Donnerstag, 02. Mai 2024

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Darwins gefährliches Erbe

Daniel C. Dennett: Darwins gefährliches Erbe Die Evolution und der Sinn des Lebens Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel Hoffmann und Campe, 1997, 784 Seiten Preis: 78 Mark

Stephan Wehowsky | 03.03.1998
    Lyall Watson: Die Nachtseite des Lebens Eine Naturgeschichte des Bösen Aus dem Englischen von Kurt Neff S. Fischer, 1997, 400 Seiten Preis: 44 Mark

    Franz M. Wuketits: Soziobiologie Die Macht der Gene und die Evolution sozialen Verhaltens Spektrum Akademischer Verlag, 1997, 226 Seiten Preis: 58 Mark

    "Der nackte Affe" - dieses Buch des Zoologen Desmond Morris klärte in den 60er Jahren darüber auf, daß sich unsere Verhaltenweisen durchaus mit tierischen Handlungsmustern vergleichen lassen. Damals war das schockierend, denn bis dahin herrschte der Glaube vor, daß in der menschlichen Kultur ganz andere Mechanismen wirkten als im Tierreich. Nun aber entdeckten Zoologen und Verhaltensforscher immer mehr Ähnlichkeiten in der Art, wie Tiere und Menschen ihr Leben gestalten. Aus den anfänglichen, durchaus etwas spielerischen Vergleichen der Verhaltensforscher ist inzwischen eine veritable Forschungsdisziplin geworden, die Soziobiologie. Franz M. Wuketits zieht in seinem Band "Soziobiologie. Die Macht der Gene und die Evolution sozialen Verhaltens" eine Bilanz. Weil es sich hier um eine Art Lehrbuch handelt, kann man daran Stärken und Schwächen der Soziobiologie besonders gut ablesen - und ihre maßlosen Ansprüche: "Wir werden gewiß noch in die Lage kommen, spezifische Gene zu lokalisieren und zu beschreiben, die die komplexeren Formen des Sozialverhaltens bestimmen", faßt Wuketits die Intentionen des Begründers der Soziobiologie, Edward O. Wilson, zusammen und formuliert weiter, als handele es ich fast schon um ein Naturgesetz, daß "die Soziologie früher oder später von der Biologie geschluckt werden müsse".

    Zu den Stärken des soziobiologischen Denkansatzes gehört die Einsicht, daß die Welt der Tiere von der Menschheit nicht so verschieden ist, wie dies Descartes gelehrt hatte. Seine Theorie, nach der Tiere leidensunfähige Maschinen seien, lieferte für die Mißhandlung der Tiere das intellektuelle Alibi. Die Soziobiologie korrigiert diese Sichtweise und rehabilitiert damit die Tiere als Wesen mit Empfindungen. Aber reichen solche Einsichten schon aus, um damit unsere Gesellschaft zu "erklären" ? Die Soziobiologen glauben das, und sie verbinden damit ein weiteres Anliegen. Sie möchten Illusionen über die menschliche Moral zerstören. Deutlich läßt dies Lyall Watson in seinem Buch über die "Die Nachtseite des Lebens. Eine Naturgeschichte des Bösen" hervortreten: Wir müßten an der Menschheit verzweifeln, wenn wir ihre destruktiven Kräfte nicht als etwas auffassen könnten, das bereits seinen Lauf in der Natur genommen hat und daher anders beurteilt werden muß als rein moralisch.

    "Die dunkle Kraft, was immer sie sein mag, verkörpert das Unkonventionelle, Launenhafte und deutet darauf hin, daß Fortschritt öfter im Gefolge einschneidender Veränderung eintritt. Als Resultat der Entwicklung im Kielwasser einer Katastrophe vielleicht, wenn die üblichen Kampfregeln außer Kraft gesetzt sind und durch einen neuen Kodex ersetzt werden müssen. Wenn ich richtig sehe, wird die Evolution ... mit Katastrophensituationen recht gut fertig. Kann sein, daß Arten untergehen, aber das Leben geht weiter und widerstandfähigere neue Arten nehmen die verwaisten Plätze der alten ein."

