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Das anatolische Dilemma. Chronos-Verlag, Zürich Weltliche und religiöse Kräfte in der modernen Türkei

Die Türkei ist ein Grenzland, in vielerlei Beziehung. Religiös steht sie zwar fest auf islamischem Boden, aber es herrscht offiziell Trennung zwischen Staat und Religion, obwohl der Fundamentalismus auch hier voranschreitet. Geopolitisch ist die kleinasiatische Demokratie ein Bollwerk gegen die arabisch-islamischen Despotien und Diktaturen, militärisch ist sie ein unverzichtbarer Pfeiler für die NATO und vor allem für die USA und der IrakKrise. In Sachen Menschenrechte hat das Land noch viel zu lernen, Stichwort Kurdenkonflikt und Folterpraxis. Die Türkei ist auch ein Land zwischen Vorurteil und Unkenntnis. Diese Wissenslücke bemühen sich in letzter Zeit eine Reihe Bücher zu füllen. Reinhard Backes hat drei für uns ausgewählt und besprochen:

Reinhard Backes |
    Die Türkei ist ein Grenzland, in vielerlei Beziehung. Religiös steht sie zwar fest auf islamischem Boden, aber es herrscht offiziell Trennung zwischen Staat und Religion, obwohl der Fundamentalismus auch hier voranschreitet. Geopolitisch ist die kleinasiatische Demokratie ein Bollwerk gegen die arabisch-islamischen Despotien und Diktaturen, militärisch ist sie ein unverzichtbarer Pfeiler für die NATO und vor allem für die USA und der IrakKrise. In Sachen Menschenrechte hat das Land noch viel zu lernen, Stichwort Kurdenkonflikt und Folterpraxis. Die Türkei ist auch ein Land zwischen Vorurteil und Unkenntnis. Diese Wissenslücke bemühen sich in letzter Zeit eine Reihe Bücher zu füllen. Reinhard Backes hat drei für uns ausgewählt und besprochen:

    Der Beitritt zur Europäischen Union, der der Türkei auf dem Kopenhagener Gipfel Mitte Dezember einmal mehr in Aussicht gestellt wurde, spaltet Politiker, Wähler und Kommentatoren. Das sei das falsche Signal, "jedenfalls aus Sicht all derer, die eine EU mit großer Geschlossenheit anstreben", so die 'SÜDDEUTSCHE ZEITUNG’: Und weiter: Das Beitrittsversprechen, von der Europäischen Union schon vor Jahren in der Hoffnung gegeben, Ankara werde die Bedingungen nie erfüllen, sei ein Fehler gewesen. "Die Türkei gehört zu Europa," titelte Anfang Dezember hingegen der britische 'ECONOMIST’. Ankara sei das Band, das den Islam an den Westen binden könne.

    Debatten wie diese hat es viele gegeben - weitere werden folgen. Häufig bleiben sie allerdings an der Oberfläche. Der Grund: Nicht viele, die dort streiten, verfügen über ein wirklich fundiertes Wissen; gerade die Politik lässt sich vielmehr nicht selten von kurzfristigen, innen- wie außenpolitischen Überlegungen und Interessen leiten. Durchdachte Konzepte liegen offenbar nicht vor. Und: In Deutschland zeigt das Publikum für die Verhältnisse in der Türkei nur wenig Interesse; über den potentiellen Beitrittskandidaten weiß man wenig, obwohl Millionen Türken in der Bundesrepublik leben und Sommer für Sommer Deutsche zu Hunderttausenden in die Türkei reisen - der Sonne und Strände wegen.

    Weil der EU-Beitritt der Türkei die politische Agenda in den kommenden Jahren aber zweifelsohne mitbestimmen wird, was sich auch innenpolitisch auswirken dürfte, ist Information Politiker- wie Bürgerpflicht; sie sollte es zumindest sein. Ein Blick auf das Angebot der Verlage ist daher naheliegend - und ernüchternd. Viel bietet der Buchmarkt zur Türkei als Reiseland; Veröffentlichungen zur politischen Situation am Bosporus sind hingegen rar. Drei Titel seien hier vorgestellt, die eine nähere Betrachtung lohnen:

    Die Türkei - Nation zwischen Europa und dem Nahen Osten von Brigitte Moser und Michael W. Weithmann;

    Das anatolische Dilemma - Weltliche und religöse Kräfte in der modernen Türkei von Heinz Käufeler und

    Der Rechtsstatus der Kurden im Osmanischen Reich und in der modernen Türkei Der Kurdenikonflikt, seine Entstehung und völkerrechtliche Lösung von Celalettin Kartal.

