Das Interview mit Ursula von der Leyen hören Sie am Sonntag ab 11.05 Uhr im Deutschlandfunk.
Schröder: Frau von der Leyen, selten wohl hat ein Buch in Deutschland die Öffentlichkeit derart in Aufregung versetzt wie das von Thilo Sarrazin, dem ehemaligen Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand. Die SPD, die will ihn aus der Partei werfen, die Bundesbank ihn als Vorstand abberufen. Können Sie diese Aufregung um das Buch verstehen?
von der Leyen: Die harsche öffentliche Debatte zeigt ja, dass das Buch, das ich nicht gelesen habe und auch nicht lesen werde – nur damit die Basis gleich klar ist –, doch eine sehr schroffe Diskussion auch ausgelöst hat. Ich finde, da muss man sich auch so zusagen der Debatte stellen in der ganzen Schroffheit, wenn man, wie Herr Sarrazin, eine bestimmte Tonart vorgegeben hat. Und das passiert jetzt.
Schröder: Die Bundesbank will sich von Sarrazin trennen, der Ball liegt jetzt beim Bundespräsidenten. Das wäre ein einmaliger Vorgang, dass ein Bundesbankvorstand entlassen wird. Halten Sie das für einen richtigen Umgang mit einem Querdenker, der Sarrazin in dieser Sache ja auch ist?
von der Leyen: Also, aus gutem Grund ist die Bundesbank unabhängig, deshalb ist es auch nicht meine Aufgabe, das zu kommentieren. Herr Sarrazin selber sagt ja immer, dass er dieses Buch als Privatmensch geschrieben hat. Diese öffentliche Debatte ist aber unübersehbar und unüberhörbar, und die Bundesbank hat natürlich ein weltweites Ansehen auch. Das sind die Themen, die sicherlich in der Bundesbank selber diskutiert werden. Die Entscheidungen fallen in der Bundesbank, und erst dann ist formal der Bundespräsident mit dem Akt der Entlassung da.
Schröder: Eine These, Frau von der Leyen, Sarrazins lautet ja – grob vereinfacht gesagt: Die Einwanderungspolitik der vergangenen Jahrzehnte ist gescheitert. Es ist nicht gelungen, die Menschen, die man ins Land geholt hat, ausreichend zu integrieren, ihnen Teilhabe zu verschaffen, Bildungschancen, Aufstiegschancen. Trifft er da nicht einen wunden Punkt, auf den auch die Politik reagieren muss?
von der Leyen: Was mich sehr irritiert an dieser schroffen kurzen Debatte, ist, dass durch die Beschränkung erst mal auf den Blick Intelligenz und Genetik, und zweitens durch Begriffe und Worte wie "Kopftuchmädchen" und dergleichen eigentlich die ruhige, besonnene und konstruktive Debatte um Integration beiseite gewischt worden ist. Es prallen jetzt extreme Positionen aufeinander. Und zurück zu der besonnen Debatte heißt Integration. Wenn Menschen zu uns kommen – und es sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten viele Menschen gekommen, die im Übrigen auch sehr willkommen hier waren als Arbeitskräfte und willkommen hier sind, und wenn hier ihre Kinder geboren werden, dann muss man immer die Frage stellen: Sind die Türen offen, was für Chancen geben wir ihnen, wie sind die Möglichkeiten, ganz von Anfang an dabei zu sein, Sprache zu lernen? Wenn da die Möglichkeiten am Anfang nicht genügend gegeben sind, dann muss man sich nicht wundern, wenn später – gerade bei Sprachunverständnis – bei Scheitern in der Schule, bei der Erfahrung des Scheiterns bei Ausbildung oder Beruf, die Probleme vorprogrammiert sind.
Schröder: Dieser Befund ist ja nicht ganz neu. Dass Jugendliche mit Migrationshintergrund große Schwierigkeiten haben, schlechter ausgebildet sind, häufiger arbeitslos sind, sie studieren seltener – kein neuer Befund, aber man fragt sich: Wie reagiert die Politik, was kann sie tun? Was können Sie, was wollen Sie als Arbeits- und Sozialministerin tun, um diese Integration zu verbessern?
von der Leyen: Gerade als Arbeitsministerin sehe ich, dass viele Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit sind, die auch einen Migrationshintergrund haben, aber dass Langzeitarbeitslose vor allem das Problem haben, eher isoliert zu sein, eher abgeschnitten von Außenkontakten, und dass diese Erfahrung sich natürlich auch auf die Kinder auswirkt. Wenn man lebt mit dem Existenzminimum ist es sehr knapp. Und deshalb ist jetzt die neue Aufgabe, die uns das Bundesverfassungsgericht gegeben hat, für die Kinder von Langzeitarbeitslosen besser zu sorgen, indem sie in der Bildung, das heißt, dass sie in der Schule auch tatsächlich mitkommen können, also nicht nur in die Schule gehen, sondern bei Problemen in Mathe oder im Lesen, Rechnen, Schreiben Hilfe bekommen ganz konkret, und dass sie im Alltag nicht ausgeschlossen sind bei den Aktivitäten, die andere Gleichaltrige selbstverständlich machen.
Das geht los beim Mittagessen in der Schule. Es kann nicht sein, dass ein Kind von Langzeitarbeitslosen, weil das Geld fehlt, daneben sitzt und am Mittagessen nicht teilnehmen kann. Das ist Ausgrenzung, das sind Kinder, die am Rande stehen. Und das setzt sich natürlich fort am Nachmittag oder am Wochenende. Genau an diesem Punkt, den ich eben skizziert habe, setzen wir jetzt an, indem wir für die Kinder von Langzeitarbeitslosen, also für Menschen, die am Existenzminimum leben, konsequent dieses eben beschriebene Bildungspaket als Dienstleistung, die zum Kind kommt, organisieren.
Schröder: Gleichzeitig, Frau von der Leyen, müssen Sie aber auch sparen. In Ihrem Etat wird der Großteil der Kürzung vorgenommen im Haushalt des nächsten Jahres. Wo soll denn dann das Geld herkommen, um etwa auch für Qualifizierung, für Vermittlung von Arbeitslosen mehr Geld auszugeben?
von der Leyen: Es ist richtig, dass die gesamte Bundesregierung sparen muss, im Übrigen auch die Landesregierungen und die Kommunen, weil wir am Beispiel Griechenland sehen, was eine hemmungslose Verschuldung mit sich bringt. Das wird richtig schwierig dann für die Menschen, weil es dann tief in soziale Errungenschaften geht.
Zweiter Punkt: Die Sozialausgaben sind mehr als die Hälfte der Ausgaben des Bundesetats – 170 Milliarden sind das. Eingespart werden im nächsten Jahr drei Prozent. Und da wiederum haben wir sehr darauf geachtet, dass wir nicht Menschen belasten, also dort Einsparungen vornehmen, wo man eine Lebenssituation quasi nichts ändern kann - also das sind Rentnerinnen und Rentner. Das Bildungspaket für die bedürftigen Kinder, das ich eben skizziert habe, ist aus einer besonderen Haushaltsstelle, nämlich den zwölf Milliarden, die für Bildung und Forschung vom Finanzminister, von der Bundesregierung, ausdrücklich freigestellt sind von allen Sparanstrengungen. Darin verbirgt sich das zusätzliche Bildungspaket für die bedürftigen Kinder. Und ich glaube, diese Rechnung ist sehr, sehr richtig, in die Bildung der Kinder zu investieren. Das bringt auf die Dauer für das einzelne Kind Lebenschancen und Perspektiven, das bringt für diese Gesellschaft auch Fachkräfte, die auf die Dauer Verantwortung tragen können. Und das ist die richtige Investition.
