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Herfried Münkler über den Dreißigjährigen Krieg
"Konfessionen als Zündler und Brandbeschleuniger"

Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler sieht Parallelen zwischen den Kriegen im Vorderen Orient und dem Dreißigjährigen Krieg, der vor 400 Jahren begann. Wer sich "mit diesem Krieg beschäftigt, kann eine Menge lernen zum Verständnis der eigenen Zeit", sagte Münkler im Dlf.

Herfried Münkler im Gespräch mit Andreas Main |
    Hart aber fair am 05.09.2016 im Studio Berlin Adlershof in Berlin Herfried Münkler stellt sein Buch "Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft?" vor.
    Herfried Münkler hat ein Buch über den Dreißigjährigen Krieg vorgelegt - und mahnt an, Lehren für heute aus der Geschichte zu ziehen (picture alliance/ dpa/ Revierfoto)
    Andreas Main: Seine Bücher landen regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste, so auch sein jüngstes. Herfried Münkler wird viel gelesen. Er ist sicher einer der einflussreichsten Politikwissenschaftler hierzulande. Im Herbst hat er ein Monumentalwerk vorgelegt. Es hat den Titel "Der Dreißigjährige Krieg: Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618-1648". Der Beginn dieser europäischen Katastrophe, deren Ursachen selbstverständlich noch weiter zurückreichen, wird datiert auf den 23. Mai 1618, den sogenannten "Prager Fenstersturz" - vor ziemlich genau 400 Jahren. Was dann folgte: einerseits unermessliches Leid, andererseits danach eine Friedensordnung, die Maßstäbe gesetzt hat. All das massiv durchwirkt und durchtränkt mit konfessionellen Konflikten und religiöser Aufladung.
    Darüber spreche ich jetzt mit Professor Herfried Münkler, Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität in Berlin. Herr Münkler, schön, dass Sie ins Studio gekommen sind, hallo.
    Herfried Münkler: Gerne bin ich hier.
    Main: 2017 wurde das Reformationsjubiläum groß gefeiert: 500 Jahre Luther und die Folgen. Jetzt im Jahr 2018 noch eine runde Zahl: 400 Jahre Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Das allerdings - das ist jetzt mein Eindruck - eher begangen wie ein Jahrestag unter vielen. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen, dass da so unterschiedlich drauf eingegangen wird?
    Münkler: Na ja, gut, ein Kriegsausbruch ist jetzt nicht unbedingt was zum Feiern, nicht? Das gilt für unsere post-heroische Gesellschaft erst recht. Auch ist eigentlich ganz unklar, wie die Verbindungen zwischen 1517 und 1618 sind. Der Weg in den Krieg, wenn denn die Konfessionen dabei eine Rolle spielen, dann spielen sie sie eher im Hinblick darauf: Sie provozieren herum, sie provozieren sich gegenseitig und sie sind damit beschäftigt, immer wieder Reichsexekutionen durchzusetzen oder den Aggregatzustand des Friedens so in Zweifel und Misskredit zu bringen, dass es naheliegend ist, in den Zustand des Krieges überzuwechseln.
    Eine historische Illustration aus dem 19. Jahrhundert zeigt den Prager Fenstersturz
    Der Prager Fenstersturz - eine Frage der Verfassung (imago stock&people)
    Main: Könnte ich das platt formulieren: Die Konfessionen sind Zündler?
    Münkler: Sie sind Zündler und sie sind gleichzeitig Brandbeschleuniger. Also, ich glaube nicht, dass man unbedingt sagen muss, weil die Reformation stattgefunden hat und dann mit einem Abstand von 50, 60 Jahren Gegenreformation einsetzt, war dieser Krieg unvermeidlich, sozusagen determiniert.
    Guckt man genau hin, kann man sagen: In Prag spielt bei dem Fenstersturz eigentlich die Verfassungsfrage, also die Frage "Soll die Macht bei den böhmischen Ständen liegen oder aber bei dem Herrn aus dem Hause Habsburg?" eine mindestens ebenso wichtige Rolle, wie der konfessionelle Gegensatz. Aber nachdem die Verfassungsfrage mal da war, wird gewissermaßen der Konflikt auch zu einem Konflikt zwischen dem absolutistisch ausgerichteten gegenreformatorischen Projekt Ferdinands auf der einen Seite und dem eher der Reformation, von Utraquismus über Lutheraner bis hin zu Reformierten reichenden Teil der böhmischen Stände. Also, "Zündler" und "Brandbeschleuniger" ist ganz schön.
