene Probleme des sozialen Ausschlusses, die von diesen Systemen nicht bewältigt werden. Es ist also eine Reformbedürftigkeit da, und dafür gab es ja auch in Deutschland einen gewissen Sinn. Manche der Reformen hat die neue Regierung wieder rückgängig gemacht. Es wird interessant sein zu sehen, welche eigenen Reformen sie anzubieten hat angesichts der neuartigen Probleme. Ich habe aber keinen Zweifel daran, daß ein System der Sozialleistungen sowohl nötig als auch finanzierbar ist, das dafür sorgt, daß niemand im Prinzip ausgeschlossen wird von der Teilnahme - sei es am Arbeitsmarkt, sei es am Leben des Gemeinwesens überhaupt.
DLF: Sie haben dem die Überschrift 'Sozialdemokratisches Jahrhundert' gegeben. Das endet nun. Was erwartet uns danach?
Dahrendorf: Das, was endet, ist jenes sozialdemokratische Jahrhundert, das die Antwort vom Staat, von staatlicher Wirtschaftspolitik und von staatlich organisierter Umverteilung erwartet hat. Das, was wir jetzt erleben, ist die Suche nach Wegen, um durch stärkere Beteiligung dezentraler, auch individüller Art soziale Fragen wie die des Ausschlusses zu lösen. Dafür haben wir noch keinen Namen. Manche nennen es in Deutschland 'Neue Mitte', manche nennen es in Großbritannien 'Dritter Weg'. Ich halte nicht sonderlich viel von diesen Begriffen, aber die Suche nach diesen Begriffen zeigt, daß wir irgendwo auf dem Weg sind zu einer neuen Formulierung dessen, was zivilisierte Bürgergesellschaften im nächsten Jahrhundert tun können und müssen. Zwingen Sie mich nicht, jetzt meinerseits irgendeine griffige Vokabel zu erfinden. Wir gehen in eine offene Gesellschaft hinein; so ganz weiß noch niemand, was die Antwort ist. Wahrscheinlich gibt es viele Antworten, viele Länder können auch unterschiedliche Antworten geben. Aber es sind Antworten, die anders aussehen als die einer klassischen Sozialdemokratie mit ihrer Staatsgläubigkeit.
DLF: Was wird aus dem Staat, hat er da noch eine Rolle zu spielen oder muß er sich dem Diktat des Marktes, der Wirtschaft unterordnen?
Dahrendorf: Nein, der Staat hat eine schlanke, aber entscheidende Rolle zu spielen: Für den Markt setzt er die Regeln. Wir sehen ja am russischen Beispiel, was geschieht, wenn man sich auf Verträge nicht verlassen kann. In der Tat: Wenn man sich auf elementare Rechtssicherheit nicht verlassen kann - das ist eine der Aufgaben des Staates, die mitten hinein reicht in das Wirken des Marktes. Und der Staat behält auch Aufgaben bei der Sicherung der Bürgerrechte für alle, einschließlich des sozialen Einflusses, wie ich das genannt habe. Aber der Staat kann nicht sinnvoll das Ziel der Hoffnung auf Lösung aller Fragen sein, sondern behält eine beschränktere Rolle, als er sie beispielsweise in den 50er und 60er Jahren hatte.