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Daniel Cohen: Unsere modernen Zeiten, Wie der Mensch die Zukunft überholt

Ökonomen unterschiedlicher Glaubensrichtung halten unseren Alltag im Griff. Börsenkurse, Inflation, Arbeitslosenzahlen: Der eine leitet aus den Daten Zuversicht ab, der andere den gesellschaftlichen Niedergang. Daniel Cohen gehört zu den Ersteren. Er ist Hochschullehrer in Paris und berät u. a. die französische Regierung in Wirtschaftsfragen. Vor einigen Jahren sorgte sein Buch "Fehldiagnose Globalisierung" für Furore. Cohen erhielt dafür den Titel "Wirtschaftswissenschaftler des Jahres 1997". Jetzt ist von ihm ein kapitalismuskritischer Essay erschienen: "Unsere Moderne Zeiten. Wie der Mensch die Zukunft überholt". Günter Rohleder hat das neue Cohen-Buch gelesen.

Günter Rohleder | 16.07.2001
    Der technische Fortschritt gilt als Hoffnungsträger und zugleich krempelt er unsere Lebens- und Arbeitswelt um. Berufe verändern sich radikal, oder verschwinden einfach. Aber es gibt auch Produktionsstätten, die der gnadenlosen Beschleunigung widerstehen. Das Theater zum Beispiel. Die Interpretation einer Rolle hat sich über die Jahrhunderte hinweg kaum verändert. Und unveränderbar bleibt die Zeit an das Sprechen des Schauspielers geknüpft. Ökonomisch betrachtet ein Problem, stellt der Autor fest:

    Weil es von der technischen Welt abgeschnitten ist, wird das Theater immer kostspieliger - jedenfalls im Vergleich zu Kino und Fernsehen, vor allem aber im Vergleich mit der Kostenentwicklung in anderen Bereichen. So ist es beispielsweise heute im Unterschied zu Shakespeares Zeiten bedeutend teurer, ins Theater zu gehen, als eine Bibel zu kaufen. Die Drucktechnik hat eben vom technischen Fortschritt profitiert, das Theater aber nicht.

    Rechnet man die Inflation heraus, müssen die Theater heute ein Mehrfaches von dem einnehmen, was zu Shakespeares Zeiten notwendig war. Diese Kostenkrankheit, so Daniel Cohen, macht die Aufführung zu einer unverhältnismäßig teuren Angelegenheit. Die Besucherzahlen der Theater sinken stetig, und den Künstlern geht es schlecht. Viele sind auf Nebenjobs angewiesen, und auch wenn einige Stars gut verdienen, fällt es der Künstlerschaft insgesamt schwer, auch nur ein mittelmäßiges Einkommen zu erzielen.

    Wie ist das möglich? Haben denn der technologische Fortschritt und die Produktivitätssteigerung nicht dazu geführt, dass seit den Zeiten Shakespeares alles viel billiger geworden ist? Ist es heute nicht viel einfacher, für Beleuchtung zu sorgen, Kostüme herzustellen, die Schauspieler von einem Ort zum anderen zu bringen? Sicher, doch all dieser Fortschritt läuft auf ein Ergebnis hinaus: Die materiellen Güter werden immer billiger, während der Mensch zur kostspieligsten Ware wird. Weil es heute viel teurer ist, einen Schauspieler, einen Komparsen oder einen Regisseur zu verpflichten oder eine Miete zu bezahlen, deren Preis sich am allgemeinen Lohnniveau orientiert, sind eben in einem Bereich wie dem Theater, dessen 'Rohmaterial' in erster Linie der Mensch bildet, die Kosten enorm gestiegen.

    Kostenfaktor Mensch - wir sind mittendrin in "unseren modernen Zeiten", die der Autor mit seinem Essay einfangen will. Die kapitalistische Produktivitätsmaschine stellt uns vor ein Paradox: Einerseits befreit sie uns von Mühsal und Leid mit Hilfe der Technik, andererseits unterwirft sie uns immer stärker ihrer gnadenlosen Kosten-Nutzen-Rechnung. Mit einer stilistischen Leichtigkeit, wie man sie sich von deutschen Wissenschaftlern immer wieder wünscht, bewegt sich Daniel Cohen durch die Geschichte von Kapital und Arbeit. Von der Standardisierungsbesessenheit, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Fließbandproduktion aufkam, bis zum Flexibilitätswahn der digitalen Umwälzungen von heute. Und der Autor kommt zu dem Schluss, dass die Computerrevolution, die Befehlsstruktur der Arbeitswelt nur noch weiter zuspitzt:

    Die Autonomie des Arbeiters, die die Angelsachsen als 'empowerment' bezeichnen und die darin besteht, ihm größere Verantwortung zu übertragen, ist letztendlich das Mittel, ihn zur direkten Rechenschaft über seinen Einsatz zu verpflichten. In der Terminologie der Ergonomie verändert die moderne Welt radikal die Natur des Vorgegebenen: Heute geht es nicht mehr um körperliche Anstrengung oder die Aufmerksamkeit, die man seiner Arbeit widmet, man greift direkt auf die Persönlichkeit des Arbeiters zu.

