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Damals ist ein fernes Land

"Schreiben ist eine Art von Prozeß, in dem mir Geschichten oder Romane auf sehr mysteriöse Weise zufliegen", so Peter Cameron. "Es ist etwas, das ich weder gut verstehe noch kontrollieren kann. Ich schreibe eine Weile nichts, und dann plötzlich fängt etwas in meinem Kopf an zu keimen. Ich muß es dann eine Zeitlang keimen lassen und darüber nachdenken, aber ich habe ganz stark das Gefühl, daß das Material mich wählt, nicht ich es auswähle."

Johannes Kaiser |
    Daß sich ein Schriftsteller wie ein Prophet nur als Sprachrohr seiner Buchgestalten versteht, ist heute selten zu hören. In Zeiten, in denen Romane gebaut und geplant werden, Autoren bewußt eine gradlinige Erzählung vermeiden, ihre Geschichten zerschneiden, verrätseln, wirkt der 1960 in New Jersey geborene amerikanische Schriftsteller Peter Cameron wie ein freundliches Fossil aus einer Vergangenheit, in der man sich zum Schreiben berufen fühlte. Dabei sieht sich der New Yorker Autor noch nicht einmal als Profischriftsteller, obwohl er bereits sehr jung anfing, in der renommierten Zeitschrift "New Yorker" zu veröffentlichen und bereits einen preisgekrönten Band mit Erzählungen sowie drei Romane vorgelegt hat. Schreiben ist für ihn zwar wichtig, aber keineswegs eine tagfüllende Beschäftigung. Seit er seinen ersten Roman 'Schaltjahr' ein Jahr lang in wöchentlichen Fortsetzungen für eine Zeitschrift abliefern mußte, haßt er es, den ganzen Tag allein zu Hause zu sitzen und zu schreiben. Er arbeitet viel zu gerne mit anderen Menschen zusammen. Zudem gibt es noch eine Menge anderer Dinge, die Peter Cameron faszinieren und interessieren: "Als mein Roman 'Das Wochenende' 1995 veröffentlicht wurde, schrieb ich ein Jahr lang keine einzige Zeile und durchlebte wieder diese typische Periode nach einer Veröffentlichung, in der ich glaube, daß ich nie wieder einen Roman schreiben werde. Dieser Teil meines Gehirns scheint erst einmal eine Weile ausgeschaltet. Ich habe davor Angst, denn ich fühle mich besser, wenn ich schreibe, aber ich weiß heute, daß ich nichts dagegen unternehmen kann. Ich mußte warten und ganz langsam bildete sich dann in mir die Idee dieser Figur, die in ein anderes Land zieht, um ein neues Leben anzufangen, nachdem das alte gewissermaßen tragisch in den Vereinigten Staaten endete hat. Ich glaube, das entsprach ein bißchen der Situation meines eigenen Lebens. Ich näherte mich dem mittleren Lebensabschnitt und fühlte mich weniger wohl mit mir selbst, dem Menschen, in den ich mich verwandelt hatte, und grübelte darüber nach, wie man sich ändern kann, wenn man sich bereits im Leben fest eingerichtet hat. Ist es möglich, so was zu tun, und kann man das aus eigenen Stücken machen? Ich schuf einen Extremfall, in dem jemand das völlig freiwillig macht. Er zieht einfach fort, fängt in einem fremden Land ganz freiwillig ein neues Leben an."

