Merkt euch das, es gibt Rippen und Rappen
Merkt euch das, es gibt Zippen und Zappen
Merkt euch das, wir sind cooler als Eis.
Merkt euch das, wir sind Twins, wir sind Twice
Cal und Gus sind zwölf Jahre alt und leidenschaftliche Rapper. Sie sind Twins, wie sie sagen, eineiige Zwillinge. Sie haben eine Band und nennen sich "Twice".
Danny und Finn sind zehn Jahre alt. Auch sie sind Zwillinge, auch sie eineiig.
"Danny oder Finn?"
… werden Sie immer gefragt. Denn ihre Klassenkameraden - und manchmal sogar ihre Eltern – können sie kaum voneinander unterscheiden.
Dann sind da noch Sus und Teresa. Sie sind schon vierzehn.
"Wir sind Zwillinge, zweieiige, und wir sind zusammen, seit es uns gibt. Zum Glück sehen wir uns nicht ähnlich und man verwechselt uns nicht."
Und schließlich gibt es noch Sophia und ihren Bruder Uli. Auch sie sind Zwillinge, allerdings auch sehr verschieden.
"Früher waren wir unzertrennlich, waren SophiaunUli in einem Wort…. Langsam, langsam sind wir zwei Worte geworden und ich hab es gar nicht wirklich mitbekommen."
Zwillinge waren und sind ein beliebtes Motiv der Kinder- und Jugendliteratur. Da taucht, besonders für Erstleser, das alte Schema vom lustigen Leben im Doppelpack immer wieder auf. Doch das ist ja nur die eine Seite vom Zwillingsein. Die andere, die ernsthafte, komplizierte Seite ist erst in den letzten vielleicht zwanzig Jahren häufiger thematisiert worden. Ein herausragendes Beispiel: Peter Pohls bewegender Jugendroman "Du fehlst mir, du fehlst mir", in Deutschland erschienen im Jahr 1994. Hier geht es um den Tod eines Zwillings. Expertin sozusagen für diese eher nachdenkliche Zwillingsliteratur ist die Kinder- und Jugendbuchautorin Sigrid Zeevaert. Denn zum einen ist sie selbst ein Zwilling und außerdem hat sie zwei eindrucksvolle Bücher über Zwillingspaare geschrieben.
Zeevaert: " Ich kann nur sagen, dass meine Beziehung zu meiner Zwillingsschwester mein ganzes Leben hindurch eine besondere Beziehung war. Besonders, weil es immer eine besondere Nähe gab, auch weil sich hier die ganze Bandbreite der Gefühle der beiden Personen – weil sich das besonders stark reiben musste und rieb. (…)Und die Themen, die wir miteinander auszufechten hatten, immer in Reibung und in Konkurrenz auszufechten hatten. "
Nähe und Reibung, Sigrid Zeevaert weiß, wovon sie spricht. Und wovon sie in ihren beiden Büchern "Max, mein Bruder" und "Wer ich bin" erzählt. Zwillingsbeziehungen sind besonders, aber wohl niemals nur lustig, witzig, positiv. Genauso oft können sie schwierig, ja sogar problematisch sein. Reibung und Konkurrenz, das sind Erfahrungen, die alle Zwillinge machen und die gerade auch in neueren Zwillingsbüchern häufig auftauchen. Genauso wie die Tatsache, dass Zwillinge ja längst nicht immer eineiig, also total ähnlich sind, sondern häufig eben zweieiig. Genetisch gesehen ganz normale Geschwister mit sehr verschiedenen Veranlagungen, unterschiedlichem Aussehen und oft auch mit verschiedenem Geschlecht. Geschwister, die aber zeitgleich aufwachsen. Und das hat durchaus seine Tücken.
Cal und Gus in Edward van de Vendels Kinderroman "Twice ist cooler als Eis" haben von der problematischen Seite des Zwillingseins allerdings noch nichts mitbekommen.
"Cal heißt eigentlich Calvin und ich heiße eigentlich Gustav, also kurz gesagt Gus. Und zusammen sind wir Twice. Wir mögen Fremdsprachen, twice bedeutet nämlich "zweimal" und Twice ist eine Band. Wir sind eine Band."