Schröder: Kritiker dagegen sagen, gerade im Haushalt für 2011 da zeigt sich: Sie sparen bei Langzeitarbeitslosen. Die gestrichenen Rentenbeiträge für Hartz IV-Empfänger. Man könnte auch noch das Elterngeld nennen, das für Hartz IV-Empfänger gestrichen wird. Die Wohlverdienenden dagegen bleiben ungeschoren. Das ist unsozial, das ist ungerecht, sagen etwa die Gewerkschaften und die Wohlfahrtsverbände. Haben die nicht recht?
von der Leyen: Also die Verteilung war so, dass gleiches Volumen eingespart wird – einerseits bei den Sozialausgaben, und ein identisches Volumen – Belastung der Wirtschaft. Das ist in der Tat ein stetes Ringen innerhalb eines Bundeskabinetts. Aber noch mal: Der einzelne Langzeitarbeitslose und seine Familie haben keinen Cent weniger zum Lebensunterhalt. Das möchte ich noch mal ganz deutlich sagen, sondern die eben erwähnten Rentenbeiträge – 1,8 Milliarden im Jahr – hätten in der Zukunft zwei Euro mehr Rente gebracht …
Schröder: … und das Elterngeld?
von der Leyen: Das Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung gerade für die Generation der jungen Menschen, die sich Zeit nehmen für ein Kind und in der Zeit nicht erwerbstätig sind und damit auch Einbußen haben. Aber bei Menschen, die so zusagen den gesamten Lebensunterhalt vom Staat – ich will das gar nicht auf den Staat beziehen, sondern von der Gemeinschaft der Steuerzahler erhalten, ist der Blick eben darauf: Was ist das Existenzminimum? Und ich finde besser dann als zweiten Blick: Wie können wir konkret für die Bildung der Kinder dann was verbessern? Diese Schritte sind jetzt gemacht worden.
Schröder: Frau von der Leyen, obwohl viele Integrationsprobleme noch nicht gelöst sind, fordert die deutsche Wirtschaft eine neue Einwanderungsoffensive, weil ihnen die Fachkräfte ausgehen. Schon jetzt sagen 70 Prozent der Unternehmen nach Befragungen, dass sie offene Stellen nicht besetzen können. Also brauchen wir mehr, brauchen wir neue Zuwanderer?
von der Leyen: Wir brauchen Fachkräfte. Das ist der erste Satz, der wichtig ist, denn es zeigt sich erfreulicherweise: Die Wirtschaft zieht an. Und im demografischen Wandel sind weniger Menschen da, die arbeiten können. Und deshalb muss man abstufen. Der erste Schritt ist der Blick auf diejenigen, die im Land sind und die Frage: Wer arbeitet eigentlich unter Potenzial? Und gerade der Blick auf Menschen, die gerne mehr arbeiten würden oder qualifizierter arbeiten würden, ist wichtig. Denn was wir nicht wollen, ist auf die Dauer ein Fachkräftemangel, gekoppelt mit einer hohen Arbeitslosigkeit. Das heißt, auf der einen Seite Unternehmen, die Menschen suchen, die arbeiten können, und auf der anderen Seite Arbeitslose, die gerne etwas tun würden, nur die falsche Qualifikation haben.
Schröder: Die FDP fordert ganz konkret ein Punktemodell, wie es auch in angelsächsischen Ländern längst eingeführt ist, wo also die Einwanderung gesteuert wird nach Kriterien, wie etwa Qualifikation, Berufserfahrung. Was spricht dagegen?
von der Leyen: Da sind viele offene Fragen. Wie wollen Sie beurteilen, ob die Pflegefachkraft auf Malaysia eine gleiche Punktzahl hat wie die Pflegefachkraft, die aus der Ukraine oder aus Indien kommt? Wie beantworten Sie die Sprachbarrieren, wie wird das punktemäßig beurteilt? Ich will kein "nein" sagen, nur zu glauben, dass wir die Probleme einfach lösen, indem wir unsere Hausaufgaben zu Hause nicht machen und eben schnell über den Tellerrand gucken ins weite Ausland, das machen wir uns dann, glaube ich, zu einfach.
Schröder: Die Wirtschaft hat ja längst wieder Fuß gefasst, die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Aber die Langzeitarbeitslosen profitieren davon noch nicht in ausreichendem Maße. Warum?
von der Leyen: Nun, auch da noch mal eine gute Nachricht. Die Augustzahlen zeigen, dass stärker in der Langzeitarbeitslosigkeit wieder neue Stellen aufgenommen worden sind im Monat August als bei denjenigen, die kurzzeitig arbeitslos waren. Das ist schon mal gut, also es ist Bewegung in dem Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit. Und deshalb der tiefere Blick: Wer steht eigentlich hinter den Langzeitarbeitslosen?
Da haben wir drei Gruppen, die lange nicht beachtet worden sind. Das ist die große Gruppe der Alleinerziehenden – fast immer Frauen. Diese jungen Frauen sind jünger, sie sind qualifizierter als der Durchschnitt der Langzeitarbeitslosen, sie sind aber viel länger in der Langzeitarbeitslosigkeit, weil ihnen oft das gute Thema Kinderbetreuung, Ganztagsschule, Hilfen im Alltag fehlen. Zweite Gruppe – ist auch wichtig in der großen Debatte: Das sind die Älteren. Wir haben ja gerade auch die Diskussion über das Thema "Rente mit 67". Es hat sich viel getan in den letzten Jahren, gerade bei der Gruppe der Älteren. Wir sehen, dass die Erwerbsbeteiligung der Sechzig- bis Vierundsechzigjährigen sich verdoppelt hat in den letzten zehn Jahren. Das heißt, wir entdecken langsam - allgemein in der Wirtschaft - die Lebenserfahrung und das Berufswissen, Betriebswissen von Älteren zu schätzen und zu nutzen, also nicht immer nur zu denken, wann gehen sie endlich, sondern wie können wir sie halten und effektiv einsetzen. Wenn es eine Gruppe gab, die richtig zugelegt hat am Arbeitsmarkt in den letzten zehn Jahren, sind es die Älteren – aus den genannten Gründen, weil ein Umdenken stattfindet in der Wirtschaft, aber auch in der Bevölkerung.
Schröder: Arbeitsministerin Ursula von der Leyen im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Frau von der Leyen, die Zahl der Arbeitslosen ist in den vergangenen Monaten gesunken. Einige rechnen damit, dass sie vielleicht sogar im Herbst noch die Marke von drei Millionen unterschreiten könnte. Halten Sie das für realistisch?
von der Leyen: Also ich glaube, dass es durchaus realistisch ist, dass wir innerhalb dieses Jahres noch die magische Grenze von drei Millionen unterschreiten könnten. Ich warne immer vor zu viel Euphorie oder Sicherheit, man kann das jetzt auch gelassen abwarten. Aber es ist erfreulich, der Verbraucheroptimismus ist hoch, die Wirtschaft hat volle Auftragsbücher. Es werden Fachkräfte gesucht, die Debatte geht richtig, dass man sagt: Wie qualifiziert man Leute, wo finden wir die Menschen, die mitmachen können? Also alles gute Anzeichen, robuste, stabile Entwicklung am Arbeitsmarkt, der eben durch eine Krise, die mit einem dramatischen Wirtschaftseinbruch begleitet war, dank auch eines guten Krisenmanagements sehr stabil durch die Krise gegangen ist.
Schröder: Dennoch gibt es Kritiker, etwa in den Gewerkschaften, die sagen, das deutsche Jobwunder ist gar keins, Gewachsen ist vor allem der Niedriglohnsektor, neu entstanden sind prekäre Beschäftigungen. Ist da nicht was dran?
von der Leyen: Wir finden quer durch alle Beschäftigungsformen ein Anziehen der Nachfrage. Wir sehen eine Verschiebung in Branchen, ja das stimmt, also weniger im verarbeitenden Gewerbe und sehr viel mehr Nachfrage in den Dienstleistungsberufen. Wir haben eine breite Mischung was jetzt zum Beispiel die Fristen von Verträgen angeht. Ja, natürlich gehen junge Menschen zunächst einmal in einen befristeten Arbeitsvertrag. Bei den jungen Menschen ist der Einstieg erst einmal oft auf Probe, aber in der Mitte des Lebens dominiert das Vollzeitarbeitsverhältnis und vor allen Dingen unbefristet.