    "Ein Blick in einen fernen Spiegel"
    Main: Sie sind kein Historiker. Sie sind Politikwissenschaftler.
    Münkler: Ja.
    Main: Im Sinne politischer Bildung: Warum ist es wichtig, sich mit diesem Krieg auseinanderzusetzen?
    Münkler: Ja, es gibt viele Gründe. Also, greifen wir mal zwei, drei heraus. Erstens, Sie haben ja gesagt, Untertitel "deutsches Trauma". Im späten 19. Jahrhundert wird dieser Krieg plötzlich wieder virulent im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Er taucht dann auf in der Vorstellung, wenn wieder ein europäischer Krieg stattfindet, dann darf er unter keinen Umständen auf deutschem Boden ausgetragen werden. Der ältere Moltke, der legendäre Sieger von Königgrätz und Sedan, spricht darüber.
    Graf Schlieffen setzt das um in ein Projekt: nämlich Offensivkriegführung unter allen Umständen, im Konfliktfall schnelle Angriffe nach Westen, um zu vermeiden, dass Deutschland Kriegsgebiet wird. Man kann also sagen, die Deutschen haben aus dem Dreißigjährigen Krieg gelernt. Wir wollen nicht noch einmal, dass gewissermaßen halb Europa sich bei uns trifft und hier Krieg führt.
    Aber sie haben gleichzeitig das Falsche gelernt, nämlich dieser Schlieffen-Plan, erstens scheitert er und zweitens führt er dazu, dass der Erste Weltkrieg überhaupt der Erste Weltkrieg wird und diese Intensität bekommt.
    Im Rahmen des Schlieffenplans rücken deutsche Soldaten 1914 in Frankreich ein
    Deutsche Soldaten marschieren 1914 in Frankreich ein - für Herfried Münkler ist der Angriffskrieg eine Folge des Dreißigjährigen Krieges (imago stock&people)
    Und dann würde ich sagen, dieser Dreißigjährige Krieg ist das vielleicht eindrucksvollste und griffigste Beispiel von Kriegen, von denen ich sage, es sind Kriege vom 'Typ Dreißigjähriger Krieg'. Also, der Peloponnesische Krieg, den der große griechische Historiker Thukydides beschrieben hat, wäre ein solcher. Vielleicht der Achtzigjährige Krieg in Frankreich, im Frankreich des 14./15. Jahrhunderts. Oder in unserer eigenen Gegenwart die Kriege an den großen Seen im Subsaharischen Afrika der 90er- und Nuller-Jahre. Und natürlich die Kriege im Vorderen Orient.
    Also, was haben wir da? Verfassungskonflikt, Religionskonflikt, Staatenkrieg, Verschieben von Grenzen, Hegemonialkrieg und die Frage, welche Ordnung? Gleichgewicht mit einem Führenden - oder aber Imperialität? Also, es sind Kriege, in denen Innen und Außen zusammenfließen, in denen eine besonders hohe Intensität von Werturteilen, also die religiöse Frage, eine Rolle spielt, in denen es deswegen zu einer Intensivierung von Feindschaft kommt, und die, weil so viele Überlappungen sind, so schwer zu beenden sind, nicht?
    Die verhandeln in Münster und Osnabrück vier Jahre, um diesen Krieg zu beenden - und acht Jahre zuvor hatten sie schon beschlossen, wie sie das verhandeln wollen, und dass sie das verhandeln wollen. Also, man kann sagen, das sind Kriege, die sich lange hinziehen, schwer zu beenden sind, die auch eine Dimension der Ökonomisierung aufweisen, weil es zunehmend Menschen gibt, die vom Kriege leben und deren Hauptziel nicht die Durchsetzung eines bestimmten Projekts ist, sondern einfach nur die Lizenz, weiterhin Gewalt ausüben zu dürfen.
