Es gibt mehrere mögliche Gründe für einen Fußballspieler, seine Autobiografie zu schreiben. Einer davon wäre, dass er Gott ist oder sich zumindest so fühlt, wie beispielsweise Franz Beckenbauer oder Zlatan Ibrahimovic. Dementsprechend tragen deren Bücher auch angemessen selbstbewusste Titel: "Einer wie ich" bei Beckenbauer, erschienen im Jahr 1975 und heute vergriffen, und "Ich bin Zlatan" bei Ibrahimovic. Ein anderer Grund ist eine Mischung aus Mut und Wut, die dafür sorgte, dass sich der ehemalige Nationaltorhüter Toni Schuhmacher seinerzeit mit seinem Enthüllungsbuch "Anpfiff", man verzeihe das Bild, ins Abseits schrieb. Oder aber man ist tatsächlich ein streitbarer Intellektueller wie Ewald Lienen und hat das Fußballgeschäft schon zu aktiven Zeiten mit reflektierter Distanz betrachtet, wie Lienens 2019 erschienene Autobiografie "Ich war schon immer ein Rebell" beweist.
Daniel Keita-Ruel ist nicht Gott und nicht wütend, sondern demütig. Jedenfalls ist das der Eindruck, den er in seinem Buch "Zweite Chance" erzeugen will. Er ist auch kein Weltstar, sondern spielt seit Sommer 2018 mit Erfolg als Stürmer bei der Spvgg. Greuther Fürth in der zweiten Bundesliga.
Vom Verbrecher zum Profifußballer
Überregionale Schlagzeilen machte Keita-Ruel im Jahr 2011, als er nach einer Serie von Raubüberfällen in seiner Heimatstadt Wuppertal verhaftet und zu einer fünfeinhalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Wie es dazu kam, wie er vom Straßenkicker zur Fußballhoffnung und dann vom Verbrecher zum Profifußballer wurde, schildert Keita-Ruel – oder sein Ghostwriter – in einer betont schnoddrigen, dem Alltag abgelauschten und manchmal auch enervierend ungeformten Sprache. Da ist einer, so, soll es suggeriert werden, der von unten kommt und sein Herz auf der Zunge trägt:
"Ich bin ein harter Spieler und weiche keinem Zweikampf aus. Wer dieses Stahlbad im Bolzplatz-Käfig über Jahre durchgestanden hat, der ist auch für den Fußball auf einem höheren Niveau geeignet."
Der sogenannte Käfig ist eine der Stationen von Keita-Ruels Kinder- und Jugendzeit, die seinen Werdegang als Fußballer entscheidend geprägt haben: ein kleiner, eingezäunter Bolzplatz, auf dem Keita-Ruel mit seinen Freunden kickte. Dabei kam es auf Schnelligkeit, Reaktionsvermögen und Aggressivität an. Keita-Ruel ist das Gegenteil des in Fußballakademien sorgfältig herangezogenen, stromlinienförmigen Elitekickers. Geboren 1989 als Sohn einer französischen Austauschstudentin und eines senegalesischen Vaters, der die Familie bald verließ, begann Keita-Ruel tatsächlich als Straßenfußballer. Zum ersten Vereinstraining erschien er in Jeans, weil er noch keine Sportkleidung hatte. Glaubt man Keita-Ruels Darstellung, war er stets der unbändige, anarchische Instinktkicker, der sich an keine taktischen Zwänge hielt und immer etwas mehr wollte als seine Mitspieler. Das ist mit Sicherheit eine Selbststilisierung, aber eine glaubwürdige. Wie überhaupt der erste Teil von "Zweite Chance" eine hochinteressante und mit Gewinn zu lesende Milieustudie darstellt.
Junge auf der schiefen Bahn
Das ändert sich schlagartig im zweiten Teil, in dem "Zweite Chance" zu einem Ärgernis wird. Max Eberl, der heutige Sportdirektor von Borussia Mönchengladbach, wird mit dem wenig schmeichelhaften Satz zitiert, Keita-Ruel sei "in den Beinen Bundesliga, im Kopf nur Kreisliga." Nach zwei Jahren in der Jugend von Borussia Mönchengladbach zerschlagen sich Keita-Ruels Hoffnungen auf einen Profivertrag. Er kommt zurück nach Wuppertal, ohne große sportliche und ohne berufliche Perspektive. Ab diesem Zeitpunkt bedient Keita-Ruel in seinem Buch das Narrativ des unschuldig verführten Jungens:
"Ich war 21 Jahre alt. Mafiosi und Gestalten, die welche sein wollten, hatte ich bisher nicht kennengelernt. Im Fußballgeschäft gab es Träumer, Schwätzer, Schreihälse und Aufschneider. Aber Ganoven? Mein moralischer Kompass muss in dieser Zeit unter dem Frust der Gesamtsituation gelitten haben."
Warum genau Keita-Ruel den Anwerbungsversuchen der zwielichtigen Gestalten in seinem Umfeld nachgegeben hat und zum Verbrecher wurde, erfährt der Leser nicht. Fest steht nur: Des Geldes wegen, so behauptet er, hat er es nicht getan. Und so richtig verantwortlich dafür war Keita-Ruel auch nicht:
"Das Geld versteckte ich wieder in meinem Kleiderschrank. Es war verrückt, völlig unwirklich. Ich lag da und dachte: Jetzt bist du endgültig in einer Gang, ein Verbrecher. Krass. Ich fühlte mich wie ferngesteuert, wie ausgeknipst."
Keine Einsicht in eigene Verantwortung
Sicher, Keita-Ruel spricht von der Scham, die seine Taten in ihm hervorgerufen haben. Doch auch beim Lesen der minutiösen Beschreibungen der vier Überfälle hat man stets das Gefühl, es fehle eine entscheidende Kleinigkeit, nämlich die Einsicht in die eigene Rolle. Das geht so weiter bei der Darstellung des Gerichtsprozesses: Die Anwältin war eine Versagerin, der Staatsanwalt ein scharfer Hund, der an dem Wuppertaler Jungpromi ein Exempel statuieren wollte.
Erst als Keita-Ruel dann im Gefängnis landet und mit Besessenheit an sich, seinem Körper und an seiner Karriere als Fußballprofi nach der Haftzeit arbeitet, ist er wieder bei sich selbst angekommen. Mit Erfolg allerdings, das gilt es anzuerkennen, und gegen alle Prognosen. Immerhin: Der Strafvollzug scheint bei ihm Wirkung gezeigt zu haben. Das Bild, das erzeugt werden soll und das im Übrigen auch Weggefährten Keita-Ruels in zwischen die Kapitel eingestreuten Einschüben vermitteln, ist das des netten Jungen, der immer nur spielen wollte und wieder und wieder unter schlechten Einfluss geraten ist.
Es ist das gute Recht eines jeden Menschen, sich permanent als Opfer von Umständen zu inszenieren. Es ist im Gegenzug das gute Recht eines außenstehenden Betrachters, diese etwas plumpe Selbstviktimisierung, vermeintlich authentische Inszenierung als weinerliche Opferumkehr zu durchschauen.* So endet ein zu Beginn überraschend lesenswertes Buch in der sprachlichen Ödnis des "Einer-gegen-alle"-Klischees.
Daniel Keita-Ruel mit Harald Braun: "Zweite Chance. Mein Weg aus dem Gefängnis in den Profifußball"
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln. 218 Seiten, 18 Euro.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln. 218 Seiten, 18 Euro.
*Wir haben an dieser Stelle einen mehrfach konnotierten Begriff durch eine eindeutige Formulierung ersetzt.