    Der frühere Architekt und Buchhändler Alex Fox hat seine Heimat, die USA verlassen und beschlossen, sich in Andorra niederzulassen, jener kleinen Republik in den Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien, die kaum ein Mensch kennt, von der aber alle wissen, daß sie existiert. Auch Peter Cameron, der seinen Roman hier spielen läßt, war erst nach Abschluß des Buches in dem winzigen Land, das nicht mehr als ein Gebirgstal ausfüllt. Sein Buch "Andorra" hat denn auch nur wenig gemeinsam mit dem wirklichen Zwergstaat, der zum Beispiel anders als im Buch keinen Zugang zum Mittelmeer besitzt, wie ihn die Geschichte erfordert. "Was ich mit diesem Buch erreichen wollte, war ein ideales Land zu schaffen". erläutert Cameron. "Dazu mußte es klein sein, so daß man jeden Ort zu Fuß erreichen kann - das gefällt mir besonders, denn ich haße Autos -, wo die Menschen keine Telefone brauchen, weil sie sich gegenseitig Notizen schicken können. Es wirkt aber nur ideal, denn allmählich stellt sich heraus, daß eine Menge unter der Oberfläche stattfindet, so ideal und wunderschön die auch zu sein scheint. Mein Andorra ist noch kleiner als das wirkliche Andorra, das schon ziemlich klein ist. Mir gefiel die Vorstellung, daß jemand in ein Land zieht, das so klein ist, daß er buchständlich jeden kennt oder mit allen Kontakt findet. Wenn man in einem so kleinen Land lebt, bekommt alles, was man macht, eine besondere Bedeutung. Es gibt kaum die Möglichkeit, anonym zu bleiben oder sich in der Menge zu verstecken."

    Nichts ist, wie es scheint. Weder ist der Architekt so harmlos-freundlich, wie er sich selbst gerne sehen möchte und in seinen Tagebuchnotizen auch darstellt, noch sind seine neuen Bekanntschaften so entspannt-symapthisch und unkompliziert, wie es den Anschein hat. Nur auf den ersten Blick herrscht allseits eitel Sonnenschein. Mrs. Dent zum Beispiel, die Fox beim Essen kennenlernt, führt keineswegs die harmonische Ehe, die sie allen vorspielt. Als ihr Mann sie verläßt, aufgrund merkwürdiger Vorwürfe aus dem Land flieht, wird sie rasch zur Geliebten von Alex Fox. Doch es gibt noch eine zweite Frau, zu der sich der Neuankömmling stark hingezogen fühlt. Auch sie versteckt eine dramatische Lebensgeschichte, der Fox erst am Ende des Buches auf die Spur kommt und die ihn ermutigt, bei der Frau Hilfe zu suchen.

    Man muß kein Detektiv sein, um schon bald zu spüren, daß auch der Ich-Erzähler irgend etwas zu verbergen hat, denn bestimmte Bereiche spart er in seinen Tagebuchnotizen aus, die er bei seiner Ankunft begonnen hat, um jede eigene Veränderung aufzuzeichnen, die sein neues Leben mit sich bringt. Auf Nachfragen weicht er aus, lügt sogar, wie er seinem Tagebuch beichtet. "Mich interessierte insbesondere, daß er moralisch hin und her schwankt. Er ist kein sehr anständiger Mensch, hat Schreckliches getan. Aber er hat genügend Moral, um zu wissen, daß er schwimmt. Ich finde das sehr interessant. Viele schlechte Menschen wissen nicht mal, wie schlecht sie sind. Was aber ist, wenn man genügend Verstand hat, zu begreifen, daß man moralisch schwankt? Mit dieser Frage wollte ich ihn ringen lassen. Er sollte sich der Tatsache bewußt sein, daß er kein so guter Mensch ist, wie er es gerne gewesen wäre. Was aber kann man unternehmen, ein besserer Mensch zu werden, als man tatsächlich ist?"

    Alex Fox hofft, daß ihn die zweite Frau errettet. Ihr beichtet er sogar sein so lange sorgsam gehütetes grausames Geheimnis, will mit ihrer Unterstützung das neue Leben anfangen, das Andorra versprochen und doch nicht gehalten hat. Doch Alex Fox muß begreifen, daß sich die Vergangenheit nicht einfach abschütteln läßt. Man entkommt ihr nicht. "Er entdeckt, da er ja bewußt in dieses Land gezogen ist, daß das erste Land, in dem man lebt, immer das eigene ist. Egal wohin man auch zieht, man ist zuerst einmal in seinem eigenen Land. Man kann seine Umwelt so lange nicht wirklich ändern, so lange man nicht sich selbst verändert."