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Damit du mich nicht vergißt

"Damit du mich nicht vergißt", der zweite Roman der chilenischen Bildhauerin und Schriftstellerin Marcela Serrano, beinhaltet zwei Liebesgeschichten, die Geschichte einer Freundschaft zwischen drei Frauen sowie die Geschichte einer Krankheit. Die Freundinnen - Blanca, Sofia und Victoria, etwa so alt wie die Autorin, die 1951 in Santiago geboren ist -, gehören der chilenischen Ober-, Mittel- und Unterschicht an und überspringen die sie traditionell trennenden Grenzen, soweit es die Beziehung zueinander betrifft. Die höchste Hürde hat dabei zweifelsohne Blanca, die Ich-Erzählerin des Romans, zu nehmen. Durch die Reflexion ihrer Schicksale, insbesondere der Liebesgeschichten, findet eine Auseinandersetzung mit der jüngsten chilenischen Vergangenheit statt: den Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Diktatur Pinochet in den Jahren zwischen 1973 und 1990; den Folgen der Folter und dem spurlosen Verschwindenlassen von Menschen. Mittels der Krankheit, der Aphasie, verdeutlicht die Autorin die Wechselwirkungen zwischen privater und kollektiver Geschichte. In der hier dargestellten Form wird die Aphasie als exakter Gegenpol des Gedächnisverlustes, der Amnesie, erkennbar.

Rosemarie Bollinger |
    Hauptschauplatz ist die chilenische Hauptstadt Santiago. Erzählgegenwart die Regierungszeit des ersten zivilen Präsidenten nach der Diktatur; des Christdemokraten Patricio Aylwin, der die "Kommission für Wahrheit und Versöhnung" einsetzte. Diese Tatsache spielt eine bedeutsame Rolle im Roman. Denn Victoria und "der Gringo" - beide durch die Folter unwiderruflich versehrt und einander in einer anrührenden Liebesfreundschaft verbunden - sagen vor der Kommission aus. Sofia wird in ihrer Eigenschaft als Victorias Psychologin sowie als Ehefrau von Blancas Lieblingsbruder in den Kontext eingebunden. Blanca selbst dagegen hatte nichts gewußt. Und sie will es im Grunde immer noch nicht wissen, obwohl ihre Zuneigung zu Victoria echt ist und sie sich leidenschaftlich in den Gringo verliebt.

    Infolge dieser hier grob skizzierten Sachverhalte und der sich daraus entwickelnden Konflikte erkrankt Blanca an Aphasie. Durch ein Blutgerinnsel im Gehirn verliert sie innerhalb von Sekunden ihre Sprechfähigkeit und, wie sich herausstellt, ebenso die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Bei klarem Verstand in sich, im Schweigen, eingeschlossen, bleibt ihr die Erinnerung. Das Gedächtnis. Der innere Monolog, der sich zu dem vorliegenden Buch verdichtet. Es ist anzunehmen, daß sie sich mit dem Titelsatz "Damit du mich nicht vergißt" an ihre kleine Tochter richtet. Und es steht fest, daß kein Wort aus der Zeit vor der Erkrankung stammt. So bleibt es das Geheimnis der Autorin, in welcher Weise der Text ihrer Protagonistin zustande kam.

    Wäre Marcela Serranos Roman eine Skulptur, sie wäre ständig am Kippen. Ihm fehlt das poetische Gleichgewicht. Sprachlich gelungene, intensive Abschnitte zeigen, daß die Autorin die Tragödie hätte schreiben können, die ihre Erzählung im Wesenskern ist. Sie fügt jedoch eine gute Portion erfolgversprechender Trivialitäten hinzu. Auch fehlt es nicht an dem mittlerweile sattsam bekannten Tiefsinn, den sogenannte schreibende Frauen auf der Suche nach der sogenannten weiblichen Identität für lesende Frauen produzieren.