Schröder: Jeder dritte Job, der neu entsteht zur Zeit, entsteht in der Zeitarbeitsbranche. Die Gewerkschaften sagen, das ist Lohndumping, weil Leiharbeiter in der Regel deutlich schlechter bezahlt werden als Stammbeschäftigte. Ist das für Sie ein Problem?
von der Leyen: Die Zeitarbeitsbranche war diejenige, die mit Beginn der Krise den schärfsten Einbruch hatte, also wo am meisten Menschen entlassen worden sind. Sie zieht natürlich wieder sehr stark an am Beginn eines Konjunkturaufschwungs. Das sind die tastenden Versuche, hält das auch? Und es wird wieder eingestellt, vor allem, die am Beginn der Krise entlassen worden sind. In den letzten Wochen und Monaten hat die Branche, die ja unter ganz scharfe Kritik geraten ist, hier auch durch ganz klare tarifliche Vereinbarungen auch einen deutlichen Schritt voran in Richtung Besserung gemacht. Trotzdem gibt es einen Punkt, der mich sehr irritiert hat am Beginn diesen Jahres. Wir wissen von einer großen Firma, die Stammbelegschaft ersetzt hat . . .
Schröder: Der Fall Schlecker?
von der Leyen: Ja, indem sie sie entlassen haben und über eine Leiharbeitsfirma zu einem Bruchteil des Lohns wieder eingestellt haben. Dieser Drehtüreffekt – so nennen wir das – ist nicht der Sinn der Zeitarbeit gewesen. Deshalb werden wir in dieser Woche noch einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen, der genau diesen Drehtüreffekt nicht möglich macht, also dass man nicht die Stammbelegschaft raussetzen kann und dann über Leiharbeit die selben Menschen zu schlechteren Bedingungen wieder einstellen kann.
Schröder: Wie wollen Sie das verhindern?
von der Leyen: Nun, das kann man gesetzlich fassen, indem man genau guckt, also dass es verboten ist, jemanden über Leiharbeit einzustellen, der in den vergangenen sechs Monaten in diesem Betrieb beschäftigt gewesen ist. Damit macht man einfach die Drehtür zu.
Schröder: Inzwischen aber fordert doch selbst die FDP viel weitergehendere Korrekturen. Die FDP sagt, dass Leiharbeiter, wenn sie dauerhaft die gleiche Tätigkeit ausüben wie Stammbeschäftigte, dann sollen sie auch genau so bezahlt werden. Ist das nicht das, was jetzt ansteht?
von der Leyen: Ich freue mich über diesen Vorschlag der FDP, und im Augenblick sind wir in Gesprächen, dass sie diesen Vorschlag auch konkretisieren, denn "auf die Dauer" ist ein dehnbarer Begriff. Das muss dann auch in Monate gefasst werden.
Schröder: Was würden Sie vorschlagen? Drei Monate, wäre das eine Frist, mit der Sie sich anfreunden könnten?
von der Leyen: Ich werde jetzt nicht mit Zahlenspielereien hier beginnen. Mir liegt ein zweites Thema eigentlich noch mehr im Magen. Wenn mit der EU-Freizügigkeit im nächsten Jahr, also der freien Möglichkeit, Arbeitskräfte auch zu entsenden innerhalb Europas, wir nicht verhindern können, wenn ausländische Tarifverträge nach Deutschland importiert werden, wenn das ausartet in ein Lohndumping, dann sitze ich sozusagen mit Argusaugen da und beobachte das. Dann haben wir einen Gesetzentwurf, der dieses über eine Lohnuntergrenze, die dann mit Gewerkschaften und Arbeitgebern in Deutschland besprochen werden muss und dann durch Politik vollzogen werden muss, möglich ist.
Schröder: Das heißt ein Mindestlohn für die Zeitarbeitsbranche, wie ja Gewerkschaften und Arbeitgeber es fordern. Haben Sie die FDP denn da auch schon davon überzeugt?
von der Leyen: Wir sind noch in Gesprächen, denn es ist bekannt, dass die FDP sehr viel mehr Zurückhaltung vor dem Thema Mindestlöhne hat. Aber gerade dieser Blick auf die Besonderheiten der Zeitarbeit im europäischen Kontext ist eben ein anderer, als es allgemein beim Thema Mindestlohn ist.
Schröder: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Frau von der Leyen, in diesem Herbst müssen Sie noch eine Großbaustelle schließen, nämlich die Neuregelung der Hartz-IV-Sätze. Das hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht aufgeschrieben. Sie müssen die Regelsätze für Erwachsene und Kinder neu berechnen und außerdem einen zusätzlichen Bedarf für die Bildung der Kinder dabei berücksichtigen. Wie weit sind Sie denn da? Können Hartz IV-Bezieher davon ausgehen, dass sie im nächsten Jahr mehr Geld bekommen?
von der Leyen: Diese Frage ist ihrerseits legitim. Das Bundesverfassungsgericht hat selber in seinem Urteil am 9. Februar gesagt, die Zahlen für eine korrekte Berechnung des Existenzminimums, was es bei Langzeitarbeitslosigkeit gibt, liegen erst im Herbst vor. Wir arbeiten unter Hochdruck. Der Herbst kommt jetzt bald und Ende September werden diese vielen, vielen Daten zusammengeflossen sein und wir werden in das Verfahren gehen, dass dann auch konkrete Zahlen auf dem Tisch liegen.
Schröder: Haben Sie denn dann überhaupt noch Zeit für eine solide Berechnung, weil im Oktober muss der Entwurf stehen? Sie sagen, Ende September haben Sie erst die Zahlen. Müssen wir da fürchten, dass es da ein ähnliches Chaos gibt wie bei der Einführung von Hartz IV Anfang 2005?
von der Leyen: Der Zeitdruck ist enorm hoch, aber die obersten Richter haben so geurteilt. Sie haben gesagt, die Daten liegen im Herbst vor und ihr müsst das Gesetzverfahren bis Ende des Jahres abschließen. Und ich sage, vielleicht hat das Oberste Gericht auch Recht, denn das Bildungspaket, das sie neu für die Kinder fordern, muss dann auch ab Januar 2011 als Rechtsanspruch zur Verfügung stehen. Und diese Kinder sind nur einmal sechs Jahre und acht Jahre und elf Jahre alt. Insofern lohnt sich der Zeitdruck.
Schröder: Finanzminister Wolfgang Schäuble hat 480 Millionen dafür in den Etat 2011 eingestellt. Kann dieses Geld überhaupt reichen?
von der Leyen: Das ist Aufgabe des Finanzministers. Er kann nicht einfach sagen, ich warte mal, bis etwas kommt Ende des Jahres, aber die Planung für den Haushalt muss er jetzt schon Mitte des Jahres gemacht haben. Und deshalb hat er einen Vorsorgeposten, diese 480 Millionen, erst einmal – ich nenne es mal beiseite gestellt, haushalterisch geht das etwas anders. Und das ist gut, denn damit ist eine grobe Schätzung da. Das sind keine Detailzahlen, keine endgültigen Zahlen, aber er hat als fürsorglicher Finanzminister schon geguckt, wo kommt eine Belastung, die ich persönlich als Bereicherung für unsere Gesellschaft empfinde, auf ihn zu.
Schröder: Woher kommt denn diese grobe Schätzung? Sie sagen ja, erst im September liegen die Zahlen vor. Viele fürchten, dass die Berechnungen dann wieder vom Ergebnis her gehen, so viel Geld steht zur Verfügung und so wird es dann aufgeteilt. So werden dann in Zukunft auch die neuen Regelsätze berechnet.
von der Leyen: Ich muss noch mal deutlich sagen, diese zusätzliche halbe Milliarde hat nichts zu tun mit dem Lebensunterhalt, dem Basisgeld, was für Erwachsene und Kinder da ist, Lebensunterhalt, sondern es ist oben drauf neu das Thema Lernförderung in der Schule für die bedürftigen Kinder, warmes Mittagessen in der Schule oder in der Kita, da wo es angeboten wird, und für mich fast auch mit am wichtigsten nachmittags im Sportverein oder wenn man lieber Musik macht im Kinderorchester mitmachen können, da wo die Gleichaltrigen sind. Also dieses neue Bildungspaket, dafür ist Vorsorge geleistet worden.