    Und in diesem Sinne ist der Dreißigjährige Krieg einer, der unseren Blick schärft auf die Gegenwart, auch auf die Risiken, in denen wir stehen, wenn diese europäische Peripherie tatsächlich ein solcher Krieg werden würde. Und insofern könnte ich sagen, möchte ich sagen: Beschäftigung mit diesem Krieg ist so etwas wie der Blick in einen fernen Spiegel, den ich da halt aufgestellt habe vor 400 Jahren. So ungefähr steht er da. Wir schauen hinein, aber wir sehen nicht nur das, was er unmittelbar bespiegelt, sondern gleichzeitig sehen wir auch unsere Gegenwart. Heißt aber natürlich, wenn ich das so beschreibe, wir sehen das alles nicht gestochen scharf, nicht? Das macht auch gar keinen Sinn, jedenfalls die Gegenwart gestochen scharf zu sehen, als Palimpsest, also Überblendung der Vergangenheit. Aber wir sehen Strukturen. Und insofern, glaube ich, kann man, wenn man sich mit diesem Krieg genauer beschäftigt, eine Menge lernen zum Verständnis der eigenen Zeit.
    "Religion hat die Funktion, kampffähige Großgruppen zu bilden"
    Main: Lassen Sie uns mal versuchen, die Parallelen zwischen Dreißigjährigem Krieg und den Kriegen in Afrika, in der Sahelzone und im Vorderen Orient, die Parallelen herauszuarbeiten. Also, einmal ganz platt formuliert: Hinz und Kunz greifen unkontrolliert zu Waffen und Jussuf und Ibrahim zur Kalaschnikow? Das ist auf jeden Fall eine Parallele - und das führt zu einer diffusen Gewalt, unter der die Zivilisten besonders leiden? Ist das so - platt?
    Münkler: Ja, aber es ist nicht der Krieg von Hinz gegen Kunz und so weiter, sondern die Religionen oder die Konfessionen kommen dann hier als Organisationsgrößen für die Hinze und die Kunze - wenn ich das mal so fortführen darf - herein, sodass also die gewissermaßen sagen, wer Freund und wer Feind ist. Das passt nicht immer, aber in der Anfangsphase ist es so: Katholiken versus Protestanten - und jeder, der Protestant ist, ist für einen Protestanten Freund, und wer Katholik ist, ist Feind und umgekehrt. Das ist etwas, was hier kennzeichnend ist. Und schauen wir in den Vorderen Orient oder in die Sahelzone. Da kann man sagen, hier haben wir ähnliche Formen der Sortierungen. In manchen Gebieten ist das, ja, Mohammedaner, Muslime gegen Christen. Und in anderen Gebieten ist das der Kampf der Muslime untereinander, was dann jetzt eher an dem europäischen Krieg wäre, also Sunniten versus Schiiten. Also, die Religion hat hier die Funktion sozusagen, kampffähige Großgruppen zu bilden.
    Und darin konkurriert sie dann mit denen, die ökonomisch, über Geld und Einkauf von militärischer Arbeitskraft, das Ganze organisieren, oder aber mit denen, die hegemoniale Ziele verfolgen. Also, wir wollen nicht vergessen, der Kardinal der römisch-katholischen Kirche, Richelieu, betreibt eine Politik, bei der er notorisch die protestantische Seite unterstützt. Das hat jetzt nichts damit zu tun, dass er die Protestanten so mag, aber die kämpfen nun mal gegen Habsburg, nicht? Und der Gegensatz ist einer zwischen den Franzosen und den Habsburgern.
    Der Tod des schwedischen Königs Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen (1632)
    Der Tod des schwedischen Königs Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen (1632) - Wallenstein triumphierte (imago)
    Also zahlt der Gustav Adolf ordentlich viel Geld, damit der eine möglichst starke Armee aufbauen kann, die sich in Deutschland gegen den Kaiser, sprich gegen Tilly und später gegen Wallenstein, durchsetzen kann. Das können wir ja auch hier beobachten, wie äußere Mächte, sei das nun der Iran oder Saudi-Arabien oder die Türkei und demnächst vielleicht auch wieder Ägypten, diese Konflikte auch benutzen, um die Frage auszufechten, wer in diesem Raum das Sagen hat. Das Sagen, buchstäblich, nicht?
    Und das wird dann teilweise mit konfessionellem Hintergrund betrieben. Aber teilweise spielt die Konfession dann gar keine große Rolle. Also, dass Dänemark und Schweden mehrfach aneinandergeraten, wiewohl es beides lutheranische Mächte sind, das hat einfach was mit der Frage "Wer ist der Hegemon des Ostseeraums?" zu tun.