    Effizienzsteigerung bis zur totalen Selbstkontrolle. Ständig wird die Arbeitsorganisation verfeinert. Die Arbeitslosigkeit ist allgegenwärtig - in erster Linie als soziale Beziehung zwischen denen, die Arbeit haben und denen, die keine haben, wie Daniel Cohen betont. Und er beleuchtet die unterschiedlichen Facetten der Arbeitslosigkeit: Die strukturellen, die in der Produktivitätsmaschine Kapitalismus angelegt sind, die wirtschaftspolitischen im permanenten Lavieren zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, die bürokratischen der Arbeitslosenverwaltung - eher Barriere als Anreiz, aktiv zu werden - und die psychologischen der gesellschaftlich vorgegebenen Standards sowie der Konkurrenz um einen Arbeitsplatz. In der von Henry Ford inspirierten Fließbandproduktion blieb der Arbeiter grundsätzlich ein Arbeiter, egal welche Laufbahn er einschlug. Heute unterscheidet die Ökonomie nur noch verschiedene Typen von Humankapital. Das Humankapital, das wir mit uns herumtragen, kann an Wert gewinnen und verlieren, wie eine Aktie an der Börse. Doch der einzelne läuft ständig Gefahr, so Daniel Cohen, alles zu verlieren.

    Der Kapitalismus scheint heute - wie übrigens ganz zu Anfang seiner Geschichte - von seiner Unfähigkeit zerfressen zu werden, allen eine Arbeit zu geben, außerdem durch die verheerenden Folgen, die die Maschinisierung für die allermeisten mit sich bringt.

    Aber vor konkreten Schlussfolgerungen aus seiner Analyse schreckt der Autor zurück. Er erklärt "unsere moderne Zeiten" zu einer noch nicht abgeschlossenen Revolution mit offenem Ausgang. Und vage fügt er hinzu, es mangele an einer spezifischen Sozialregelung.

    Und hier liegt auch ein Grundproblem des Buches. Zwischen all den anregenden und vielschichtigen Überlegungen zur Krisengeschichte des Kapitalismus, liest es sich auch wie eine Kampfansage gegen diejenigen, die das angebliche Ende der Arbeit proklamieren. "Fehldiagnose Ende der Arbeit" ist im Untertitel der deutschen Ausgabe zu lesen. Daniel Cohen bezieht sich zu Beginn seines Essays mit einem kurzen Zitat auf den US-amerikanischen Publizisten Jeremy Rifkin, der Mitte der 90er Jahre mit seinem Buch "Das Ende der Arbeit" den Auftakt zu einer folgenreichen Debatte gab. Immer wieder kommt Cohen auf die These vom 'Ende der Arbeit' zurück und versucht sie zu entkräften. Am Ende seines Buches schreibt er:

    Statt unserer Gesellschaft zu helfen, eine Lösung für die neuen, drängenden Probleme zu finden, verstärken diejenigen, die vom "Ende der Arbeit" sprechen, ganz im Gegenteil das Unwohlsein, indem sie ein Ende ankündigen, das nicht kommen wird. Ihre Behauptung, alle Bedürfnisse könnten erfüllt werden, wo doch das Gegenteil der Fall evident ist, trägt zur allgemeinen Verwirrung bei. Die Frage der Arbeit selbst reduzieren sie dabei auf ein Mehr oder Weniger an verausgabter Energie, wo sie doch weit mehr ist: die Schicksalsfrage der Menschheit.

    In dieser Kernfrage seines Buches hat Cohen das Thema verfehlt. Jeremy Rifkin und andere Theoretiker - André Gorz etwa wird nicht einmal erwähnt - , die sich mit den Umbrüchen der Arbeitsgesellschaft befassen, sind keine naiven Phantasten, wie der Autor suggeriert. Mit "Ende der Arbeit" meint Rifkin das Ende fester Arbeitsverhältnisse und als Ausweg aus der strukturellen Arbeitslosigkeit plädiert er für neue Arbeitsformen jenseits der kapitalistischen Produktivitätslogik. Arbeit ist mehr als Lohnarbeit, mehr als einen Job haben oder nicht. Arbeiten bedeutet, sich aktiv an der gesellschaftlichen Entwicklung zu beteiligen. Und ob dies mit sinnvollen Leitzielen und in menschenwürdiger Weise gelingt, ist in der Tat eine Überlebensfrage.

    Soweit die Rezension von Günter Rohleder. Er stellte das neue Buch vor von Daniel Cohen: Unsere moderne Zeiten. Wie der Mensch die Zukunft überholt. Erschienen ist es im Campus-Verlag, zählt 151 Seiten und kostet 42 Mark.