Schröder: Diese zusätzlichen Bildungsausgaben wollen Sie über eine Chipkarte abwickeln, damit das Geld tatsächlich für die Kinder ausgegeben wird. Spricht da nicht ein großes Misstrauen den Eltern gegenüber, denen sie genau das zutrauen, dass sie das Geld anderweitig ausgeben?
von der Leyen: Das war jetzt Ihre Formulierung. Ich benutze diese Formulierung bewusst nicht, sondern benutze den Gedanken der Dienstleistung aus einer anderen Lebenserfahrung heraus. Wir nehmen mal das Beispiel Nachhilfe, Lernförderung. Würden wir es uns einfach machen, würden wir den Durchschnittsbetrag errechnen, wie mit der Gießkanne ausschütten, auf das Konto der Eltern überweisen, das wären einige Euro im Monat, und damit wäre das Thema für die Politik , sagen wir, vom Rechtsweg her erledigt. Das wäre aber etwas, was ausgesprochen unbefriedigend ist, denn das Kind, das keine Nachhilfe braucht, hat ein bisschen mehr Geld im Monat, und das Kind, das Nachhilfe braucht, kann damit, mit fünf oder sieben oder neun Euro im Durchschnitt im Monat gar nichts anfangen.
Deshalb gehen wir den etwas anstrengenderen Weg, aber ich glaube, er ist viel wirksamer, auch im Sinne der Chancen der Kinder, zu sagen: Lass uns organisieren, dass in der Schule, um die Schule herum Lernförderung angeboten wird und gezielt diese bedürftigen Kinder dies Angebot von der Schule kriegen. Ja, die Bezahlung kommt dann über die Kinder durch die Bildungskarte. Das ist einfach eine Karte wie man sie kennt, wenn man in die Stadtbibliothek geht zum Beispiel. Die Abrechnung ist unkompliziert, unbürokratisch, modern, wie das jeder mit Chipkarten auch kennt. Aber wir organisieren vor allem als Politik und Gesellschaft, dass die Hilfe angeboten wird und dass die Kinder sie annehmen können an dem Ort, wo sie stattfinden müsste, in der Schule nämlich.
Schröder: Kritiker sagen, die Karte, die kostet erst mal viel Geld. Das ist ein großer Verwaltungsaufwand. Das lohnt sich also nur, wenn da auch große Beträge drüber abgewickelt werden. Das lohnt sich nicht, wenn da im Monat 10 oder 20 Euro verfügbar gemacht werden. An welcher Beträge denken Sie denn?
von der Leyen: Wir haben heute ja Gott sei Dank Kartensysteme. In Recklinghausen werden die gesamten Mittagessen, 400.000 Mittagessen im Jahr an Kitas und Schulen, über Chipkarten abgerechnet. In Stuttgart, das ist ja bekannt, macht die Stadt 50.000 Chipkarten für alle Stuttgarter Kinder, die darüber Vergünstigungen haben, um zum Beispiel bei Sport und Spiel mitmachen zu können. Ich nehme mal das Stuttgarter Beispiel. Was kostet das pro Kind pro Jahr pro Chipkarte? Das ist ein Betrag von 2,59 Euro. Ich glaube, das ist beherrschbar. Und deshalb ist mein Vorschlag, die Bildungskarte, ein ganz modernes Zahlungsmittel, einzuführen. Der Bund würde die Kosten übernehmen. Und das Gute ist, es gibt inzwischen viele Interessenten, auch in den Ländern, die sagen, da würden wir gerne mitmachen.
Schröder: Wenn man die 480 Millionen im Etat nimmt als Größenordnung, als Schätzung auch dafür, dann käme man für den Bedarf für die Kinder auf etwa 20, 25 Euro. Ist das realistisch?
von der Leyen: Der Finanzminister hat einen Vorsorgeposten da gefunden . . .
Schröder: Also es könnte auch deutlich mehr werden?
von der Leyen: Es könnte natürlich mehr werden. Und noch mal, Kaffeesatzleserei habe ich seit Monaten vermieden, und das ist auch gut so, denn mir ist die Warnung des Gerichtes, hört auf mit den Schätzungen ins Blaue hinein, noch gut in Erinnerung im Gerichtssaal, und die beherzige ich auch.
Schröder: Frau von der Leyen, Sie sind im Kabinett jetzt schon ein Schwergewicht. Sie werden in Zukunft auch in der Partei eine wichtigere Position einnehmen, nämlich die der stellvertretenden Parteivorsitzenden. Wie werde Sie diesen Einfluss nutzen? Sie gelten als Vertreterin des sozialpolitisch orientierten Flügels. So rückt die Union nach links?
von der Leyen: Ich wüste gar nicht, warum Sozialpolitik links sein sollte, sondern Sozialpolitik für mich heißt, wenn sie die Grundsatzfrage stellen, was hält unsere Gesellschaft zusammen: Es ist eben nicht nur der Euro, sondern da ist ganz viel Zwischenmenschliches, die Frage, ob es gerecht zugeht.
Die Frage, die mich zum Beispiel ganz stark umtreibt, was müssen wir eigentlich tun in der Kindheit, dass Menschen später Verantwortung übernehmen können? Also nicht nur sagen, übernehmt mal Verantwortung als Erwachsene, sondern ihnen auch in der Kindheit die Möglichkeiten geben, durch Bildung, durch Zuwendung, durch Menschen, die sie begleiten, durch Anerkennung später auch dann in der Lage zu sein, Verantwortung zu übernehmen. Das heißt auch, über sich hinaus zu wachsen. Das ist für mich gute Sozialpolitik, Gerechtigkeit, Leitplanken mit Maß und Mitte zu schaffen . . .
Schröder: Und da gibt es noch Nachholbedarf in der Union?
von der Leyen: Da gibt es in diesem Land immerzu Weiterentwicklungsbedarf aus dem einfachen Grund, die Welt bleibt nicht stehen. Das zeigt die Werte des sich Kümmerns um einander und für einander sorgen und Gerechtigkeit, aber auch Leistungsbelohnung, um das richtige Maß zu bringen. Die bleiben bestehen, sie sind nur in einer sich ändernden Welt immer wieder neu zu definieren.
Schröder: Die Regierung, Ihre Partei, stecken im Umfragetief. Sind da programmatische Korrekturen nötig, um hier wieder Boden unter die Füße zu bekommen?
von der Leyen: Ich bin ganz tief davon überzeugt, dass vor allem zügige, gute Regierungsarbeit das entscheidende Maß ist, an dem die Menschen beurteilen, haben sie Vertrauen zu den Regierungsparteien oder weniger, lösen die Probleme. Das ist die Frage, die die Menschen stellen.
Schröder: Und da scheint das Vertrauen derzeit nicht so groß zu sein.
von der Leyen: Und ich fand auch, dass wir in den letzten Monaten zu viel Zeit gebraucht haben für Abstimmungsprozesse. Es ging zu viel hin und her. Das erweckt auch den Eindruck, ihr seid euch nicht einig in dem Weg, den ihr gehen wollt. Wenn dann ein Weg beschritten wurde, war schon sehr viel zerredet. Und die großen Fragen, die jetzt vor uns stehen, das Ganze Thema der Bildungsbeteiligung der bedürftigen, der benachteiligten Kinder, das ganze Thema Energie, erneuerbare Energie, die Gesundheitsreform, die große Frage Bundeswehr in einer modernen Welt, das sind Themen, die jetzt auf der Agenda stehen. Und genau daran wollen wir auch gemessen werden, wie gut und wie zügig und wie zielstrebig wir die auch umsetzen.