Cal und Gus sind begeisterte Rapper und Zwillinge, wie sie im Buche stehen. Eineiig, weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen und im Doppelpack mindestens doppelt stark. Schnoddrig, ja frech erzählt Gus ihre Geschichte, in der es um ihren Lieblingslehrer Monty geht, um die Ersatzlehrerin Frau Breedwisch, um eine Klassenrevolte und Levineke, das Nachbarmädchen.
Ein bisschen durchgeknallt sind sie schon, die beiden Zwillinge Cal und Gus, und außerdem zum Verwechseln ähnlich.
"Immer wenn es schön wird oder unheimlich oder spannend oder ganz mies, so wie jetzt, dann sagen und denken wir fast dasselbe. Solche Zwillinge sind wir. Eigentlich eher ein verdoppelter Einling, gleicher Kopf, gleiche Ideen, gleiches Puree. Ich wurde zwar eine Minute früher geboren als Cal, aber das heißt nichts, ich lag einfach nur näher am Ausgang."
Ganz mies ist die Situation im Augenblick, weil die beiden Kerle Hausarrest haben und auch am Wochenende nicht zum Konzert ihres Lieblingsrappers gehen dürfen. Sie haben nämlich eine kleine Revolution angezettelt gegen ihre Vertretungslehrerin Frau Breedwisch, die zwar keine Hexe ist, aber eben auch lange nicht so cool wie ihr kranker Klassenlehrer Monty. Frau Breedwisch hat einfach keinen Plan, duldet in Handarbeit keine Musik, sagt blöde Sachen über Fußball und hasst Rap. Und wo kein Rap, da kein Cap! Cal soll sein Baseball-Cap im Unterricht abnehmen. Er weigert sich, zieht schließlich die Hose runter und fliegt raus. Gus geht gleich mit! Und am nächsten Tag kommt aus Protest die ganze Klasse mit Cap. Von diesem Tag an hat Frau Breedwisch keine Chance mehr, sie wird gemobbt. Cal und Gus sind die stolzen Anführer dieser Revolte. Und das kann bei Zwillingspaaren öfters vorkommen, weiß Sigrid Zeevaert.
Zeevaert: " Es ist natürlich durchaus eine geballte Form von Kindsein gegenüber Erwachsenen und auch gegenüber anderen Kindern. Ich bin mit meiner Schwester in einer Klasse gewesen und da haben wir anders auftreten können als Kinder, die für sich alleine in diese Klasse gegangen sind. "
Es ist ein Machtkampf, der zwischen Cal und Gus und der armen Frau Breedwisch ausgetragen wird. Ein Machtkampf, in dem die unsensible Lehrerin von Vornherein keine Chance hat. Doch stark oder stärker sind die beiden Jungen nicht nur, weil sie zu zweit sind. Stark sind Zwillinge auch dadurch, dass sie bei aller Ähnlichkeit doch auch verschieden sind. Dass sie, um sich voneinander abzugrenzen, ihre Veranlagungen verschieden ausbauen. Sich sozusagen spezialisieren und sich damit, je älter sie werden, unterschiedlich entwickeln. Auf Dauer also nicht doppelt sind, sondern zwei.
"Ich bin der Pläneausdenker, er ist der Mund, der alles sagt….. Wir sind anders. … Ich bin anders als Cal und Cal ist anders, als ich es bin. Vielleicht sieht man es von außen nicht so, und doch stimmt es. Levineke sagte, sie sähe etwas an unseren Mündern, aber das war Bluff. Unsere Münder sind es nicht. Als Zwillinge weiß man genau, wie gleich man ist, aber auch, wie ungleich."