    Alle Soziobiologen betonen mit großer Emphase, daß die Moralsysteme der unterschiedlichen Kulturen als Bewertungsmaßtstab für die Natur nicht taugen. Die Tatsache, daß Tiere sich gegenseitig fressen, läßt sich demnach nicht moralisch nach dem Gut-Böse-Schema bewerten. Das wußten Ethiker eigentlich schon immer, und es erstaunt nicht wenig, daß uns Soziobiologen diese Erkenntnis heute als etwas völlig Neues präsentieren. Aber es kommt noch viel bunter. Watson überlegt zum Beispiel, daß die Natur immer schon ihre eigene Negation in sich trage und zählt sogar die materieverschlingenden Schwarzen Löcher im Weltall dazu. In Anlehnung an inzwischen nicht ganz unumstrittene Theorien verkündet er, diese seien notwendig, um für eine kosmische Stabilität zu sorgen. Entsprechend argumentiert er in Bezug auf andere "Nachtseiten" wie Aggressionen und absolut sinnlos erscheinende Grausamkeiten auch unter Tieren, um sich auf die Seite all jener Evolutionsbiologen zu stellen, die den Sinn allen Geschehens im Voranschreiten der Evolution oder zumindest in der Stabilisierung ihrer Schöpfungen sehen. Auch wenn Watson beispielsweise Vergewaltigungen in Kriegszeiten aus moralischen Gründen verurteilt, wirkt seine Argumentation wie eine in die Natur verlegte Rechtfertigung Gottes, die die Opfer ganz gewiß nicht trösten wird.

    Während bei Watson unklar bleibt, wo die Natur endet und die Kultur beginnt, will Wuketits von einer solchen Trennung gar nichts mehr wissen. "Die Soziobiologie - hier: Humansoziobiologie - geht davon aus, daß sich die Spezies Mensch in langen historischen Zeiträumen zu dem entwickelt hat, was sie heute ist, und daß für diese Entwicklung grundsätzlich dieselben Faktoren maßgeblich sind, die auch die Evolution der anderen Arten bestimmen, also im wesentlichen genetische Neuordnung, Mutation und natürliche Auslese."

    Demnach geht es jedem Menschen, ob er es weiß oder nicht, um seinen "Reproduktionserfolg". Er möchte also möglichst viele gesunde und kräftige Nachkommen zeugen. Tatsächlich berichten Historiker und Ethnologen von Volksstämmen, in denen die mächtigsten Männer auch die meisten Frauen und entsprechend reiche Nachkommenschaft besaßen, doch läßt sich beim besten Willen nicht behaupten, daß in unserer Gesellschaft Künstler und Wissenschaftler, Politiker und Manager ihre Leistungen erbringen, um ganze Heerscharen von Frauen anzulocken, mit denen sie dann Kinder haben. Ganz im Gegenteil ist Kinderreichtum eher ein Kennzeichen der unteren Schichten - und das mindestens seit Beginn der Industrialisierung. Kinderreichtum und Fitness im Sinne von Macht und Einfluß fallen auseinander.

    Soziobiologen lassen sich aber durch diese offensichtliche Tatsache nicht irritieren, denn es gibt ja noch die Sexualität. Die Gene werden gewissermaßen platonisch, indem sie sich mit der bloßen Attraktivität einflußreicher Personen und ihren potentiellen Partnerinnen zufrieden geben. Beharrlich weigern sich Soziobiologen anzuerkennen, daß sich die Gesellschaft eine eigene Realität erschaffen hat, die nicht aus dem Streben der Gene nach Fitness und Reproduktion zu erklären ist. Vielmehr sieht Wuketits in der Sexualisierung unserer Kultur einen Beleg für die ungebrochene Macht des Fortpflanzungstriebes.

    "Bordelle, Sex-Shops, Peep-Shows, einschlägige Kontaktanzeigen in Zeitungen und ähnliches demonstrieren nur allzu deutlich die ungeheure Wirkungskraft des biologischen Gebots zur Fortpflanzug, selbst wenn die Fortpflanzung nicht zu ihren erklärten Absichten zählt und etwa der Bordell-Besucher alles andere wünscht, als mit einer kurzfristigen und weitgehend anonymen Bekanntschaft Kinder zu zeugen. Die Natur, also auch unsere eigene Natur mit ihren stammesgeschichtlichen 'Vorgaben', ist offenbar nicht zu beschwindeln."

    Das Gegenteil ließe sich allerdings auch behaupten und würde sogar zu interessanteren Fragestellungen führen. Denn wenn sich die Sexualität von der Fortpflanzung emanzipiert hat, wie auch Wuketits zugibt, dann liefert das evolutionäre Erbe der Menschheit hier so etwas wie eine Energie, was aber nichts über die Formen der Sexualität aussagt. Wer immer nur rückblickend auf diese Energie schaut, wird diese Formen nicht wirklich in ihrer Aussagekraft für den heutigen Menschen erkennen.