Schröder: Frau von der Leyen, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
von der Leyen: Ich danke Ihnen.
Schröder: Frau von der Leyen, selten wohl hat ein Buch in Deutschland die Öffentlichkeit derart in Aufregung versetzt wie das von Thilo Sarrazin, dem ehemaligen Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand. Die SPD, die will ihn aus der Partei werfen, die Bundesbank ihn als Vorstand abberufen. Können Sie diese Aufregung um das Buch verstehen?
von der Leyen: Die harsche öffentliche Debatte zeigt ja, dass das Buch, das ich nicht gelesen habe und auch nicht lesen werde – nur damit die Basis gleich klar ist –, doch eine sehr schroffe Diskussion auch ausgelöst hat. Ich finde, da muss man sich auch so zusagen der Debatte stellen in der ganzen Schroffheit, wenn man, wie Herr Sarrazin, eine bestimmte Tonart vorgegeben hat. Und das passiert jetzt.
Schröder: Die Bundesbank will sich von Sarrazin trennen, der Ball liegt jetzt beim Bundespräsidenten. Das wäre ein einmaliger Vorgang, dass ein Bundesbankvorstand entlassen wird. Halten Sie das für einen richtigen Umgang mit einem Querdenker, der Sarrazin in dieser Sache ja auch ist?
von der Leyen: Also, aus gutem Grund ist die Bundesbank unabhängig, deshalb ist es auch nicht meine Aufgabe, das zu kommentieren. Herr Sarrazin selber sagt ja immer, dass er dieses Buch als Privatmensch geschrieben hat. Diese öffentliche Debatte ist aber unübersehbar und unüberhörbar, und die Bundesbank hat natürlich ein weltweites Ansehen auch. Das sind die Themen, die sicherlich in der Bundesbank selber diskutiert werden. Die Entscheidungen fallen in der Bundesbank, und erst dann ist formal der Bundespräsident mit dem Akt der Entlassung da.
Schröder: Eine These, Frau von der Leyen, Sarrazins lautet ja – grob vereinfacht gesagt: Die Einwanderungspolitik der vergangenen Jahrzehnte ist gescheitert. Es ist nicht gelungen, die Menschen, die man ins Land geholt hat, ausreichend zu integrieren, ihnen Teilhabe zu verschaffen, Bildungschancen, Aufstiegschancen. Trifft er da nicht einen wunden Punkt, auf den auch die Politik reagieren muss?
von der Leyen: Was mich sehr irritiert an dieser schroffen kurzen Debatte, ist, dass durch die Beschränkung erst mal auf den Blick Intelligenz und Genetik, und zweitens durch Begriffe und Worte wie "Kopftuchmädchen" und dergleichen eigentlich die ruhige, besonnene und konstruktive Debatte um Integration beiseite gewischt worden ist. Es prallen jetzt extreme Positionen aufeinander. Und zurück zu der besonnen Debatte heißt Integration. Wenn Menschen zu uns kommen – und es sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten viele Menschen gekommen, die im Übrigen auch sehr willkommen hier waren als Arbeitskräfte und willkommen hier sind, und wenn hier ihre Kinder geboren werden, dann muss man immer die Frage stellen: Sind die Türen offen, was für Chancen geben wir ihnen, wie sind die Möglichkeiten, ganz von Anfang an dabei zu sein, Sprache zu lernen? Wenn da die Möglichkeiten am Anfang nicht genügend gegeben sind, dann muss man sich nicht wundern, wenn später – gerade bei Sprachunverständnis – bei Scheitern in der Schule, bei der Erfahrung des Scheiterns bei Ausbildung oder Beruf, die Probleme vorprogrammiert sind.
Schröder: Dieser Befund ist ja nicht ganz neu. Dass Jugendliche mit Migrationshintergrund große Schwierigkeiten haben, schlechter ausgebildet sind, häufiger arbeitslos sind, sie studieren seltener – kein neuer Befund, aber man fragt sich: Wie reagiert die Politik, was kann sie tun? Was können Sie, was wollen Sie als Arbeits- und Sozialministerin tun, um diese Integration zu verbessern?
von der Leyen: Gerade als Arbeitsministerin sehe ich, dass viele Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit sind, die auch einen Migrationshintergrund haben, aber dass Langzeitarbeitslose vor allem das Problem haben, eher isoliert zu sein, eher abgeschnitten von Außenkontakten, und dass diese Erfahrung sich natürlich auch auf die Kinder auswirkt. Wenn man lebt mit dem Existenzminimum ist es sehr knapp. Und deshalb ist jetzt die neue Aufgabe, die uns das Bundesverfassungsgericht gegeben hat, für die Kinder von Langzeitarbeitslosen besser zu sorgen, indem sie in der Bildung, das heißt, dass sie in der Schule auch tatsächlich mitkommen können, also nicht nur in die Schule gehen, sondern bei Problemen in Mathe oder im Lesen, Rechnen, Schreiben Hilfe bekommen ganz konkret, und dass sie im Alltag nicht ausgeschlossen sind bei den Aktivitäten, die andere Gleichaltrige selbstverständlich machen.
Das geht los beim Mittagessen in der Schule. Es kann nicht sein, dass ein Kind von Langzeitarbeitslosen, weil das Geld fehlt, daneben sitzt und am Mittagessen nicht teilnehmen kann. Das ist Ausgrenzung, das sind Kinder, die am Rande stehen. Und das setzt sich natürlich fort am Nachmittag oder am Wochenende. Genau an diesem Punkt, den ich eben skizziert habe, setzen wir jetzt an, indem wir für die Kinder von Langzeitarbeitslosen, also für Menschen, die am Existenzminimum leben, konsequent dieses eben beschriebene Bildungspaket als Dienstleistung, die zum Kind kommt, organisieren.
Schröder: Gleichzeitig, Frau von der Leyen, müssen Sie aber auch sparen. In Ihrem Etat wird der Großteil der Kürzung vorgenommen im Haushalt des nächsten Jahres. Wo soll denn dann das Geld herkommen, um etwa auch für Qualifizierung, für Vermittlung von Arbeitslosen mehr Geld auszugeben?
von der Leyen: Es ist richtig, dass die gesamte Bundesregierung sparen muss, im Übrigen auch die Landesregierungen und die Kommunen, weil wir am Beispiel Griechenland sehen, was eine hemmungslose Verschuldung mit sich bringt. Das wird richtig schwierig dann für die Menschen, weil es dann tief in soziale Errungenschaften geht.
Zweiter Punkt: Die Sozialausgaben sind mehr als die Hälfte der Ausgaben des Bundesetats – 170 Milliarden sind das. Eingespart werden im nächsten Jahr drei Prozent. Und da wiederum haben wir sehr darauf geachtet, dass wir nicht Menschen belasten, also dort Einsparungen vornehmen, wo man eine Lebenssituation quasi nichts ändern kann - also das sind Rentnerinnen und Rentner. Das Bildungspaket für die bedürftigen Kinder, das ich eben skizziert habe, ist aus einer besonderen Haushaltsstelle, nämlich den zwölf Milliarden, die für Bildung und Forschung vom Finanzminister, von der Bundesregierung, ausdrücklich freigestellt sind von allen Sparanstrengungen. Darin verbirgt sich das zusätzliche Bildungspaket für die bedürftigen Kinder. Und ich glaube, diese Rechnung ist sehr, sehr richtig, in die Bildung der Kinder zu investieren. Das bringt auf die Dauer für das einzelne Kind Lebenschancen und Perspektiven, das bringt für diese Gesellschaft auch Fachkräfte, die auf die Dauer Verantwortung tragen können. Und das ist die richtige Investition.
