Für die zwei Monate vor und nach dem Goethe-Abend schätzt die Widerstandsbewegung in einer aus dem Konzentrationslager geschmuggelten Mitteilung die Zahl der "Gestorbenen, Vergasten und Abgespritzten" unter den registrierten Häftlingen auf 20.000. Aber längst nicht alle werden registriert. Allein am 15. März 1943 trafen 2.800 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Griechenland ein. Nach der Selektion wurden 417 Männer und 192 Frauen als Häftlinge in das Lager eingewiesen und mit Häftlingsnummern registriert. Die übrigen etwa 2.191 Personen wurden in der Gaskammer getötet. Solche Nachrichten über die Opfer kann man dem fünfbändigen Werk "Auschwitz 1940 - 1945" entnehmen. Es ist bereits 1999 im Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau erschienen und in Deutschland wird es vom Berliner Metropol Verlag vertrieben. Während diese Edition das Konzentrations- und Vernichtungslager aus der Sicht der Opfer untersucht, beleuchtet ein neues vierbändiges Werk die Täterperspektive. "Darstellungen und Quellen zur Geschichte von Auschwitz" ist diese Edition überschrieben, und herausgegeben wird sie vom Institut für Zeitgeschichte im KG Saur Verlag, München.
Der erste und umfangreichste Band dieses Projektes, das das Institut für Zeitgeschichte unter der Leitung von Norbert Frei seit 1994 bearbeitete, enthält ausschließlich die - so der Titel :
"Standort- und Kommandanturbefehle des Konzentrationslagers Auschwitz 1940 - 1945".
Der Band gibt die SS-Bürokratie des Lagers wider, Beförderungen, Disziplinierungen, Einladungen zu Bunten Abenden - Erscheinen ist Pflicht - und zu Goethe-Lesungen - freiwillig. Eine direkte Anweisung zum Massenmord wird man hier nicht finden, allenfalls mal die Befreiung vom Dienstbetrieb nach einer anstrengenden "Sonderaktion". Doch was in Auschwitz vor sich geht, lässt sich erschließen, etwa aus dem Kommandantursonderbefehl vom 12. August 1942:
"Ein heute mit leichten Vergiftungserscheinungen durch Blausäure aufgetretener Krankheitsfall gibt Veranlassung, allen an Vergasungen Beteiligten und allen übrigen SS-Angehörigen bekanntzugeben, dass insbesondere beim Öffnen der vergasten Räume von SS-Angehörigen ohne Maske wenigstens fünf Stunden hindurch ein Abstand von 15 Metern von der Kammer gewahrt werden muss. ... Das jetzt verwendete Gas enthält weniger beigesetzte Geruchsstoffe und ist daher besonders gefährlich. Der Standortarzt Auschwitz lehnt die Verantwortung für eintretende Unglücksfälle ab, bei denen von SS-Angehörigen diese Richtlinien nicht eingehalten werden."
Der zweite Band von Sybille Steinbacher - "Musterstadt" Auschwitz - Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien" - untersucht den konkreten historischen Ort dessen, was von manchen Historikern schon interpretiert wird als
"Niemandsland des Verstehens", "schwarzer Kasten des Erklärens", "anderer Planet", "außerhistorische Bedeutung annehmendes Vakuum".
Eine "Mystifizierung", die - wie Sybille Steinbacher zu Recht betont - die Wirklichkeit der nationalsozialistischen Massenverbrechen aus dem Blick geraten lässt. Im vierten Band - "Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik" - ist Sybille Steinbacher mit noch einem Beitrag vertreten über Johannes Hermann Thümmler, den Gestapo-Chef von Auschwitz aus der schlagenden Verbindung Thuringia, der nach der Rückbenennung von Chemnitz die Idee hatte, von den Museen seiner Heimatstadt zahlreiche Kunstgegenstände zurückzufordern, die ihm auf sowjetischen Militärbefehl enteignet worden waren. Sie stammten aus dem Besitz seiner jüdischen Opfer.
Dieser vierte Band untersucht in zehn Aufsätzen verschiedener Autoren das Umfeld der Vernichtungspolitik in Auschwitz. Bernd C. Wagner beschäftigt sich mit den Verdrängungsmechanismen, mit denen die Nachfolger der IG Farben Bayer, BASF, Hoechst in den Nachkriegsprozessen um die IG Auschwitz reussierten. Diese Mechanismen waren so erfolgreich, schreibt Wagner, dass
"der am Tod von mindestens 25.000 Menschen mitverantwortliche Betriebsleiter (Walther) Dürrfeld noch zwei Jahrzehnte nach dem Krieg behaupten konnte, er fühlte sich unschuldig".