Ähnlichkeit und Verschiedenheit, Nähe und Abstand, diese wesentlichen Zwillingserfahrungen spielen in Edward van de Vendels Kinderroman ""Twice ist cooler als Eis" noch keine substantielle Rolle. Theoretisch könnten Gus und Cal normale Geschwister sein oder sehr gute Freunde. All die schwierigen Erfahrungen wie Identitätssuche und Ablösung kommen meist erst in der Pubertät und liegen damit noch vor ihnen. Darum kann dieser Roman auch so unbeschwert daherkommen. Mit leichter Hand geschrieben erzählt er von der nur positiven Zwillingserfahrung: Von geteiltem Leid, doppelter Freude und gemeinsamen Erfolgen. Von innerer Nähe, die nicht stört, sondern stärkt, von Verschiedenheit, die nicht wehtut sondern gut. Kein Wunder, dass es schließlich zum Happy-End kommt, zum Einlenken auf beiden Seiten und zur total komischen Versöhnung hoch oben in der Luft. Und klar, dass die Musik dabei eine wichtige Rolle spielt
Finn und sein Zwillingsbruder Danny in Tom Kellys Kinderroman "Die Sache mit Finn" sind erst zehn. Sie gleichen sich nicht nur wie das sprichwörtliche Ei dem anderen – selbst ihre Eltern haben Probleme, sie zu unterscheiden – sondern sind sich auch innerlich ganz nah. Aber obwohl die beiden noch so jung sind, und obwohl die angesprochenen Leser auch nicht älter sind als sie, haben wir es hier mit einer sehr ernsten Geschichte zu tun.
"Meine Familie, das sind Mum und Dad und mein eineiiger Zwillingsbruder und meine kleine Schwester Angela, die gehörlos ist, und Donut, der dämliche Hund. Wir wohnen zusammen in einem Haus in der Holt Street. Mein Bruder ist ertrunken. Das ist in einem Fluss passiert, ein paar Kilometer weg von unserm Haus, und zwar so …"
Man könnte meinen, mit diesen Sätzen beginne der Roman. Doch der zehnjährige Danny schafft es erst ganz am Ende des Buches, seine Geschichte so zu erzählen. Warum er eine Fensterscheibe eingeworfen hat, warum er von zu Hause weggelaufen ist und was mit seinem Zwillingsbruder Finn passiert ist - er kann es vorher nicht aussprechen. Denn der hochsensible Danny ist – und das bekommt man als Leser hautnah mit – durch Finns Tod komplett aus der Bahn geworfen. Erst ganz langsam und vorsichtig entwickelt sich aus Andeutungen und Erinnerungssplittern so etwas wie ein Bild von einer sehr liebevollen Familie und einer ganz engen Bindung zwischen den beiden Zwillingsbrüdern. Mit Finn hat er einen Teil von sich selbst verloren, fühlt sich, als werde er entzwei gerissen.
"Ich weiß ja, dass ich mir eigentlich bloß normale Kindersorgen machen dürfte, weil ich schließlich ein Kind bin. Aber je weiter ich komme, desto mehr habe ich das Gefühl, dass ich ganz lang auseinander gezogen werde. Jetzt weiß ich nicht mal mehr, wer ich bin."
Als besonders problematisch erweisen sich große Nähe und Ähnlichkeit, wenn ein Zwilling ums Leben kommt. Dann verliert der andere plötzlich und unvorbereitet sein Alter-Ego, sein Spiegelbild, seine andere Hälfte. Das Traumatische an Dannys Situation ist ja, dass er eben keine Zeit hatte, sich langsam und vielleicht unter vielen Streitereien in der Pubertät aus der engen Bindung an Finn zu lösen. Er wird von heute auf morgen ins bitterkalte Wasser geworfen. Und weiß, dass er seine Eltern allein durch sein Aussehen schon immer an den toten Bruder erinnern wird. Deswegen läuft er weg.
Zeevaert: " Interessanterweise ist das das Thema in meinem ersten Kinderbuch gewesen. Da hab ich von einer Zwillingsschwester erzählt, die ihren Bruder verliert. Das ist sicherlich so, dass es ne Erschütterung ist, die unvergleichlich ist. Weil es ein Teil des Eigenen ist, ein Teil des Weltbildes… Wenn man sich vorstellt, diesen anderen Menschen, den hat es immer gegeben, von der ersten Sekunde an, seit es einen selber gegeben hat, er war in der Nähe, dann ist er auch etwas Besonderes. Und wenn man diesen Menschen verlieren muss, dann reißt das im Inneren, in der Seele etwas ein, was wahrscheinlich unersetzlich sein wird. "
In ihrem ersten Kinderbuch "Max, mein Bruder" hat Sigrid Zeevaert über den Verlust eines Zwillingsbruders geschrieben. Eine Geschichte, die, ebenfalls für Kinder ab zehn, in ihrer Eindringlichkeit ähnlich berührt wie Tom Kellys "Die Sache mit Finn". Was Tom Kellys Text so anrührend macht ist der Ton, in dem Danny seine Geschichte erzählt. In eindringlichen Bildern, schnoddrig und dann wieder wehmütig, altklug und lakonisch zugleich, albern bis zum Anschlag und tod-traurig redet er ununterbrochen vor sich hin, als wolle er redend weglaufen vor dem Schmerz der Erinnerung. Der Erinnerung an das Vorher, und der Erinnerung an Finns Unfall selbst. Denn Danny fühlt sich mitschuldig am Tod des Bruders. Sechs Wochen lang hat er nach dem Unfall geschwiegen, und niemand wusste, wer er ist, Finn oder Danny. Und dann läuft er weg.
