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…dann wähle die Eins

Callcenter sind telefonische Kundendienstzentralen, wo man anrufen kann, aber trotzdem nicht das bekommt, was man braucht - zumindest oft. Im "Callcenter Übermorgen" der Theatergruppe Interrobang ist das anders. Dort können Besucher Lebensentwürfe ausprobieren.

Von Oliver Kranz |
    "Hallo, herzlich willkommen. Ein freier Platz mit einem freien Telefon."

    Der Theatersaal ist durch weiße Jalousien in Kabinen aufgeteilt. Platzanweiser zeigen den Zuschauern den Weg zum nächsten freien Telefon. Dann geht es los.

    "Herzlich willkommen bei Audio Travel. Wohin möchten Sie reisen? Für den sonnigen Süden wählen Sie die Eins, für die Alpen wählen Sie die Zwei."

    Da jeder Zuschauer für sich entscheidet, erlebt auch jeder ein anderes Stück. Jeder Tastendruck führt zu neuen Alternativen.

    "Was möchten Sie erleben? Für eine Gondelfahrt in Venedig wählen Sie die Eins, für einen Maultierritt über die Pyrenäen die Zwei."

    Anders als im üblichen Callcenter haben wir ein utopisches Callcenter gebaut. Es ist ein künstlerisch inszeniertes Callcenter, in dem wir bestimmte Mechanismen von nicht nur Callcentern, sondern auch Telefonwarteschleifen verwenden, aber unerwartete Dateien einspeisen.

    Im "Callcenter Übermorgen" gibt es nicht nur einen singenden Gondoliere, sondern auch sprechende Maultiere, Gangster und Teufel, die die Besucher in der Hölle begrüßen.

    "Wir nennen das auch eine interaktive Hörspielinstallationsperformance, also es ist ein Kunstmix aus verschiedenen Kunstformen. Auf der installativen Ebene ist es uns ganz wichtig, dass wir einerseits diese Vereinzelung haben, die Leute sitzen in diesen Kabinen, die mit vier Jalousien um einen herum zu sind, und gleichzeitig gehen wir zwischendurch rum und machen diese Räume auf und schaffen dadurch Blickachsen und temporäre Gemeinschaften, die wieder auseinanderfallen. Das heißt auf der Hörebene und auch auf der visuellen Ebene hat man diesen Aufbau und Zerfall von Gemeinschaften, die Erfahrungen miteinander teilen, aber dann sich auch wieder separieren und jeder geht in seine eigene Welt und füllt diese Schnipsel, die einem angeboten werden in diesem Sprachmenü, mit seinen eigenen Fantasien auf."

    Nina Tecklenburg hat das Stück gemeinsam mit Till Müller-Klug inszeniert. Die beiden sind Gründer der Gruppe Interrobang, die vor allem Zukunftsentwicklungen künstlerisch erforschen will.

    "Es gibt das Reenactement, da schaut man in die Vergangenheit. Da werden historische Schlachten nachgespielt oder berühmte Performances von Marina Abramovic. Das ist natürlich sehr rückwärtsgewandt. Da haben wir gedacht: wie ist es, wenn man das einfach mal umdreht und statt ein Reenactment ein Preenactment macht, also nach vorne schaut in die Zukunft. Das ist diese Vorgehensweise, dass wir uns Entwicklungen der Gegenwart nehmen, die aber zuspitzen, radikalisieren, weiter denken, und damit das dann in die Zukunft hinein preenacten."

    "Wollen Sie jetzt den Gondoliere küssen, dann wählen Sie die Eins. Möchten Sie sich in den Kanal stürzen, die Zwei. Möchten Sie einfach weiterfahren, die Drei."

    "In den späteren Levels kommen die existenzielleren Dimensionen zum Tragen, die dunklen Dimensionen, wo man mit dem Tod konfrontiert wird und dann halt Leute auch sterben und in den Himmel kommen."

    "Man kommt dann in große Konferenzräume, wo es ein kleines philosophisches Intro gibt und kann dann darüber diskutieren. Man kann auch zwischen den Konferenzräumen wechseln und hat auch hier die Wahlfreiheit, sich eine eigene Meinung zu generieren oder sie sich von anderen geben zu lassen."

    Was Nina Tecklenburg als Konferenzräume bezeichnet, sind natürlich auch Telefonschaltungen. Mal wird man mit einzelnen Zuschauern, dann mit ganzen Gruppen verbunden – ein sensibler Moment. Möchte man wirklich mit wildfremden Menschen über das Stück diskutieren?

    "Diese Momente, wenn man miteinander telefoniert, das spielt ja gerade mit der Scham, die man dabei hat. Auf der anderen Seite bietet das Telefon als Kommunikationsform die Möglichkeit einer Nähe, zu einer fremden Person hat, die man nicht hätte, wenn man der Person gegenüberstehen würde."

    "Du befindest dich im Metalevel. Möchtest du jetzt den Regisseur sprechen und eine Erklärung bekommen, dann wähle die Null. Möchtest du eine eigene Bedeutung generieren, dann wähle die Eins."

    Die Produktion bietet viel spielerischen Spaß – man bekommt immer wieder Wahlmöglichkeiten angeboten, mit denen man im Traum nie gerechnet hätte – aber es ist auch anstrengend. Nichts läuft von allein. Immer wieder müssen Entscheidungen getroffen werden. Und genau darüber soll man nachdenken.

    "Wie frei bin ich eigentlich in meinen Entscheidungen? Einerseits treffe ich die Entscheidungen für mich selbst und das ist ja auch in unserer Gesellschaft ein hohes Gut, dass man diese Wahlfreiheit/Entscheidungsfreiheit hat, andererseits ist man natürlich ständig abhängig von den Entscheidungen anderer."

    Und auch das macht das Callcenter der Gruppe Interrobang bewusst. Man wird zwar permanent gefragt, was man möchte, aber letztlich bewegt man sich doch auf vorgegebenen Pfaden. Es kann leicht passieren, dass man an einem Ort landet, an den man gar nicht wollte.

    "Game over. Möchten Sie ein Lied für Ihre Trauerfeier auswählen, dann drücken Sie die Null. Möchten Sie eine neue Reise buchen, dann drücken Sie die Eins."


    "Callcenter Übermorgen" die Produktion der Gruppe Interrobang hat am 8. Mai 2013 in den Berliner Sophiensälen Premiere.