Das Ludwigshafener BASF-Werk der Interessengemeinschaft Farben war das Mutterhaus der IG Auschwitz, von dort kamen die hauptverantwortlichen Vorstandsmitglieder wie Carl Krauch, Otto Ambros und Carl Wurster, letzterer zugleich Aufsichtsratsmitglied der IG-Tochter Degesch, die das Zyklon B für die Vernichtung der nicht arbeitsfähigen KZ-Häftlinge produzierte - er wurde 1952 Vorstandsvorsitzender und 1965 Aufsichtsratschef der BASF. In seiner Amtszeit, 1957, war - wie Wagner zitiert - in einer internen BASF-Chronik zu lesen:
"Über Auschwitz ist wenig bekannt, außer dass es hauptsächlich von den Amerikanern als Hetzmittel gegen die I.G. ausgeschlachtet wurde, obwohl die dortigen Judenmisshandlungen in dem vom Werk unabhängigen und weit entfernten Partei-KZ stattfanden und auch für die Zwangsarbeiter im Werk Auschwitz außerhalb der Arbeit die SS verantwortlich war."
Wer heute in die Suchfunktion der üppig auch mit Geschichtsdaten ausgestatteten BASF-Homepage das Suchwort "Auschwitz" eingibt, erfährt auf Deutsch wie auf Englisch:
"Keine passenden Dokumente gefunden ... Sorry, your search yielded no results."
Die passenden Dokumente liegen im BASF-Unternehmensarchiv, Nummer A 251/4 IG Auschwitz und A 215/5 Abwicklung Auschwitz. Bernd C. Wagner hat sie eingesehen für den ebenfalls von ihm verfassten dritten Band der Auschwitz-Reihe:
"IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941 - 1945"
Dass die IG Farben freudig ihr viertes Buna-Werk in Auschwitz errichteten, schon wegen des Arbeitskräftereservoirs im dortigen KZ, das schließlich für die IG um ein Lager Monowitz erweitert wurde, das wird heute kaum noch bestritten. Wagner betrachtet es zu Beginn seines Bandes als
"eine zentrale, die gesamte Forschungsarbeit stimulierende Frage, wie bis dahin"
- also bis 1941 -
"völlig unbescholtene und zunächst auch politisch kaum aktive Angehörige der deutschen Wirtschaftselite sich im Verlauf des Krieges so weit an den Verbrechen der SS beteiligen konnten".
Um "willige Vollstrecker", meint er am Ende seines Buches, habe es sich - da hat er Recht - nicht gehandelt, sondern um
"das allgemeine Phänomen einer rein abstrakten Wahrnehmung ökonomischer Prozesse in der modernen Industriewelt"
und um
"das Fehlen eines gesellschaftlich akzeptierten ethischen Verhaltenskodex".
So abstrakt muss der Historiker Wagner werden, weil er auf den ersten 50 Seiten seines Bandes die Entwicklung der IG Farben bis zum Jahr 1941 falsch darstellt, jene Geschichte, die zeigt, dass deren Führungsfiguren schon vorher so "unbescholten" nicht waren, wie er glauben möchte. Carl Krauch etwa hatte schon 1916 in Leuna mit Hilfe von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen eine Riesenfabrikanlage für Ersatzrohstoffe aus dem Boden gestampft, auf militärisch enteignetem Bauernland, weil ohne diese Ersatzrohstoffe die Militärs aus Mangel an Munition schleunigst Frieden hätten machen müssen. Der Profit war ungeheuer. Das Reich gab Kredite, die die IG später, während der Inflation, für einen Apfel und ein Ei zurückzahlten. Dann kam die neue Chance, die Produktion von Ersatzbenzin aus Kohle, weil die Erdölquellen zu versiegen drohten. Ein gewaltiger Flop, es wurden immer mehr Erdölquellen entdeckt, natürliches Benzin vom Weltmarkt war viermal so billig wie das Leuna-Benzin, die IG stand am Abgrund, doch ihre Abgesandten trafen sich im Juni 1932 mit Hitler, der sofort verstand, dass er, wenn er, einmal an der Macht, Krieg führen wollte, Benzin aus dem eigenen Land für Panzer und Flugzeuge brauchte, autark sein musste, koste es, was es wolle. Eineinhalb Jahre später, im Dezember 1933, schlossen die IG und das Reich den Benzinvertrag, der der IG auch noch einen Gewinn auf ihren überhöhten Gestehungspreis garantierte. Wagner verhehlt, wie Carl Krauch als Vorstandsmitglied der IG Farben, seit 1940 als deren Aufsichtsratsvorsitzender in die Wirtschaftskompetenzen des Naziregimes eindrang, als Fachmann für Hermann Göring, der dem Wirtschaftsministerium mehr und mehr die Kompetenzen entzog, - schon im September 1933 hatte Krauch den ihm bekannten Staatssekretär Görings, General Mülch, zu einem Rüstungsprogramm ermuntert, wobei er erstmals die Bezeichnung Vierjahresplan benutzte -
"um auf ein festumrissenes Produktionsprogramm zu kommen".
Das Vorstandsmitglied der IG zog als One-Dollar ein in die schließlich gebildete Vierjahresplanbehörde Görings, deren Aufgabe Hitler 1936 in einer geheimen Denkschrift formulierte. Wagner:
"Die Absicht, Deutschland auf eine kriegerische Auseinandersetzung vorzubereiten, drängte Hitler zu einer Denkschrift, die wohl in der zweiten Augusthälfte 1936 entstand."