"Jetzt muss ich wieder nach Hause. Ich muss aufhören, so zu tun als ob, und wieder ich selbst sein. Ich weiß, ich habe meiner Familie sehr wehgetan, aber ich kann mir auch jetzt noch keinen anderen Weg vorstellen, wie ich mit dem, was passiert ist, fertigwerden konnte… Ich musste weggehen; als ich nämlich nach den bescheuerten sechs Wochen endlich wieder anfing zu sprechen, haben sie gemerkt, dass ich ich bin und nicht mein Bruder."
Und auch der Leser erfährt erst jetzt, was er vorher nur vermuten konnte: dass er es gar nicht mit Danny zu tun hat, sondern mit Finn. Dass Finn lebt und Danny tot ist. Dass Finn Danny gespielt hat, für sich und die Familie, um Danny weiter leben zu lassen. Und um sich selbst zu bestrafen. Nur ein so phantasievoller Querdenker wie Finn konnte auf diese Verwechslungsgeschichte kommen, manches Rätsel löst sich erst jetzt auf. Am Schluss kann Finn dann endlich wieder Finn sein, und Danny lebt weiter in seinen Gedanken, Erinnerungen und Erzählungen. In diesem Buch.
Mit Zwillingen kennt die Kinder- und Jugendbuchautorin Sigrid Zeevaert sich aus, denn sie ist selbst mit einer Zwillingsschwester aufgewachsen. Schrieb sie in ihrem ersten Kinderbuch "Max, mein Bruder" aus dem Jahr 1986 darüber, wie Johanna mit dem Verlust ihres Zwillingsbruders Max fertig werden muss, so erzählt sie in ihrem gerade erschienenen Jugendroman "Wer ich bin" von den Zwillingsschwestern Teresa und Sus. Sie sind 14 und stecken mitten in der Pubertät.
"Wir sind Zwillinge, zweieiige, und wir sind zusammen, seit es uns gibt. Zum Glück sehen wir uns nicht ähnlich und man verwechselt uns nicht. Teresa hatte immer schon dunklere Haare als ich. Meine sind blond. Nicht hellblond. Eher mittel. Ich bin auch ein bisschen größer als Teresa und sportlicher. Teresa ist hübsch. Dafür bin ich neun Minuten älter als sie."
Sus und Teresa dürfen von Anfang an die Erfahrung machen, dass sie sich sehr nah sind, und doch auch verschieden. Und diese Erfahrung hilft ihnen, als sie sich vor den Sommerferien beide gleichzeitig in den hübschen Finn verlieben. Es kommt zu Verletzungen, zum Streit, zu ganz neuen, unbekannten Gefühlen wie Eifersucht und Neid. Ihre Zuneigung wird auf eine harte Probe gestellt.
Eigentlich wollten Sus und Teresa in den Sommerferien zu ihrer Tante nach Griechenland fliegen. Doch die Reise wird im letzten Augenblick abgesagt. So stehen sie vor einem Scherbenhaufen: Wütend aufeinander wegen Finn, der Teresa bevorzugt und enttäuscht darüber, dass die herrliche Griechenlandreise ins Wasser gefallen ist. Ohne Pläne für die nächsten sechs Wochen und mit zerstrittenen Eltern, die getrennt Urlaub machen wollen. Ohne Kinder.
Doch aus dieser total verfahrenen Situation wächst plötzlich auch eine Chance. Sus und Teresa trennen sich zum ersten Mal für eine längere Zeit. Sus fährt doch mit ihrem Vater nach Italien und Teresa bleibt zu Hause bei ihrer Mutter. Und so können sich zwischen allen Familienmitglieder ganz leise neue Beziehungen entwickeln.
