Donnerstag, 25. April 2024

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Daniel Kehlmann und der Dreißigjährige Krieg
"Gott begrüßt seine Opfer"

In Daniel Kehlmanns Bestseller "Tyll" kommen Gott und Religion nicht gut weg. Glaubensvorstellungen erscheinen in dem Roman, der im Dreißigjährigen Krieg spielt, als absurd, heuchlerisch und wirkungslos. Das passt zur Rolle der Religion in Kehlmanns literarischem Werk.

Christian Röther im Gespräch mit Benedikt Schulz | 15.05.2018
    Ein bei Friedhofsausgrabungen gefundener, menschlicher Schädel von einem Toten steht am 29.02.2016 in Hamburg in einem Labor auf dem Tisch.
    "Gott ist nicht zu rechtfertigen", sagt eine Figur in Daniel Kehlmanns Roman "Ruhm" (2009) (picture-alliance / dpa / Daniel Bockwoldt )
    Mit dem Prager Fenstersturz beginnt am 23. Mai 1618 der Dreißigjährige Krieg. Zum 400. Jahrestag dieses Ereignisses ist das Thema in den Bestsellerlisten umfangreich vertreten – nicht nur bei den Sachbüchern, sondern auch durch den Roman "Tyll" von Daniel Kehlmann. Der verhandelt auch Religionsthemen – allerdings nicht entlang des Konfessionskonflikts evangelisch gegen katholisch, der im Dreißigjährigen Krieg unter anderem ausgefochten wurde. Kehlmann präsentiert seinen Lesern stattdessen ein großes Durcheinander an Glaubensvorstellungen.
    Dabei geht es nicht nur christlich zu. Auch christliche Gelehrte glauben im Roman an Drachen, die sie mit Hilfe von Musik anlocken wollen.
    "Es gab gar nicht die Möglichkeit, sich zu entscheiden zwischen einem rationalen Weltbild und einem Weltbild, in dem Hexen, Gespenster und Magie vorkommen. Sondern auch die Wegbereiter der Wissenschaft haben verschiedene Dinge für existent gehalten, die wir Aberglauben nennen würden. Das kommt ja bei mir auch vor: Die Drakontologie, die Drachenkunde, war tatsächlich ein Wissenschaftszweig." (Daniel Kehlmann im November 2017 im Deutschlandfunk)
    Beten bis der Tod kommt
    Mit seinem Bestseller "Die Vermessung der Welt" (2005) hatte Kehlmann der aufgeklärten Wissenschaft ein literarisches Denkmal gesetzt, wenn auch ein leicht spöttelndes. "Tyll" spielt nun rund 200 Jahre früher in voraufklärerischer Zeit. Es wimmelt von Mystik und Zauberei, christlichen Heiligen und vorchristlichen Baumgeistern.
    "Wir beteten viel, um den Krieg fernzuhalten. Zum Allmächtigen beteten wir und zur gütigen Jungfrau, wir beteten zur Herrin des Waldes und zu den kleinen Leuten der Mitternacht" (Zitat aus "Tyll")
    Um sich vor dem Krieg zu schützen, beten Kehlmanns Figuren zu Beginn des Romans sicherheitshalber zu allen Göttern und Geistern, die ihnen einfallen. Es hilft aber nichts, sie werden trotzdem niedergemetzelt.
    Der Schriftsteller Daniel Kehlmann
    Der Schriftsteller Daniel Kehlmann (Deutschlandradio / David Kohlruss)
    Gewalt und Doppelmoral
    Der Dreißigjährige Krieg war ohnehin keine Werbeveranstaltung für das Christentum, aber Kehlmann nutzt nicht den Konfessionskonflikt, um die Anklage gegen das Christentum zu führen. Sondern er präsentiert Religion an sich als absurd und widersprüchlich. Zum Beispiel, wenn ein katholischer Inquisitor erst einen vermeintlichen Hexer für dessen misslungene Zauberei auf dem Scheiterhaufen verbrennen lässt, um sich dann später selbst wegzuzaubern. Ein hoher Vertreter der katholischen Kirche handelt hier also mit Doppelmoral.
    Kehlmann bedient sich der negativen Faszination von Religion, macht sich fast schon lustig darüber, dass Religion nicht funktioniert und Gebete nicht helfen. Stattdessen können Religionen Gewalt in die Welt bringen, auch heute noch.
    "Syrien zerfällt nach wie vor. Wir haben irrationale Mächte, die überall nach der Macht greifen. Die Aufklärung ist im Augenblick, als politische Macht zumindest, sehr im Rückzug begriffen. Und die Religionskriege – etwas, was wir wirklich dachten, das überwunden ist – sieht plötzlich weniger überwunden aus denn je." (Daniel Kehlmann im November 2017 im Deutschlandfunk)