    "Der sunnitisch-schiitische Konflikt als reinster Spiritus"
    Main: Wenn die Konfessionen brandbeschleunigend gewirkt haben im Dreißigjährigen Krieg - der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten, ist das dann quasi auch Spiritus in dem Konflikt, den wir heute erleben?
    Münkler: Reinster Spiritus, kann man sagen. Also, dass Leute, die vorher in Syrien als einem durchaus säkular-toleranten und multireligiösen Land so verfeindet sind, hat damit was zu tun, dass die Fackel der Feindschaft hereingetragen ist. Aber sie hat dann - wenn Sie so wollen - das Pulver gefunden, das sich entflammen ließ. Und das waren zweifellos die Konfessionen, über die dann Nachbarschaften, die vorher funktioniert haben, in Feindschaften verwandelt worden sind.
    "Arabischer Frühling analog zu 1618"
    Main: Wenn wir Ihr Analysemodell für religiös grundierte Kriege der Gegenwart, wenn wir das mal weiterspinnen oder noch mal einen Schritt zurückdenken, dann wäre der Arabische Frühling, also jene Serie von Protesten und Aufständen in der arabischen Welt, dann wäre das quasi vergleichbar mit den Unruhen vor 400 Jahren in Prag und somit der Beginn jenes Krieges im arabischen Raum?
    Münkler: Würde ich sagen, ja. Also, wenn wir sagen, Arabischer Frühling ist Verfassungskonflikt und die Frage, ob ein paar Familien, Oligarchen oder wie auch immer, das Sagen haben, oder ob das breiter gelagert wird, dann hätten wir eine Analogie hier zu 1618. Man kann auch sagen, natürlich gibt es so etwas wie eine wechselseitige Provokation auf religiöser Grundlage. Also, Donauwörth ist ein schönes Beispiel, nicht? Da wohnen so ein paar katholische Familien, und wenn die ihre Prozession zu irgendeiner Wallfahrtskirche machen, die außerhalb von Donauwörth führt, dann stört das niemanden. Aber dann kommen ein paar junge Jesuiten aus Ingolstadt und sagen ihnen, dass …
    Main: Und dann mussten die Flaggen … gezeigt werden.
    Demonstranten gegen die ägyptische Regierung auf dem Tahrir-Platz in Kairo im Februar 2011.
    Der Arabische Frühling vergleichbar mit dem Prager Fenstersturz als Ausgangspunkt eines Groß-Konflikts? (picture alliance/dpa - Andre Pain)
    Münkler: Genau. Das nenne ich also akustische und symbolische Raumnahme, nicht? Dann marschieren sie mitten durch die Stadt. Und dann kommt es zu Schlägereien und Gewalt und das eskaliert dann auch. Reichsexekution. Also eine sehr gefährliche Angelegenheit, die sich hier entwickelt.
    Na ja, und dann fällt natürlich dem Zeitgenossen ein: die Umzüge etwa des Oranierordens in Nordirland und sinnvollerweise natürlich mit Musik und allem Drum und Dran durch die katholischen Viertel. Also, zu sagen, diese Politik der großen Provokationen, der Nadelstiche gegen die kollektive Identität der anderen Seite, die da hier jedenfalls konfessionell bestimmt wird, die beobachten wir in unserer Gegenwart und die beobachten wir hier in der Vergangenheit.
    Und deswegen kann man sagen: Man muss sehr aufpassen, wenn solche Provokationen beginnen! Denn schauen wir nach Deutschland, kann man sagen: Na ja, gut, das war vorher eine segmentierte Gesellschaft, schön. Die einen waren Protestanten, die anderen Katholiken, aber sie haben auf der Grundlage des Augsburger Religionsfriedens eigentlich ganz passabel zusammengelebt, nicht? Also, friedliche Koexistenz könnte man das fast sagen. Und die Frage ist ja: Warum funktioniert das dann plötzlich nicht mehr? Und tendenziell ist das, was man in Osnabrück aushandelt mit ein paar Modifikationen, die sicher ihre Bedeutung haben, aber eine Wiederaufnahme der Grundlagen des Augsburger Religionsfriedens von 1555. Und der ist auch kaputtgegangen in diesen bi-konfessionellen Städten, wo also Protestanten und Katholiken ganz gut miteinander zusammengelebt haben, durch solche Provokationen.