    Die Bücher legen recht unterschiedliche Schwerpunkte: Während sich Moser/Weithmann und Käufeler der Türkei als Ganzes zuwenden, behandelt Kartal ausschließlich die Kurdenfrage. Zunächst daher ein Blick auf die ersten beiden Werke: Brigitte Moser, Lehrbeauftragte für Türkisch an der Universität Passau, und Michael W. Weithmann, an derselben Hochschule als wissenschaftlicher Bibliothekar tätig, zeichnen die historische Entwicklung vom Osmanischen Reich zum 'türkischen Dreieck’ zwischen Bosporus und Ararat nach. Das leicht verständlich geschriebene Buch lässt sich in zwei Teile gliedern. Im ersten widmen die Autoren dem Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal - per Dekret seit 1934 Atatürk, Türkenvater, genannt - seinen Vorläufern, seinem Werk und seinen unmittelbaren Erben breiten Raum. Die zweite Hälfte der 351 Seiten starken Publikation beschreibt die politische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute.

    Mustafa Kemal ist der Schlüssel zum Verständnis der modernen Türkei. Wie kein zweiter hat er die Republik geprägt, aber durch seine Staatsdoktrin des unbedingten Bruchs mit der osmanischen Vergangenheit und einer gewaltsam erzwungenen Anbindung an westliche Vorstellungen auch ihre Widersprüchlichkeit begründet. Die Autoren schreiben:

    Die überkommenen patriarchalischen und hierarchischen Denkstrukturen der alten Gesellschaft - mit ihrer Betonung der Familienehre, der Achtung vor den Älteren, des unbedingten Gehorsams gegenüber Vorgesetzten, des Vorrangs der Gemeinschaft vor der Einzelpersönlichkeit - bestanden weiterhin, wenn auch aufgefüllt mit 'europäischem’ Wissen. Der Unterricht in türkischen Schulen und Universitäten ist bis heute auf strikte Autorität aufgebaut, Widerspruch, Diskussion oder eigene Meinung werden nicht geduldet. Westeuropa und die USA sind aber in diesem Bereich einen ganz anderen Weg gegangen, nämlich hin zum Individualismus, zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Deshalb zeigen sich immer wieder deutliche kulturspezifische Differenzen in Mentalität und Denkweise zwischen Westeuropäern und modernen Türken, die zu gegenseitigen Mißverständnissen im privaten wie auch im politischen Bereich führen können.

    Widersprüchliches sind Beobachter von der Türkei gewöhnt. Anfang November überraschte der erdruschartige Wahlsieg der islamischen 'Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei’ (AKP) von Tayyip Erdogan, der die Machtverhältnisse buchstäblich auf den Kopf stellte. Das in der Vergangenheit von gewaltigen Interessengegensätzen, wechselnden Koalitionen und zum Teil handfesten Auseinandersetzungen geprägte Parlament verfügt nun nur noch über eine Regierungs- und eine Oppositionspartei. Folgt man der Darstellung Brigitte Mosers und Michael Weithmanns, ist diese Entwicklung keinesfalls überraschend: - 4

    Der breiten Masse wurde die Europäisierung 1923 bis 1938 sozusagen von oben übergestülpt. Die Machtverhältnisse blieben aber auch nach Atatürk eindeutig: An den Schalthebeln der Macht saß weiterhin die politische Klasse, die sich mit Atatürks Erbe und mit Europa identifizierte, wobei immer noch das Militär ihre Avantgarde bildete. Mit einem zivilisationsabhängigen Vorgang konnte Atatürk freilich nicht rechnen: mit der Verfünffachung der Bevölkerungszahl innerhalb von 6o Jahren! Aber nicht die kemalistisch gesonnene Ober- und Mittelschicht hat sich so exzeptionell vermehrt, sondern die traditionell denkende Bevölkerung von Anatolien, die den Islam niemals vergessen hatte. Darin liegt ein erster Grund für das 'neu’ Aufkommen des politischen Islam in unserer Zeit und eine schleichende Machtverschiebung.