Zeevaert: " Was für mich klar geworden ist …. es gibt schon sehr unterschiedliche Formen von Nähe. So sehr unterschiedliche Dimensionen von Nähe. Es gibt eine scheinbare Nähe, die verhindert, dass andere Dinge hervorkommen und lebendig werden können. Und erst wenn man das, diese ganz enge, aufeinander bezogene Nähe, lösen kann, wenn man das schaffen kann, sich voneinander zu trennen und den Blick anderswohin zu wenden, dann überhaupt ganz andere Dinge hervorkommen können…. Und dass das auch zu einem Entwicklungsprozess dazugehört. "
"Gleich neben meinem Zelt sitzen Papa und Ad und reden. Ich höre nicht hin. Weil ich gern für mich allein bin, auch wenn ich mir selbst manchmal fremd bin, weil ich mir vorkomme, als würde ich neuerdings eine andere sein. Eine, die noch niemand kennt. Nicht einmal ich…. "
… denkt Sus. In Italien kommt sie sich selbst ein Stück näher und auch dem Vater. So wie Teresa zu Hause der Mutter näher kommt und Finn. Die Zwillinge lösen sich langsam und schmerzhaft aus ihrer engen, aufeinanderbezogenen Nähe, um neue, andere Bindungen einzugehen. Um, jede für sich, spannende oder sogar gefährliche Dinge zu erleben. Ein Entwicklungsprozess findet statt, der auch die Eltern einbezieht und auch für sie ein positives Ende denkbar werden lässt. Denn erst durch die neue Nähe von Vater und Sus, Mutter und Teresa kommt auch endlich der tödliche Unfall des älteren Buders zur Sprache, der die Beziehung der Eltern so sehr belastet. Für alle vier wird es möglich, miteinander zu reden. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne….Das empfindet auch Teresa.
"Irgendwie ist etwas anders geworden mit uns. Ich weiß auch nicht, und bin mir nicht mal sicher, ob es wirklich so ist. Aber es kommt mir vor, als wäre mit uns seitdem etwas gut. Ich meine noch besser, als es je war. Ich denke ja auch anders an sie. Und ich merke, wie sehr sie mir fehlt."
Sigrid Zeevaert erzählt ihren Jugendroman abwechselnd aus der Perspektive von Sus und Teresa. Das macht die Geschichte der beiden Mädchen besonders lebendig. Werden Ihre Zuneigung und ihre Auseinandersetzungen, ihre gemeinsamen Erlebnisse und Erinnerungen doch aus zwei Blickwinkeln geschildert und dadurch vielschichtiger. Außerdem ist "Wer ich bin" in der Ich-Form geschrieben, wie übrigens alle hier vorgestellten Zwillingsbücher.
Zeevaert : " Ich ist sicherlich in der Zwillingskonstellation im Grunde der Versuch, mich zu unterscheiden von dem anderen. Ich bin ich. Und nur ich…. Dieses Ich ist sicherlich der Versuch, mich als Schreiber nah in diese Figur zu bringen, aber auch den Leser nah ranzuholen. Eben eine nahe Beziehung einzugehen. Und gleichzeitig diese einmalige, ganz besondere Person zu erzählen. "
Um diese Einmaligkeit der Person geht es Sigrid Zeevaert in "Wer ich bin". Um Ich-Suche und Ich-Findung. Am Zwillingsmotiv lässt sich dieser Prozess in ihren Augen besonders gut entwickeln, denn hier ist er besonders schwierig. Dass auch die drei anderen vorgestellten Bücher ihre Geschichte in der Ich-Form erzählen zeigt, wie sich die Perspektive der Kinder- und Jugendliteratur in den letzten Jahrzehnten verschoben hat: Von außen nach innen, was im Fall des Zwillingsmotivs heißt: von der Betonung des Gemeinsamen – wie bei Erich Kästner oder Enid Blyton – hin zur Betonung des Verschiedenen. Die Ich-Erzählform ist in diesen Zwillingsbüchern Ausdruck und Mittel zugleich der ganz eigenen Identität.