    Man kann "Tyll" also lesen als Warnung von der zerstörerischen Kraft der Religion. Das fügt sich ein in Kehlmanns Werk, in dem Religion oft nicht gut wegkommt. Vor allem in Form der katholischen Kirche.
    Ein ungläubiger Pfarrer
    Kehlmann hat in Wien eine katholische Privatschule besucht, die von Jesuiten betrieben wird. In "Tyll" ist es dann ein Jesuit, der den unchristlichen Zaubertrick erfolgreich durchführt und sich damit selbst aus einer gefährlichen Situation rettet.
    Schon in Kehlmanns Roman "F" (2013) war ein katholischer Pfarrer eine der Hauptfiguren – ein Pfarrer, der nicht an Gott glaubt. Der Katholizismus wirkt lächerlich, wenn der Pfarrer über das Abendmahl den Kopf schüttelt.
    "Fast könnte man denken, diese Menschen glauben tatsächlich, eine Oblatenscheibe werde zum Körper eines gekreuzigten Mannes. Aber natürlich glauben sie es nicht. Man kann das nicht glauben, man müsste geistesgestört sein." (Zitat aus "F")
    Daneben zielen Kehlmanns Kritiken auch auf Gott selbst.
    Glauben Sie an Gott? "Da würde ich die Antwort des französischen Mathematikers, Physikers und Astronomen Pierre-Simon Laplace wählen: Man braucht diese Hypothese nicht. Die Wissenschaftsgeschichte der letzten 200 Jahre war eine Folge von Entdeckungen, die uns gezeigt haben, dass die Welt viel verwirrender ist und wir in ihr viel heimatloser sind, als wir es gerne glauben wollten. Heute merken wir, dass unsere traditionelle Vorstellung von "Ich" und "Seele" stark anzweifelbar ist. Wahrscheinlich gibt es kein "Ich" und wir beide sitzen auch nicht hier und sprechen miteinander. Es läuft nur ein Prozess ab, aber an ihm sind keine Personen beteiligt. So schockierend ist das dann allerdings auch wieder nicht, denn die Buddhisten haben das immer schon gesagt." (Daniel Kehlmann im Oktober 2012 in der Zeitung "Die Presse")
    Gott "unangenehme Gegenfragen" stellen
    An der "Hypothese" Gott arbeitet sich der Schriftsteller immer wieder ab, etwa in seinem Roman "Ruhm" (2009). Den bezeichnete der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" als "theologisches Experiment".
    "Gott ist nicht zu rechtfertigen, das Leben entsetzlich, seine Schönheit skrupellos, selbst der Frieden voll Mord … keine Hoffnung besteht" (Zitat aus "Ruhm")
    Kehlmann stellt darin explizit die Theodizee-Frage: Wie kann Gott gut sein, wo es doch so viel Leid in der Welt gibt?
    "Ich glaube tatsächlich, dass der Punkt, wo religiöse Welterklärungen moralisch scheitern, die sogenannte Theodizee ist. Gauß sagt das bei mir einmal in der 'Vermessung der Welt': Er glaubt nicht, dass ein jüngstes Gericht stattfinden wird, weil vor Gericht kann man sich auch verteidigen und man könnte einige für Gott sehr unangenehme Gegenfragen stellen bei diesem jüngsten Gericht. Und das ist tatsächlich eine Überzeugung, die ich habe." (Daniel Kehlmann im Januar 2009 im Deutschlandfunk)
    Seine Dankesrede für den Candide-Preis überschreibt Kehlmann im Jahr 2005 mit den Worten "Gott begrüßt seine Opfer" – ein Zitat aus der TV-Serie "Die Simpsons".
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    "Gott begrüßt seine Opfer" - hier in der Kirche von Springfield (Screenshot aus "The Simpsons", Episode 161 (1996) )
    Das Erbeben und den Tsunami, die an Weihnachten 2004 über 200.000 Tote gefordert hatten, bezeichnet Kehlmann in der Rede als "jüngsten göttlichen Atomschlag". Der ehemaligen Jesuitenschüler entwirft also das Bild eines Gottes, der seine Schöpfung immer wieder gewaltsam angreift und es nicht gut meint mit den Menschen – ob heute in Syrien oder vor 400 Jahren in Mitteleuropa.