    Diese Entwicklung zu erläutern ist auch das Anliegen Heinz Käufelers. Stark vereinfacht gesagt versucht der Autor, Privatdozent am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich, in seiner umfassenden ethnographisch-historischen Untersuchung Das anatolische Dilemma - Weltliche und religiöse Kräfte in der modernen Türkei den Gegensatz zwischen Moderne und Islam zu ergründen. Schlüsselbegriff ist ihm die 'Säkularisierung’, ein - wie er anmerkt - problematischer, weil im christlich-abendländischen Kontext entstandener Begriff, den Käufeler dennoch auf die türkisch-islamische Gegenwart zu übertragen sucht. Breiten Raum widmet er im Vorgriff deshalb der Geschichte der Säkularisierung im Westen, sowie parallel den morgenländischen Verhältnissen. Er resümiert:

    Die Aufklärung ist eine abendländische Eigenheit, aber alle Gesellschaften der Gegenwart sehen sich mit ihren Ergebnissen konfrontiert. Die kulturellen Probleme außereuropäischer Gesellschaften mit der Moderne, die im Unterschied zu technisch-ökonomischen Entwicklungsproblemen insgesamt wenig Beachtung finden, haben meines Erachtens ganz zentral mit dem Quantensprung der Aufklärung und mit dem Phänomen der Säkularisierung zu tun, mit der Institutionalisierung von Zweifeln, Kritik und Pluralismus im Kernbereich der Moderne.

    Käufelers Werk fehlt die Leichtigkeit der Sprache von Moser und Weithmann. Seine wissenschaftlich fundierten, tiefer reichenden, bisweilen sogar philosophisch anmutenden ethnographisch-historischen Untersuchungen dürften Leser, die einen schnellen Überblick wünschen, daher wohl eher abschrecken. Die Qualität seiner Arbeit schmälert das allerdings nicht. Ein interessanter Aspekt: Der Autor, der selbst mehrere Jahre in der Türkei gelebt hat, führt den Leser in eine westanatolische Kleinstadt, um - wie er schreibt - aus einer ethnographischen Perspektive einen Ausschnitt der zeitgenössischen Türkei vorzustellen,

    ... der zwischen den Polen des modern-urbanen und des traditionell-ruralen anatolischen Milieus anzusiedeln ist. Die ethnographische Beschreibung konzentriert sich auf die für den vorliegenden Kontext relevanten Aspekte, d.h. Religion, Formen der Autorität, Kulturkämpfe. Vorgestellt werden auch die Ergebnisse einer quanititativen Erhebung.

    Wissenschaftlichen Ansprüchen genügt auch die Dissertation Celalettin Kartals. Zwar behandelt der Autor eine spezifische Frage, den Rechtsstatus der Kurden im Osmanischen Reich und in der modernen Türkei, dennoch passt die Untersuchung gut zu den bereits vorgestellten Werken. Der Kurdenkonflikt zeigt exemplarisch die Behandlung von Minderheiten durch den türkischen Staat. Ihre Stellung in der modernen Türkei erläutert der Autor detailliert. Dabei beschreibt gerade eine seiner Schlussfolgerungen zutreffend ein möglicherweise nur schwer zu überwindendes Hindernis auf dem Weg zu einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU. Sie lautet:

    Möglicherweise ist der Kemalismus, da er Grenze und Schranke der türkischen Politik darstellt und einen demokratischen Pluralismus ausschließt, ein wesentliches Hindernis für die Entwicklung der Gesellschaft in der Türkei. Kritik, die sich gegen diese Ideologie richtet, ist in der Türkei untersagt. Alle, ob Behörden oder Parteien, haben sich von Gesetzes wegen nach ihr zu richten.

    Das war eine Rezension von Reinhard Backes zu den drei Büchern: Die Türkei - Nation zwischen Europa und dem Nahen Osten von Brigitte Moser und Michael Weithmann, erschienen im Verlag Friedrich Pustet in Regensburg. Es hat 351 Seiten und kostet 32 Euro, ferner Das anatolische Dilemma - Weltliche und religiöse Kräfte in der modernen Türkei von dem Autor Heinz Käufeler, erschienen im Chronos-Verlag in Zürich, 512 Seiten zu 53 Euro neunzig, und schließlich von Celalettin Kartal Der Rechtsstatus der Kurden im Osmanischen Reich und in der modernen Türkei Der Kurdenkonflikt, seine Entstehung und völkerrechtliche Lösung aus dem Kovac-Verlag in Hamburg, 232 Seiten zu 59 Euro.