Schröder: Kritiker dagegen sagen, gerade im Haushalt für 2011 da zeigt sich: Sie sparen bei Langzeitarbeitslosen. Die gestrichenen Rentenbeiträge für Hartz IV-Empfänger. Man könnte auch noch das Elterngeld nennen, das für Hartz IV-Empfänger gestrichen wird. Die Wohlverdienenden dagegen bleiben ungeschoren. Das ist unsozial, das ist ungerecht, sagen etwa die Gewerkschaften und die Wohlfahrtsverbände. Haben die nicht recht?
von der Leyen: Also die Verteilung war so, dass gleiches Volumen eingespart wird – einerseits bei den Sozialausgaben, und ein identisches Volumen – Belastung der Wirtschaft. Das ist in der Tat ein stetes Ringen innerhalb eines Bundeskabinetts. Aber noch mal: Der einzelne Langzeitarbeitslose und seine Familie haben keinen Cent weniger zum Lebensunterhalt. Das möchte ich noch mal ganz deutlich sagen, sondern die eben erwähnten Rentenbeiträge – 1,8 Milliarden im Jahr – hätten in der Zukunft zwei Euro mehr Rente gebracht …
Schröder: … und das Elterngeld?
von der Leyen: Das Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung gerade für die Generation der jungen Menschen, die sich Zeit nehmen für ein Kind und in der Zeit nicht erwerbstätig sind und damit auch Einbußen haben. Aber bei Menschen, die so zusagen den gesamten Lebensunterhalt vom Staat – ich will das gar nicht auf den Staat beziehen, sondern von der Gemeinschaft der Steuerzahler erhalten, ist der Blick eben darauf: Was ist das Existenzminimum? Und ich finde besser dann als zweiten Blick: Wie können wir konkret für die Bildung der Kinder dann was verbessern? Diese Schritte sind jetzt gemacht worden.
Schröder: Frau von der Leyen, obwohl viele Integrationsprobleme noch nicht gelöst sind, fordert die deutsche Wirtschaft eine neue Einwanderungsoffensive, weil ihnen die Fachkräfte ausgehen. Schon jetzt sagen 70 Prozent der Unternehmen nach Befragungen, dass sie offene Stellen nicht besetzen können. Also brauchen wir mehr, brauchen wir neue Zuwanderer?
von der Leyen: Wir brauchen Fachkräfte. Das ist der erste Satz, der wichtig ist, denn es zeigt sich erfreulicherweise: Die Wirtschaft zieht an. Und im demografischen Wandel sind weniger Menschen da, die arbeiten können. Und deshalb muss man abstufen. Der erste Schritt ist der Blick auf diejenigen, die im Land sind und die Frage: Wer arbeitet eigentlich unter Potenzial? Und gerade der Blick auf Menschen, die gerne mehr arbeiten würden oder qualifizierter arbeiten würden, ist wichtig. Denn was wir nicht wollen, ist auf die Dauer ein Fachkräftemangel, gekoppelt mit einer hohen Arbeitslosigkeit. Das heißt, auf der einen Seite Unternehmen, die Menschen suchen, die arbeiten können, und auf der anderen Seite Arbeitslose, die gerne etwas tun würden, nur die falsche Qualifikation haben.
Schröder: Die FDP fordert ganz konkret ein Punktemodell, wie es auch in angelsächsischen Ländern längst eingeführt ist, wo also die Einwanderung gesteuert wird nach Kriterien, wie etwa Qualifikation, Berufserfahrung. Was spricht dagegen?
von der Leyen: Da sind viele offene Fragen. Wie wollen Sie beurteilen, ob die Pflegefachkraft auf Malaysia eine gleiche Punktzahl hat wie die Pflegefachkraft, die aus der Ukraine oder aus Indien kommt? Wie beantworten Sie die Sprachbarrieren, wie wird das punktemäßig beurteilt? Ich will kein "nein" sagen, nur zu glauben, dass wir die Probleme einfach lösen, indem wir unsere Hausaufgaben zu Hause nicht machen und eben schnell über den Tellerrand gucken ins weite Ausland, das machen wir uns dann, glaube ich, zu einfach.
Schröder: Die Wirtschaft hat ja längst wieder Fuß gefasst, die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Aber die Langzeitarbeitslosen profitieren davon noch nicht in ausreichendem Maße. Warum?
von der Leyen: Nun, auch da noch mal eine gute Nachricht. Die Augustzahlen zeigen, dass stärker in der Langzeitarbeitslosigkeit wieder neue Stellen aufgenommen worden sind im Monat August als bei denjenigen, die kurzzeitig arbeitslos waren. Das ist schon mal gut, also es ist Bewegung in dem Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit. Und deshalb der tiefere Blick: Wer steht eigentlich hinter den Langzeitarbeitslosen?
Da haben wir drei Gruppen, die lange nicht beachtet worden sind. Das ist die große Gruppe der Alleinerziehenden – fast immer Frauen. Diese jungen Frauen sind jünger, sie sind qualifizierter als der Durchschnitt der Langzeitarbeitslosen, sie sind aber viel länger in der Langzeitarbeitslosigkeit, weil ihnen oft das gute Thema Kinderbetreuung, Ganztagsschule, Hilfen im Alltag fehlen. Zweite Gruppe – ist auch wichtig in der großen Debatte: Das sind die Älteren. Wir haben ja gerade auch die Diskussion über das Thema "Rente mit 67". Es hat sich viel getan in den letzten Jahren, gerade bei der Gruppe der Älteren. Wir sehen, dass die Erwerbsbeteiligung der Sechzig- bis Vierundsechzigjährigen sich verdoppelt hat in den letzten zehn Jahren. Das heißt, wir entdecken langsam - allgemein in der Wirtschaft - die Lebenserfahrung und das Berufswissen, Betriebswissen von Älteren zu schätzen und zu nutzen, also nicht immer nur zu denken, wann gehen sie endlich, sondern wie können wir sie halten und effektiv einsetzen. Wenn es eine Gruppe gab, die richtig zugelegt hat am Arbeitsmarkt in den letzten zehn Jahren, sind es die Älteren – aus den genannten Gründen, weil ein Umdenken stattfindet in der Wirtschaft, aber auch in der Bevölkerung.
Schröder: Arbeitsministerin Ursula von der Leyen im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Frau von der Leyen, die Zahl der Arbeitslosen ist in den vergangenen Monaten gesunken. Einige rechnen damit, dass sie vielleicht sogar im Herbst noch die Marke von drei Millionen unterschreiten könnte. Halten Sie das für realistisch?
von der Leyen: Also ich glaube, dass es durchaus realistisch ist, dass wir innerhalb dieses Jahres noch die magische Grenze von drei Millionen unterschreiten könnten. Ich warne immer vor zu viel Euphorie oder Sicherheit, man kann das jetzt auch gelassen abwarten. Aber es ist erfreulich, der Verbraucheroptimismus ist hoch, die Wirtschaft hat volle Auftragsbücher. Es werden Fachkräfte gesucht, die Debatte geht richtig, dass man sagt: Wie qualifiziert man Leute, wo finden wir die Menschen, die mitmachen können? Also alles gute Anzeichen, robuste, stabile Entwicklung am Arbeitsmarkt, der eben durch eine Krise, die mit einem dramatischen Wirtschaftseinbruch begleitet war, dank auch eines guten Krisenmanagements sehr stabil durch die Krise gegangen ist.
Schröder: Dennoch gibt es Kritiker, etwa in den Gewerkschaften, die sagen, das deutsche Jobwunder ist gar keins, Gewachsen ist vor allem der Niedriglohnsektor, neu entstanden sind prekäre Beschäftigungen. Ist da nicht was dran?
von der Leyen: Wir finden quer durch alle Beschäftigungsformen ein Anziehen der Nachfrage. Wir sehen eine Verschiebung in Branchen, ja das stimmt, also weniger im verarbeitenden Gewerbe und sehr viel mehr Nachfrage in den Dienstleistungsberufen. Wir haben eine breite Mischung was jetzt zum Beispiel die Fristen von Verträgen angeht. Ja, natürlich gehen junge Menschen zunächst einmal in einen befristeten Arbeitsvertrag. Bei den jungen Menschen ist der Einstieg erst einmal oft auf Probe, aber in der Mitte des Lebens dominiert das Vollzeitarbeitsverhältnis und vor allen Dingen unbefristet.