Wessen Absicht drängte Hitler, nur seine eigene? Es war Carl Krauch - und auch das verschweigt Wagner -, der die Vorgaben für Hitlers Denkschrift lieferte, die bestimmte, dass die deutsche Armee in vier Jahren einsatzfähig und die deutsche Wirtschaft in vier Jahren kriegsfähig sein müsse. Hitler formulierte das ihm eingegebene Produktionsprogramm der IG:
"In vier Jahren muss Deutschland in all jenen Stoffen vom Ausland gänzlich unabhängig sein, die irgendwie durch die deutsche Fähigkeit selbst beschafft werden kann."
Einer der wichtigsten Punkte war die - und auch das hatte Krauch für Hitler aufgeschrieben -
"die Massenfabrikation von synthetischem Gummi zu organisieren und sicherzustellen".
Das ist die Vorgeschichte von Auschwitz, die Vorgeschichte des Riesen-Buna-Werks, das die IG Farben dort errichtete. Wagner unterschlägt sie und behauptet ohne jeden Beleg exakt das Gegenteil dessen, was geschehen war:
"Insgesamt betrachtet hatte die IG nach sechs Jahren NS-Herrschaft einen beträchtlichen Teil ihrer unternehmerischen Freiheit eingebüßt. Einen 'Aufstieg der IG Farben' während des Vierjahresplans hat es nicht gegeben."
Und völlig ohne Quellenangabe spricht Wagner von einem "Interessenkonflikt" zwischen Görings Vierjahresplanbehörde und der IG, der sich 1938 noch verstärkt hätte. Unsinn. IG-Vorstandsmitglied Krauch verdrängt im Juni 1938 seinen formellen Vorgesetzten in der Vierjahresplanbehörde, der sich einer Ausdehnung des Buna-Programmes widersetzt hatte. Krauch steigt im August 1938 zum Generalbevollmächtigten für Sonderfragen der Chemischen Erzeugung auf. Doch Wagner behauptet:
"Während die Konzernspitze eine weitere Ausdehnung der Buna-Kapazitäten für nicht profitabel hielt, drängten die Beamten der RWA auf weitere Fabriken."
RWA - das ist die Reichsstelle für den Wirtschaftsaufbau, und deren Präsident ist wiederum Carl Krauch, der gewichtigste Teil der IG-Konzernspitze. Er ist es auch, der als RWA-Präsident zusammen mit seinen IG-Vorstandskollegen Fritz ter Mer und Otto Ambros die endgültige Entscheidung für den Standort Auschwitz trifft. Und das fällt, ja, ins Auge. Während Wagner die Vorgeschichte weitgehend ohne Quellenhinweise mit wenig Fußnoten wiedergibt, als habe man sie ihm so erzählt, sind von nun an die Seiten seines Buches klar belegt, quellengesättigt, man kann es sehen, die Fußnoten nehmen oft ein Viertel der Seite ein. Angesichts von Auschwitz vergisst er seine - nennen wir es Pflichtverteidigung der IG -, er lässt Fakten sprechen, verschweigt nicht, dass sich der IG-Vorstand mit der Errichtung des Buna-Werkes in Auschwitz bewusst auf eine Kooperation mit der SS einließ. Die IG lieferte Baumaterial zum Ausbau des KZ zur größten Massenvernichtungsstätte Europas. Und im Gegengeschäft lieferte die SS Arbeitskräfte, die auf der IG-Baustelle dem Prozess der Vernichtung durch Arbeit unterworfen wurden: Wer - normalerweise nach drei Monaten - nicht mehr arbeitsfähig war, wurde "rücküberstellt". Ins Gas. Mindestens 25.000 Menschen hat die IG Farben-Industrie so mittels Vernichtung durch Arbeit ermordet. Das war das Ende einer Entwicklung, die 1916 mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern beim Aufbau von Leuna begonnen wurde.
Von den ersten fünfzig Seiten des Wagner-Bandes abgesehen, können die vier Bände des Instituts für Zeitgeschichte zusammen mit den fünf Bänden, die zuvor vom Museum Auschwitz herausgegeben wurden, zum Standardwerk werden; auch wenn die industrielle Vernichtung von Menschen in den Gaskammern unfassbar scheint, so beweisen diese Bände doch, dass das "Niemandsland des Verstehens" durchaus erforschbar ist.
Otto Köhler über das vierbändige Werk "Darstellungen und Quellen zur Geschichte von Auschwitz". Eine Publikation des Instituts für Zeitgeschichte im K.G. Saur Verlag, München. Band 1 dokumentiert - so auch der Titel - die "Standort und Kommandanturbefehle des Konzentrationslagers Auschwitz 1940 - 1945". Er wird herausgegeben von Norbert Frei und anderen, umfasst 604 Seiten und kostet DM 198,--. Sybille Steinbacher ist die Autorin von "Musterstadt" Auschwitz - Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, 419 Seiten, DM 78,--. "IG Auschwitz, Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz, 1941 - 1945" lautet der Titel der Untersuchung von Bernd C. Wagner. 378 Seiten, DM 78,--. Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Bernd C. Wagner sind gemeinsam die Herausgeber des vierten Bandes dieser Edition: "Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik". 335 Seiten, DM 138,--.