    "Der Krieg hat sich verselbstständigt"
    Main: Kommen wir noch mal zurück auf den Arabischen Frühling. Das war 2010, also vor acht Jahren. Dann hätten wir noch 22 Jahre Krieg vor uns.
    Münkler: Ja, kann man sagen. Also, vielleicht würde ich auch noch ein bisschen zurückgehen und bescheidener sein und sagen: Gucken wir dort hin, dann haben wir den Krieg in Syrien, ein bisschen Krieg noch im Irak, den Krieg im Jemen und den Krieg in der libyschen Wüste. Und wenn man das vergleicht oder aufblendet auf die Konstellationen des Dreißigjährigen Krieges, könnte man sagen, da ist man vielleicht 1622/1623. Es gab einen Kriegsschauplatz in Böhmen. Der ist weitgehend geschlossen nach dem katholischen Sieg in der Schlacht vom Weißen Berg. Aber es gibt noch Auseinandersetzungen in der Oberpfalz und in der Rheinpfalz und so weiter. Und, wenn wir das uns jetzt überlegen, wenn der Krieg damit beendet gewesen wäre, dann würden wir heute nicht darüber reden. Das wäre irgend so ein Krieg. Dann wüssten ein paar Spezialisten darüber was, aber sonst keiner. Und ich als Politikwissenschaftler hätte mich auch nicht hingesetzt und ein Buch darüber geschrieben, nicht? Und dieses Zeitfenster ist zurzeit, glaube ich, im Nahen Osten noch offen.
    Huthi-Rebellen gestuklieren am 16.11.2017 während sie nach einer Rekrutierungsversammlung für neue Kämpfer in Sanaa (Jemen) an die Front fahren.
    Huthi-Rebellen im Jemen - noch sind die Konflikte im Nahen Osten voneinander separierbar (dpa / Hani Al-Ansi)
    Also, diese Kriege können separiert werden und müssen nicht zu einem großen Krieg zusammenfließen. Aber die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges zeigt: Wenn man die Dinge einfach laufen lässt und noch ein bisschen eskaliert und hier was versucht und dort was versucht, dann schafft man es ganz leicht, eine ganze Region in Brand zu setzen, nicht?
    Und das allerdings wäre doch für uns Europäer als Anrainer eines solchen Krieges eine Katastrophe. Ja, wir müssen uns nur vorstellen, Ägypten wäre in ähnlicher Weise in die Luft geflogen wie Syrien oder Libyen und das wäre im Prinzip ein brennender Großraum. Oder der Konflikt würde demnächst irgendwann, weil die Saudis da interveniert haben, vom Jemen auf Saudi-Arabien übergreifen. Eine Katastrophe. Und insofern, glaube ich, sagt uns der Dreißigjährige Krieg auch eine ganze Menge, wenn man mal einfach nur kontrafaktisch durchspielt, der wäre 1622/1623 zu Ende gegangen. Wir würden nicht darüber reden.
    Main: Das heißt, es gibt immer wieder Fenster, in denen es Chancen gibt, das Rad in eine andere Richtung zu drehen, zwar nicht den Brandbeschleuniger, den Spiritus wieder rauszunehmen aus dem Feuer, weil das ist technisch nicht möglich, aber womöglich doch das Feuer in den Griff zu kriegen?
    Münkler: Ja. Also, dafür, zu sorgen, dass einzelne in Brand geratene Pulverfässer nicht das restlich gelagerte Pulver zur Explosion bringen, das, glaube ich, das war eine der wesentlichen Intentionen, als ich dieses Buch geschrieben habe. Das, glaube ich, ist das Entscheidende - zu beobachten, wo welche Entscheidung oder welche Verkettung von Umständen, also Kontingenzen, eine Rolle dahingehend gespielt haben, dass dieser Krieg dann weiter eskaliert ist und noch weiter eskaliert ist. Und irgendwann haben die Leute auch das Gefühl, sie haben das nicht mehr im Griff. Und dann malen sie Bilder, in denen der Krieg ein furchtbares Ungeheuer ist, das die Staaten und die Städte zermalmt. Also, der Krieg hat sich dann verselbstständigt. Er ist kein Instrument der Religion und der Politik mehr, sondern er hat seinen eigenen Willen, metaphorisch gesprochen. Und da müssen wir aufpassen, dass uns das nicht noch einmal passiert.