Schröder: Jeder dritte Job, der neu entsteht zur Zeit, entsteht in der Zeitarbeitsbranche. Die Gewerkschaften sagen, das ist Lohndumping, weil Leiharbeiter in der Regel deutlich schlechter bezahlt werden als Stammbeschäftigte. Ist das für Sie ein Problem?
von der Leyen: Die Zeitarbeitsbranche war diejenige, die mit Beginn der Krise den schärfsten Einbruch hatte, also wo am meisten Menschen entlassen worden sind. Sie zieht natürlich wieder sehr stark an am Beginn eines Konjunkturaufschwungs. Das sind die tastenden Versuche, hält das auch? Und es wird wieder eingestellt, vor allem, die am Beginn der Krise entlassen worden sind. In den letzten Wochen und Monaten hat die Branche, die ja unter ganz scharfe Kritik geraten ist, hier auch durch ganz klare tarifliche Vereinbarungen auch einen deutlichen Schritt voran in Richtung Besserung gemacht. Trotzdem gibt es einen Punkt, der mich sehr irritiert hat am Beginn diesen Jahres. Wir wissen von einer großen Firma, die Stammbelegschaft ersetzt hat . . .
Schröder: Der Fall Schlecker?
von der Leyen: Ja, indem sie sie entlassen haben und über eine Leiharbeitsfirma zu einem Bruchteil des Lohns wieder eingestellt haben. Dieser Drehtüreffekt – so nennen wir das – ist nicht der Sinn der Zeitarbeit gewesen. Deshalb werden wir in dieser Woche noch einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen, der genau diesen Drehtüreffekt nicht möglich macht, also dass man nicht die Stammbelegschaft raussetzen kann und dann über Leiharbeit die selben Menschen zu schlechteren Bedingungen wieder einstellen kann.
Schröder: Wie wollen Sie das verhindern?
von der Leyen: Nun, das kann man gesetzlich fassen, indem man genau guckt, also dass es verboten ist, jemanden über Leiharbeit einzustellen, der in den vergangenen sechs Monaten in diesem Betrieb beschäftigt gewesen ist. Damit macht man einfach die Drehtür zu.
Schröder: Inzwischen aber fordert doch selbst die FDP viel weitergehendere Korrekturen. Die FDP sagt, dass Leiharbeiter, wenn sie dauerhaft die gleiche Tätigkeit ausüben wie Stammbeschäftigte, dann sollen sie auch genau so bezahlt werden. Ist das nicht das, was jetzt ansteht?
von der Leyen: Ich freue mich über diesen Vorschlag der FDP, und im Augenblick sind wir in Gesprächen, dass sie diesen Vorschlag auch konkretisieren, denn "auf die Dauer" ist ein dehnbarer Begriff. Das muss dann auch in Monate gefasst werden.
Schröder: Was würden Sie vorschlagen? Drei Monate, wäre das eine Frist, mit der Sie sich anfreunden könnten?
von der Leyen: Ich werde jetzt nicht mit Zahlenspielereien hier beginnen. Mir liegt ein zweites Thema eigentlich noch mehr im Magen. Wenn mit der EU-Freizügigkeit im nächsten Jahr, also der freien Möglichkeit, Arbeitskräfte auch zu entsenden innerhalb Europas, wir nicht verhindern können, wenn ausländische Tarifverträge nach Deutschland importiert werden, wenn das ausartet in ein Lohndumping, dann sitze ich sozusagen mit Argusaugen da und beobachte das. Dann haben wir einen Gesetzentwurf, der dieses über eine Lohnuntergrenze, die dann mit Gewerkschaften und Arbeitgebern in Deutschland besprochen werden muss und dann durch Politik vollzogen werden muss, möglich ist.
Schröder: Das heißt ein Mindestlohn für die Zeitarbeitsbranche, wie ja Gewerkschaften und Arbeitgeber es fordern. Haben Sie die FDP denn da auch schon davon überzeugt?
von der Leyen: Wir sind noch in Gesprächen, denn es ist bekannt, dass die FDP sehr viel mehr Zurückhaltung vor dem Thema Mindestlöhne hat. Aber gerade dieser Blick auf die Besonderheiten der Zeitarbeit im europäischen Kontext ist eben ein anderer, als es allgemein beim Thema Mindestlohn ist.
Schröder: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Frau von der Leyen, in diesem Herbst müssen Sie noch eine Großbaustelle schließen, nämlich die Neuregelung der Hartz-IV-Sätze. Das hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht aufgeschrieben. Sie müssen die Regelsätze für Erwachsene und Kinder neu berechnen und außerdem einen zusätzlichen Bedarf für die Bildung der Kinder dabei berücksichtigen. Wie weit sind Sie denn da? Können Hartz IV-Bezieher davon ausgehen, dass sie im nächsten Jahr mehr Geld bekommen?
von der Leyen: Diese Frage ist ihrerseits legitim. Das Bundesverfassungsgericht hat selber in seinem Urteil am 9. Februar gesagt, die Zahlen für eine korrekte Berechnung des Existenzminimums, was es bei Langzeitarbeitslosigkeit gibt, liegen erst im Herbst vor. Wir arbeiten unter Hochdruck. Der Herbst kommt jetzt bald und Ende September werden diese vielen, vielen Daten zusammengeflossen sein und wir werden in das Verfahren gehen, dass dann auch konkrete Zahlen auf dem Tisch liegen.
Schröder: Haben Sie denn dann überhaupt noch Zeit für eine solide Berechnung, weil im Oktober muss der Entwurf stehen? Sie sagen, Ende September haben Sie erst die Zahlen. Müssen wir da fürchten, dass es da ein ähnliches Chaos gibt wie bei der Einführung von Hartz IV Anfang 2005?
von der Leyen: Der Zeitdruck ist enorm hoch, aber die obersten Richter haben so geurteilt. Sie haben gesagt, die Daten liegen im Herbst vor und ihr müsst das Gesetzverfahren bis Ende des Jahres abschließen. Und ich sage, vielleicht hat das Oberste Gericht auch Recht, denn das Bildungspaket, das sie neu für die Kinder fordern, muss dann auch ab Januar 2011 als Rechtsanspruch zur Verfügung stehen. Und diese Kinder sind nur einmal sechs Jahre und acht Jahre und elf Jahre alt. Insofern lohnt sich der Zeitdruck.
Schröder: Finanzminister Wolfgang Schäuble hat 480 Millionen dafür in den Etat 2011 eingestellt. Kann dieses Geld überhaupt reichen?
von der Leyen: Das ist Aufgabe des Finanzministers. Er kann nicht einfach sagen, ich warte mal, bis etwas kommt Ende des Jahres, aber die Planung für den Haushalt muss er jetzt schon Mitte des Jahres gemacht haben. Und deshalb hat er einen Vorsorgeposten, diese 480 Millionen, erst einmal – ich nenne es mal beiseite gestellt, haushalterisch geht das etwas anders. Und das ist gut, denn damit ist eine grobe Schätzung da. Das sind keine Detailzahlen, keine endgültigen Zahlen, aber er hat als fürsorglicher Finanzminister schon geguckt, wo kommt eine Belastung, die ich persönlich als Bereicherung für unsere Gesellschaft empfinde, auf ihn zu.
Schröder: Woher kommt denn diese grobe Schätzung? Sie sagen ja, erst im September liegen die Zahlen vor. Viele fürchten, dass die Berechnungen dann wieder vom Ergebnis her gehen, so viel Geld steht zur Verfügung und so wird es dann aufgeteilt. So werden dann in Zukunft auch die neuen Regelsätze berechnet.
von der Leyen: Ich muss noch mal deutlich sagen, diese zusätzliche halbe Milliarde hat nichts zu tun mit dem Lebensunterhalt, dem Basisgeld, was für Erwachsene und Kinder da ist, Lebensunterhalt, sondern es ist oben drauf neu das Thema Lernförderung in der Schule für die bedürftigen Kinder, warmes Mittagessen in der Schule oder in der Kita, da wo es angeboten wird, und für mich fast auch mit am wichtigsten nachmittags im Sportverein oder wenn man lieber Musik macht im Kinderorchester mitmachen können, da wo die Gleichaltrigen sind. Also dieses neue Bildungspaket, dafür ist Vorsorge geleistet worden.
