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Dardenne-Film
Auf der Suche nach Solidarität

48 Stunden bleiben Sandra, um ihre Kollegen davon zu überzeugen, auf ihre Prämie zu verzichten - damit sie ihren Job behalten kann. Der neue Film "Zwei Tage, eine Nacht" von den Dardenne-Brüdern aus Belgien zeigt, wie die Protagonistin Sandra um ihren Job kämpft und dabei in die Lebenswelten ihrer Kollegen eindringt.

Von Josef Schnelle | 30.10.2014
    Die belgischen Brüder Jean-Pierre (l) and Luc Dardenne (r) bei der Vorstellung ihres Films "Zwei Tage, eine Nacht" beim Valladolid International Film Festival in Spanien, aufgenommen am 18.10.2014
    Die belgischen Brüder Jean-Pierre (l) and Luc Dardenne (r) zeigen mit dem Film "Zwei Tage, eine Nacht" eine weitere Sozialstudie. (picture-alliance / dpa / Nacho Gallego)
    "Bevor sie für die Prämie waren haben sie gezögert. Sie haben an Dich gedacht. Deshalb musst Du jetzt mit jedem reden." - "Hast Du verstanden?" - " Aber Montag früh seh' ich sie doch. Das kommt aufs Gleiche raus." - "Nein, da kannst Du nicht mit jedem einzeln reden, Ihnen sagen, dass Du Deinen Job behalten willst und Deinen Lohn brauchst und bei Ihnen sein willst und nicht allein und arbeitslos."
    Prämie oder Sandras Job
    Der Ausgangspunkt ist eine perfide Arbeitgeberliste in einem kleinen Betrieb. Am Freitag kurz vor Schluss hat der Chef abstimmen lassen. Die Kollegen sollten sich entscheiden zwischen der Entlassung von Sandra und ihrer eigenen fälligen Prämie. Beides gehe nicht, die Firma leide schließlich unter der Krise. Natürlich hat sich die Mehrheit für die Prämie ausgesprochen und damit gleichzeitig für die Entlassung Sandras. Die ist gerade erst von einer psychischen Krankheit genesen. Ein paar Antidepressionspillen braucht sie aber gelegentlich noch immer. Der Vorarbeiter hält sie für das schwächste Glied unter den 16 Beschäftigten. Und so wirkt sie auch - mit aufgelöstem Haar und verängstigtem Blick.
    Nur ihr Mann steht zu ihr und treibt sie an, in den nächsten 48 Stunden bis zum Montag noch einmal mit allen zu reden. Sie soll einfordern, was man ihr verweigert hat: Solidarität. Am Montag, das hat ihr der Chef zugesagt, soll es eine neue Abstimmung geben. Ihm selbst ist egal, wodurch die gewünschte Einsparung zu Stande kommt. Sandra überwindet ihre Angst vor Demütigung und zieht los. Die Prämie - für manche bis zu 1000 Euro - haben die meisten Kollegen bitter nötig, und so ist es viel verlangt, dass sie aus purer Menschlichkeit darauf verzichten sollen. Sandra dringt in die Privatsphäre des Wochenendes ein, und weil dadurch noch manche Lebenspartner bei der Entscheidung mitzureden haben, beißt die junge Frau auf Granit. Doch manchmal rennt sie auch offene Türen ein. Nicht jeder ist mit seiner Entscheidung vom Freitag glücklich geworden.
    "Deshalb wollt ich mit Dir reden, um zu sehen, ob Du bereit wärst, am Montag früh dafür zu stimmen, dass ich bleibe." - "Natürlich bin ich dafür. Ich bin wirklich froh, dass Du gekommen bist. Ich bin seit gestern Abend wütend auf mich, dass ich für die Prämie war."
    Nach und nach klaubt Sandra ihre Stimmen zusammen.
    Reise in Lebenswelten
    Der Film nimmt uns dabei mit auf eine Reise in die Lebenswelten und zu den Sorgen einfacher Arbeiter. Das war ja schon immer die Stärke der Dardenne-Brüder aus Belgien, die es mit ihren schlichten Sozialstudien immerhin auf zwei Goldene Palmen des Festivals von Cannes gebracht haben. Meist arbeiten sie mit Laien und erlauben sich keinen Quadratmillimeter Sozialkitsch, auch keine großen dramatischen Gesten und schon gar keinen Glamour. Deswegen erstaunt es, dass die beiden dieses Mal auf eine der ganz großen Diven des neuen französischen Kinos setzten, die auch schon in Hollywoodfilmen aufgetreten ist: auf Marion Cotillard. Auf den ersten Blick erkennt man sie kaum. Sie ist nicht sichtbar geschminkt, trägt schlichte Alltagskleidung und versucht niemals, sich aufdringlich in den Vordergrund zu spielen. Und doch beherrscht sie diesen Film, in dem sie - zart und zerbrechlich - in fast jeder Einstellung zu sehen ist.
    Immer wieder muss sich die junge Arbeiterin, die sie verkörpert, zur nächsten Station ihrer Suche nach Solidarität durchringen. Manchmal muss sie darum betteln, und man spürt in winzigen mimischen Nuancen den Schmerz, den ihr diese Entwürdigung zufügt. Dann wieder versucht sie, den Zwängen zu entkommen, und nimmt dafür noch die Hilfe eines sorglos fröhlich zwitschernden Vogels in Anspruch.
    "Ich würde zu gern mit ihm tauschen." - "Mit wem tauschen?" - "Mit dem Vogel, der da singt."
    Nicht nur mit dieser Anspielung verraten die Dardennes, dass sie ihre wichtigsten Anregungen Fabeln und Märchen entlehnt haben. Das gilt für die Schlichtheit der dramaturgischen Komposition und auch für die jeweils eindeutige moralische Botschaft.
    Auch "Zwei Tage, eine Nacht" untersucht mit großer Kraft die Bedingungen und Einschränkungen des Menschseins in unserer Lebenszeit. Manchmal schimmert aber auch die Schönheit der Mitmenschlichkeit durch. Wer später einmal etwas über unsere Lebenswelt wissen will, muss sämtliche Dardenne-Filme kennen. Warum sollte eine neuerliche Abstimmung nicht doch beweisen, dass Nächstenliebe möglich ist?
    "Hier sind 16 Zettel. Darauf steht Sandra oder Prämie. Eins kreist man ein und steckt ihn in den Karton. Ich schlage vor: Julien macht die Auszählung mit mir zusammen." - "Sind alle einverstanden?" - "Ja."