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Dank für Wahrhaftigkeit

Die Zugehörigkeit von Günter Grass zur Waffen-SS ist ein Politikum geworden. Sie stellt Freunde und Gegner des Literaten fast unversöhnlich einander gegenüber. Zumindest für seine Skeptiker hat Grass seine Glaubwürdigkeit endgültig verloren, für andere hat er an menschlicher Größe gewonnen. Ähnlich denkt sein langjähriger Freund Freimut Duve. Der SPD-Politiker beschreibt das Dilemma des Literaten seiner Generation.

    Nein, unsere Kindheit werden wir nicht los, ob sie schön war, ob sie traurig war. Wir tragen sie mit uns - und sie begleitet unser Leben. Sie bestimmt es nicht - aber sie ist da. Günter Grass hat seine Kindheit und seine schwierige Jugend immer wieder in sein dichterisches Werk aufgenommen – wie alle großen Autoren. Nun hat er versucht, die Zwiebel seines jungen Lebens zu schälen - er sagt häuten. Und ein wunderbarer Roman ist entstanden über all die Stationen, die der Junge aus Danzig durchwandert hat: als Kind bei der geliebten Mutter, als junger glühender Nazi, als Kriegsgefangener, als junger Steinmetzer im Grabsteinbetrieb, dann als Zeichner und wacher junger Poet und dann als Autor, als Autor, der begeistert und ein wenig entgeistert die "Vorzüge der Windhühner" erlebte - der Titel des ersten Buches, von Günter Grass. Jetzt diese wunderbare, wundersame Lebensgeschichte, erzählt für alle, die sich für dieses Leben interessieren.

    Und jetzt gibt es eine dramatische Auswahl aus diesem Buch über einen Vorgang, der vielen bekannt war. Grass hat auch als Soldat den Nazis gedient. Welch falsche, welch richtige, vielleicht auch welch wichtige Debatte. Was bedeutet unsere Vergangenheit für uns und unsere gemeinsame Zukunft? Was sind und wie gehen wir - wir alle - damit um?

    Ich sehe mein eigenes Leben. Lebenserfahrungen. Den Krieg habe ich in Hamburg erlebt. Die HJ auf den Straßen bewundert. Die marschierten so schön. Die Nazi-Uniform meines Großvaters habe ich aber erst entdeckt 1945 in seinem Kleiderschrank. Die Flüchtlingsfamilien in den verschiedenen Zimmern von Omas Wohnung in Altona. Warum meine Mutter mir erst 1945 sagte, wer mein Vater war, habe ich als Neunjähriger dann rasch verstanden. Ein jüdisches Kind, das ich war, durfte nicht auffallen. Die drei für mich später, als Historiker und Autor wichtigsten Bürger meiner damals "jungen" Bundesrepublik Deutschland wurden dann Heinrich Böll (ich habe viele Gespräche mit ihm geführt), Siegfried Lenz und Günter Grass. Sie halfen meiner Generation, mit den Katastrophen meiner Kindheit zu leben, ohne zu vergessen. Zerstörtes Hamburg, zerstörte Kindheit, zerstörtes Ansehen meines Landes. Nie hat Günter Grass verschwiegen, dass er ein junger überzeugter Nazi war. Im Gegenteil. Weil ich wusste, wie ihn das Ende des Krieges, die Flucht und Vertreibung, wie ihn die von Deutschen begangenen Verbrechen geprägt hatten, habe ich Günter Grass 1997 gefragt, ob ich seine zweite Zeichnung für "Das Treffen in Telgte" als Logo für mein neues OSCE-Amt "Die Unabhängigkeit der Medien" in ganz Europa nutzen dürfe. Und im Frühjahr 2001 bat ich ihn, einiges aus seinem Leben zu erzählen für die vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien tief betroffenen Jugendlichen. Für sie hatte ich eine Wanderschule gegründet: "Verteidigung der Zukunft", das war der Titel. Auf diesen Titel wäre ich ohne die Prägungen meiner Generation nicht gekommen. Günter Grass hatte sofort verstanden, was mich bewegte an den familiären, an den seelischen und oft auch den körperlichen Verwundungen der jungen Menschen, die dort im europäischen "Balkan" den Krieg und die Verbrechen des begonnenen Völkermords überlebt hatten.

    Inzwischen gibt es ja einige Stimmen, die verdeutlichen, was die Rekrutierung zu den Waffen und dann zur Waffen-SS damals für die jungen Menschen am Anfang ihres Lebens als kaum Erwachsene bedeutete. Informiert vom Goebbels-Radio, geprägt von Hitlers Siegesgeschrei auch noch im "Untergang", weit entfernt von Nachrichten über die wirkliche Welt und die Verbrechen der Deutschen. Günter Grass hat als Künstler, als Maler, als Bildhauer und natürlich vor allem als Schriftsteller meiner Generation sehr deutlich machen können, was ihn, den Hochbegabten, geprägt hat.

    Als ich später die wunderbaren "Briefe an Olga", die Vaclav Havel aus dem kommunistischen Gefängnis an seine Frau geschrieben hatte, bei mir veröffentlichte, freute sich Grass. Und als ich dann dem in der Diktatur verfolgten polnischen Journalisten Adam Michnik meinen Preis für den "Journalismus und Demokratie" verleihen durfte, freute sich Günter Grass wieder.

    Geschwiegen zu seinem Militär und seiner Verwundung hat er nie. Warum er die beiden schrecklichen Buchstaben "SS" bisher nicht an seinen "Waffendienst" gehängt hatte, darüber hat er jetzt beim Schälen der Zwiebel geschrieben. Über seine "Nazi-Zeit" hatte er nie geschwiegen. Anders als viele seiner Generation.
    Jetzt - im 21. Jahrhundert, wo der Frieden und die Freiheit überall in der Welt wieder - und immer noch - bedroht sind, sollten wir alle dem großen Künstler Günter Grass danken für seinen Weg und für seine Wahrhaftigkeit - und für dieses lehrreiche Buch "Beim Häuten der Zwiebel".

    Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel
    Steidl Verlag, Göttingen, 2006
    480 Seiten
    24 Euro