Schröder: Diese zusätzlichen Bildungsausgaben wollen Sie über eine Chipkarte abwickeln, damit das Geld tatsächlich für die Kinder ausgegeben wird. Spricht da nicht ein großes Misstrauen den Eltern gegenüber, denen sie genau das zutrauen, dass sie das Geld anderweitig ausgeben?
von der Leyen: Das war jetzt Ihre Formulierung. Ich benutze diese Formulierung bewusst nicht, sondern benutze den Gedanken der Dienstleistung aus einer anderen Lebenserfahrung heraus. Wir nehmen mal das Beispiel Nachhilfe, Lernförderung. Würden wir es uns einfach machen, würden wir den Durchschnittsbetrag errechnen, wie mit der Gießkanne ausschütten, auf das Konto der Eltern überweisen, das wären einige Euro im Monat, und damit wäre das Thema für die Politik , sagen wir, vom Rechtsweg her erledigt. Das wäre aber etwas, was ausgesprochen unbefriedigend ist, denn das Kind, das keine Nachhilfe braucht, hat ein bisschen mehr Geld im Monat, und das Kind, das Nachhilfe braucht, kann damit, mit fünf oder sieben oder neun Euro im Durchschnitt im Monat gar nichts anfangen.
Deshalb gehen wir den etwas anstrengenderen Weg, aber ich glaube, er ist viel wirksamer, auch im Sinne der Chancen der Kinder, zu sagen: Lass uns organisieren, dass in der Schule, um die Schule herum Lernförderung angeboten wird und gezielt diese bedürftigen Kinder dies Angebot von der Schule kriegen. Ja, die Bezahlung kommt dann über die Kinder durch die Bildungskarte. Das ist einfach eine Karte wie man sie kennt, wenn man in die Stadtbibliothek geht zum Beispiel. Die Abrechnung ist unkompliziert, unbürokratisch, modern, wie das jeder mit Chipkarten auch kennt. Aber wir organisieren vor allem als Politik und Gesellschaft, dass die Hilfe angeboten wird und dass die Kinder sie annehmen können an dem Ort, wo sie stattfinden müsste, in der Schule nämlich.
Schröder: Kritiker sagen, die Karte, die kostet erst mal viel Geld. Das ist ein großer Verwaltungsaufwand. Das lohnt sich also nur, wenn da auch große Beträge drüber abgewickelt werden. Das lohnt sich nicht, wenn da im Monat 10 oder 20 Euro verfügbar gemacht werden. An welcher Beträge denken Sie denn?
von der Leyen: Wir haben heute ja Gott sei Dank Kartensysteme. In Recklinghausen werden die gesamten Mittagessen, 400.000 Mittagessen im Jahr an Kitas und Schulen, über Chipkarten abgerechnet. In Stuttgart, das ist ja bekannt, macht die Stadt 50.000 Chipkarten für alle Stuttgarter Kinder, die darüber Vergünstigungen haben, um zum Beispiel bei Sport und Spiel mitmachen zu können. Ich nehme mal das Stuttgarter Beispiel. Was kostet das pro Kind pro Jahr pro Chipkarte? Das ist ein Betrag von 2,59 Euro. Ich glaube, das ist beherrschbar. Und deshalb ist mein Vorschlag, die Bildungskarte, ein ganz modernes Zahlungsmittel, einzuführen. Der Bund würde die Kosten übernehmen. Und das Gute ist, es gibt inzwischen viele Interessenten, auch in den Ländern, die sagen, da würden wir gerne mitmachen.
Schröder: Wenn man die 480 Millionen im Etat nimmt als Größenordnung, als Schätzung auch dafür, dann käme man für den Bedarf für die Kinder auf etwa 20, 25 Euro. Ist das realistisch?
von der Leyen: Der Finanzminister hat einen Vorsorgeposten da gefunden . . .
Schröder: Also es könnte auch deutlich mehr werden?
von der Leyen: Es könnte natürlich mehr werden. Und noch mal, Kaffeesatzleserei habe ich seit Monaten vermieden, und das ist auch gut so, denn mir ist die Warnung des Gerichtes, hört auf mit den Schätzungen ins Blaue hinein, noch gut in Erinnerung im Gerichtssaal, und die beherzige ich auch.
Schröder: Frau von der Leyen, Sie sind im Kabinett jetzt schon ein Schwergewicht. Sie werden in Zukunft auch in der Partei eine wichtigere Position einnehmen, nämlich die der stellvertretenden Parteivorsitzenden. Wie werde Sie diesen Einfluss nutzen? Sie gelten als Vertreterin des sozialpolitisch orientierten Flügels. So rückt die Union nach links?
von der Leyen: Ich wüste gar nicht, warum Sozialpolitik links sein sollte, sondern Sozialpolitik für mich heißt, wenn sie die Grundsatzfrage stellen, was hält unsere Gesellschaft zusammen: Es ist eben nicht nur der Euro, sondern da ist ganz viel Zwischenmenschliches, die Frage, ob es gerecht zugeht.
Die Frage, die mich zum Beispiel ganz stark umtreibt, was müssen wir eigentlich tun in der Kindheit, dass Menschen später Verantwortung übernehmen können? Also nicht nur sagen, übernehmt mal Verantwortung als Erwachsene, sondern ihnen auch in der Kindheit die Möglichkeiten geben, durch Bildung, durch Zuwendung, durch Menschen, die sie begleiten, durch Anerkennung später auch dann in der Lage zu sein, Verantwortung zu übernehmen. Das heißt auch, über sich hinaus zu wachsen. Das ist für mich gute Sozialpolitik, Gerechtigkeit, Leitplanken mit Maß und Mitte zu schaffen . . .
Schröder: Und da gibt es noch Nachholbedarf in der Union?
von der Leyen: Da gibt es in diesem Land immerzu Weiterentwicklungsbedarf aus dem einfachen Grund, die Welt bleibt nicht stehen. Das zeigt die Werte des sich Kümmerns um einander und für einander sorgen und Gerechtigkeit, aber auch Leistungsbelohnung, um das richtige Maß zu bringen. Die bleiben bestehen, sie sind nur in einer sich ändernden Welt immer wieder neu zu definieren.
Schröder: Die Regierung, Ihre Partei, stecken im Umfragetief. Sind da programmatische Korrekturen nötig, um hier wieder Boden unter die Füße zu bekommen?
von der Leyen: Ich bin ganz tief davon überzeugt, dass vor allem zügige, gute Regierungsarbeit das entscheidende Maß ist, an dem die Menschen beurteilen, haben sie Vertrauen zu den Regierungsparteien oder weniger, lösen die Probleme. Das ist die Frage, die die Menschen stellen.
Schröder: Und da scheint das Vertrauen derzeit nicht so groß zu sein.
von der Leyen: Und ich fand auch, dass wir in den letzten Monaten zu viel Zeit gebraucht haben für Abstimmungsprozesse. Es ging zu viel hin und her. Das erweckt auch den Eindruck, ihr seid euch nicht einig in dem Weg, den ihr gehen wollt. Wenn dann ein Weg beschritten wurde, war schon sehr viel zerredet. Und die großen Fragen, die jetzt vor uns stehen, das Ganze Thema der Bildungsbeteiligung der bedürftigen, der benachteiligten Kinder, das ganze Thema Energie, erneuerbare Energie, die Gesundheitsreform, die große Frage Bundeswehr in einer modernen Welt, das sind Themen, die jetzt auf der Agenda stehen. Und genau daran wollen wir auch gemessen werden, wie gut und wie zügig und wie zielstrebig wir die auch umsetzen.
Schröder: Frau von der Leyen, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
von der Leyen: Ich danke Ihnen.