    "Die Lösung: Entpolitisierung des Religiösen"
    Main: Herfried Münkler im Deutschlandfunk, im Gespräch. Herr Münkler, um diesen Krieg im Vorderen Orient zu verkürzen, würde es dann in Analogie zum Dreißigjährigen Krieg schon mal helfen - oder wäre es ein Ansatz -, Schiiten und Sunniten den Religionszahn zu ziehen?
    Münkler: Na ja, gut, der Religionszahn - das ist schwierig, nicht? Auch gerade dort, wo die in einer gemischten Siedlungsweise zusammenleben. Also, ich würde eher sagen: Wie schafft man so etwas wie eine Politik der Neutralisierung? Die Instrumente des Osnabrücker Friedens sehen eigentlich vor, Konfessionen zu entpolitisieren. Also, nach wie vor gilt: Wem das Land gehört, der bestimmt die Religion. Diese berühmte Augsburger Formel.
    Main: Cuius regio, eius religio.
    Münkler: Jawohl.
    Main: Der Landesherr sagt, wo es langgeht - konfessionell.
    Münkler: Genau. Man kann auch sagen, die Privilegierung des fürstlichen Gewissens, denn seine Entscheidung gilt für alle anderen mit. Die haben dann nur das "Ius emigrandi", also das Recht auszuwandern, was diese furchtbaren Flüchtlingsströme hervorruft. Aber in Osnabrück führen sie also dann noch abgestufte Formen der Bekenntnis-Lizenz ein, also gewissermaßen Kirchen, die keinen Turm haben, aber einen Dachreiter. Oder, wenn es nur ganz wenige sind von der anderen Seite, dann dürfen die im Prinzip Hausgottesdienste durchführen, ohne dass sie dafür verfolgt werden. Kurzum: Entpolitisierung des Religiösen erfolgt durch eine Politik der Tolerierung des anderen. Und plötzlich stört es einen gar nicht mehr, nicht?
    Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Heinrich Bedford-Strohm und der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Reinhard Marx umarmen einander bei einem Gottesdienst in Hildesheim im März 2017
    Heute umarmen sich Protestanten und Katholiken in Deutschland (imago stock&people / Jens Schulze)
    Main: Auch Privatisierung der Religion, wenn ich Sie richtig verstehe?
    Münkler: Natürlich, ja. Also, es wird in hohem Maße nach innen genommen. Es wird weniger - wenn ich mal so sagen darf - öffentlich demonstriert, wes Glaubens man ist, nicht? Sondern es genügt, dass man die Chance hat, seiner jeweiligen Glaubensvorstellung, also, sagen wir seinem Gott im geschlossenen, häuslichen Raum nachzukommen. Also, all das sind sozusagen inkrementalistische Friedensformeln. Das entwickelt sich sozusagen schrittweise. Es gibt das Design des Friedens, aber wie sich das entwickelt, das hängt natürlich dann auch von den Lebenspraxen der Menschen ab.
    Und da die Deutschen nun einmal - oder die Menschen, die in Deutschland leben -, von diesen konfessionellen Auseinandersetzungen so erschöpft sind, dass sie alles wollen, nur keinen Krieg mehr, sind sie auch bereit, sich darauf einzulassen und irgendwann ist ihnen das zur lieben Gewohnheit geworden. Also, diese Form einer desinteressierten Toleranz.
    Ich meine damit, na ja, geheiratet haben sie nicht, also kein Konnubium, auch kein Kommerzium, gemeinsame Geschäfte gemacht, aber sie sind nicht mehr über sich hergefallen. Und irgendwann in der deutschen Geschichte, also 350 Jahre später, sind dann Katholiken und Protestanten durch erneute Flüchtlingsströme so durcheinandergewürfelt worden, dass plötzlich das gar keine Rolle mehr gespielt hat, ob das ein katholisches Dorf oder eine protestantische Stadt oder was auch immer ist, sondern es ist durcheinandergewürfelt worden und es war den Leuten egal.
    Main: Danke Ihnen, Professor Münkler, für Ihre Zeit und für Ihre Einschätzungen.
    Münkler: Gerne.
    Herfried Münkler: "Der Dreißigjährige Krieg: Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618 - 1648"
    Rowohlt Berlin, 976 Seiten, 39,95 Euro