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Das andere Bild der Türkei

Die mittelanatolische Stadt Kayseri ist in den vergangenen 15 Jahren zur Boomtown der Türkei geworden. Dort werden Europas Kaufhausmöbel gebaut und die halbe Welt mit Jeansstoff versorgt. Die Stadt ist ein Beispiel dafür, wie wirtschaftlicher Erfolg und soziale Entwicklung ein Milieu geschaffen haben, in dem Islam und Moderne bestens nebeneinander bestehen können. Gunnar Köhne berichtet.

    Majestätisch thront der Berg Erciyes, ein erloschener Vulkan, über der kargen Hochebene Mittelanatoliens. Am Fuß des 4000-Meter-Gipfels liegt das Stein gewordene Wirtschaftswunder der Türkei: Kayseri. Früher war die 500.000-Einwohner-Stadt höchstens bekannt für pikante Würste und billige Textilien. Heute ist Kayseri eine boomende Industriestadt.

    Moderne Apartmenthäuser säumen die breiten Hauptstraßen. Armenviertel sind nicht zu sehen, stattdessen Fünf-Sterne-Hotels und jede Menge Baustellen: Derzeit sind eine S-Bahn, ein neuer Flughafen und ein neues Fußballstadion im Bau. In Kayseri herrscht Vollbeschäftigung. Eine moderne, europäische Großstadt, obwohl die Mittelanatolier als besonders gläubig gelten und im Stadtbild von Kayseri unter den Frauen die Kopftücher dominieren. Die religiös-konservative Regierungspartei AKP erhielt in Kayseri, der Heimatstadt von Außenminister Abdullah Gül, bei den letzten Wahlen 70 Prozent der Stimmen.

    Saffet Arslan kann dieses Paradox erklären. Der 58-Jährige hat den Aufschwung seiner Heimatstadt mit geprägt. Der Unternehmer baut Billig-Möbel für Europa und den Nahen Osten - Jahresumsatz 150 Millionen Euro. Stolz zeigt Aslan die Montagehalle seiner Fabrik, wo Klappsofas in 30 Sekunden am Fließband zusammengesetzt werden. Arslan begann schon mit 13 Jahren eine Schreinerlehre. Damals gab es in seinem Dorf nicht einmal Strom. Doch binnen einer Generation gelang der Aufstieg ins Industriezeitalter, mit den typischen Eigenschaften eines Mannes aus Kayseri: mit Fleiß, Weltoffenheit und Gottesfurcht:

    "Wir in Kayseri lieben und leben den Islam. Aber wir lassen unseren Glauben aus dem Spiel, wenn es ums Geschäftliche geht oder um die Politik. Der Glauben ist Privatsache, und ich würde auch niemanden damit behelligen."

    Das Industriezentrum von Kayseri wird von einer riesigen Moschee überragt. Dennoch käme hier niemand auf die Idee, dem Zinsverbot des Korans zu folgen. Dort, wo noch vor zwei Jahrzehnten Schafe weideten, haben sich mittlerweile über 600 Betriebe angesiedelt, überwiegend aus der Möbelbranche. An einem einzigen Tag wurde der Grundstein für 135 Fabriken gelegt. Damit gelangte Kayseri ins Guiness-Buch der Rekorde.

    Diese Erfolgsgeschichte hat das Interesse des Auslandes geweckt. Die internationale Politikstiftung "European Stability Initiative", kurz: ESI, erregte Aufsehen, als sie die Mittelanatolier in einem Bericht "Islamische Calvinisten" nannte. Die österreichische Politikwissenschaftlerin Verena Knaus von ESI erzählt, wie es zu dem Namen kam:

    "Der ehemalige Bürgermeister von Kayseri, Sükrü Karatepe, hat uns in einem Gespräch gesagt, wenn Sie Kayseri verstehen möchten, dann lesen Sie doch Max Weber. Die prostetantische Arbeitsethik, die Weber beschreibt - das sind wir. Wir arbeiten, wir geben kein Geld für Luxus aus, wir bauen uns keine große Häuser. Wir investieren in die Ausbildung unserer Kinder, und wir sind letztendlich konservative Geschäftsleute, die die gleiche Arbeitethik teilen wie Mohammed, der ein erfolgreicher Händler war."

    Zwar ist die Zustimmung zur EU türkeiweit auf ein Jahrestief von nur noch knapp 40 Prozent gefallen, doch im Industriegebiet von Kayseri lebt die Hoffnung auf Europa weiter. Saffet Arslan, selbst Vater von fünf Kindern, vergibt jedes Jahr gemeinsam mit anderen Unternehmern über 400 Stipendien an Schüler und Studenten, damit seine Stadt auch in der Bildung mit Europa Schritt hält.

    "Ich bin der festen Überzeugung, dass Europa für uns in eigentlich allen Fragen des Lebens und der Gesellschaft Vorbild sein sollte."

    Der wirtschaftliche Wandel wird nach und nach auch andere gesellschaftliche Bereiche durchdringen, glauben Beobachter. Beispiel Frauen: Noch ist Kayseri patriarchalisch geprägt und Frauen in Führungspositionen kann man an einer Hand abzählen. Aber an der örtlichen Hochschule stellen junge Frauen schon knapp die Hälfte der Studierenden. Verena Knaus rät allen Türkei-Skeptikern eine Reise nach Zentralanatolien. Dort gebe es etwas zu lernen:

    "Dass der Islam kein Widerspruch zur Modernität ist, dass der Islam nicht technologiefeindlich sein muss, auch nicht frauenfeindlich. Ich denke, dass der Islam, so wie er sich in einer Stadt wie Kayseri, aber auch in anderen zentralanatolischen Provinzen wie Gaziantep oder Denizli, darstellt, dass dieser Islam europäisch ist."