    Die Liste der Irrtümer und Absurditäten deckt sich genau mit der Themenliste der Soziobiologen. So erläutern sie die Fremdenfeindlichkeit insofern als etwas "Natürliches", als die ursprünglichen Jäger- und Sammlergemeinschaften eben auch klein und überschaubar gewesen seien. Daß es Fremdenfeindlichkeit und gruppenspezifischen Abschluß nach außen gibt, wird man nicht leugnen wollen und können. Aber wenn die Soziobiologen wenigstens den einen oder anderen soziologischen Titel zur Kenntnis nehmen würden, dann könnten sie erkennen, daß die Frage, wie unterschiedliche Ethnien miteinander auskommen, von einer Fülle sozialer Faktoren abhängt, die genau betrachtet werden will. Die Menschheit hat eine eigenes System symbolischer Kommunikation entwickelt, das sich nicht auf das Streben der Gene nach Fitness und entsprechender Nachkommenschaft zurückführen läßt. Vielmehr verfügt die Sprache über andere Möglichkeiten als das genetische Erbe, was sich auch an der Möglichkeit zeigt, daß die Menschheit mit ihrer Kultur und Technik in der Gefahr steht, ihre natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Dies ist nicht eben ein Beleg für die soziobiologische These von der Anpassung.

    Was Biologen wie Watson, Wilson und Wuketits betreiben, ist keine Soziobiologie, sondern bestenfalls Soziometaphysik - allerdings ohne kluge Metaphysiker. Deswegen stolpern sie von einer Verwechslung zur anderen: Tiere paaren sich, Menschen auch - also reden sie vom Fortpflanzungstrieb. Tiere können aggressiv sein, Menschen nicht weniger - also ist Gewalttätigkeit etwas Natürliches. Tiere sorgen für ihre Brut, also müssen Menschen auch ein besonderes Interesse an ihren Nachkommen haben. Daß die Eigentümlichkeiten der menschlichen Sexualität, die Rätsel, die die Gewalt aufgibt, und die Dynamik von Familienbeziehungen mit solchen Hinweisen, die der Gefahr von falschen Gleichsetzungen nicht entgehen, mehr verdunkelt aIs erhellt werden, merken sie nicht. Die sogenannte Soziobiologie ist keineswegs, wie Wuketits nahelegt, "Brücke zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften". Sie kann es allein schon deswegen nicht sein, weil die Soziobiologen die Disziplinen, denen sie ihre Dienste anbieten wollen, erst einmal gründlich studieren müßten. Empfohlen sei dies insbesondere dem Amerikaner Daniel C. Dennett, der mit seinem Buch "Darwins gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens" nicht nur endgültig alles Leben erklären, sondern zugleich auch noch ethisch ausdeuten will.

    "Wir wollen erklären, wie es kommt, daß das Universurn viele herrlich gestaltete Dinge enthält. Nach Darwins gefährlicher Idee sind sie alle die Früchte eines einzigen Lebensbaums, und die Prozesse, die jedes einzelne davon hervorgebracht haben, sind im Grundsatz immer die gleichen. ... Genauso läßt sich das Genie Bachs in kleine, mikrogeniale Akte zerlegen, winzige mechanische Übergänge zwischen Gehirnzuständen, Erzeugen und Überprüfen, Verwerfen und Umgestalten und wieder Überprüfen."

    Dennett möchte das Prinzip von Mutation und Adaption als letzten Algorithmus für alles Leben, also auch die Leistungen der Kultur, festschreiben. Es handele sich hier um eine Vergröberung Darwins, um "darwinistischen Fundamentalismus", wendet der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould ein. Wenn es doch allein dabei bliebe. Da es für Dennett nur die Natur gibt, meint er, auf den Sinn von Begriffen überhaupt keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. So fragt er:

    "Die meisten menschlichen Embryonen enden als spontane Fehlgeburten .... Ist das etwas entsetzlich Böses? Sind Mütter, deren Organismus solche Embryonen abstößt, des unwissentlichen Mordes schuldig?"

    Zwar antwortet er dann, "natürlich nicht", aber das reicht wohl kaum aus, um sich als Autor ernsthaft zu rehabilitieren. Denn der Begriff des Mordes setzt bewußte Absicht und niedere Beweggründe voraus und eignet sich für eine Frage, wie Dennett sie stellt, auch dann nicht, wenn sie zuletzt verneint wird. In diesem Stil schwadroniert Dennett auf 734 Seiten und liefert nur eine Karikatur der Soziobiologie und des Darwinismus. Aber an ihr wird besonders deutlich, wie sorgfältig Begriffe geprüft werden müssen, wenn sie sowohl auf die Natur wie auf die Gesellschaft bezogen werden sollen.