Auch Katrin Stehles Roman "Die Stille danach" erzählt von solch einer bewussten Abgrenzung zwischen Zwillingen. Sophia ist fünfzehn, und sie ist todtraurig. Warum, wird im Vorspann berichtet:
"Das Krachen. Er hätte nicht gedacht, dass es so laut sein würde. Dunkelheit. Dröhnen in seinen Ohren. Er fliegt. Fliegt durch die Luft. Riesige schwarze Bäume, die den dunkelgrauen Himmel verdecken. Dunkelgrün-braun-graue Waldwelt rast an ihm vorbei und verschwindet in einem schwarzen Loch. Stille."
Uli ist mit seinem Motorrad gegen eine Wand gefahren. War es ein Unfall oder Selbstmord? Sophia quält sich mit dieser Frage und will es herausfinden. Und sie will auch herausfinden, wie es dazu kam, dass sie und ihr Zwillingsbruder sich in den letzten Jahren immer fremder wurden. Als Kinder waren sie einfach unzertrennlich, SophiaunUli – in einem Wort. Bis Uli begann, abzublocken. Sich die Haare färbte, sich piercen ließ, in einer merkwürdigen Band mit schrägen Leuten aggressive Musik machte und sich mit der ganzen Familie zerstritt.
Zeevaert : " Es ist vor allem das Innere, was das Besondere ausmacht. Dieses Sich-aufeinander-Beziehen-Können, sich verlassen können, sich sehr genau zu kennen. Und dieses sich sehr genau Kennen bedeutet aber auch zwischen beiden Zwillingen eine sehr, sehr verletzliche, verletzbare Situation. "
"Irgendwann in einem anderen Leben haben wir uns einmal geschworen, dass wir immer zusammenhalten werden. Er hat es nicht gewollt, hat mich aus seinem Zimmer geworfen und blöde Witze über mich gerissen, über mein Haar, meine Kleidung. ..Da habe ich auch nicht mehr gewollt… In den letzen Jahren haben wir uns in Frieden gelassen. Und uns verloren. Oder schon längst vorher."
Sophia ist durch Ulis Tod tief verletzt. Wie nah die beiden sich einmal waren, weiß niemand. Denn man sah es ihnen ja nicht an. Aber irgendwann kam es zur Entfremdung. Er brach aus, verweigerte sich dem dumpfen Familienleben in der biederen Bauernfamilie mit den sechs Kindern. Während Sophia sich um die kleine Schwester und den Haushalt kümmerte, driftete er in seinen obskuren Freundeskreis ab. Doch indem Sophia versucht zu verstehen, was Uli umtrieb, bekommt sie auch einen immer schärferen Blick für ihre Familie und ihr eigenes Leben. Und sie begreift, dass sie sich - fleißig, vernünftig und verantwortungsbewusst - nur angepasst hat an den psychischen Druck, der in ihrer Familie herrscht. An die allgemeine Gefühllosigkeit, an die Weigerung, Probleme zu sehen, an die Unfähigkeit, miteinander zu reden. Und an die Gleichgültigkeit gegenüber dem Unrecht direkt nebenan, wo Marks Vater immer wieder die Mutter verprügelt. Uli war der einzige, der den Mut hatte, sich einzumischen. Sein Tod war ein Protestschrei gegen die schein-heile Welt der Eltern, vor allem gegen deren Sprachlosigkeit. Und damit auch ein Protestschrei gegen Sophia.
"Uli ist weg. Und ich habe ihn nicht gekannt. Er hat seine Mails gelöscht, hat versucht, keine Spuren zu hinterlassen. ..
Ich hätte mit Uli gehen sollen damals. Hätte ihm helfen sollen bei der Geschichte mit Mark. Vielleicht wäre dann jetzt alles anders. Ich habe es satt, ich selbst zu sein. Ich bin so ein Feigling!
Auf einmal ist mir ganz klar, was ich jetzt tun muss."
Sophia hat Uli erst nach seinem Tod wieder kennen gelernt. Für sie wird die Trauer zur Chance. Sie begreift, was ihn bewegte, wogegen er sich vergebens wehrte und verändert sich dadurch. So wie alle Zwillinge in den vorgestellten Büchern mit und an ihren Geschwistern wachsen. Sich selbst näher kommen. Cal und Gus empfinden sich als Einheit und werden gemeinsam ein wenig reifer. Finn kann nach einer tragikomischen Verwechslungsgeschichte irgendwann wieder Finn sein und begreift, dass er den Bruder nie ganz verlieren wird. Sus und Teresa lösen sich voneinander und können sich neu begegnen. Und für Sophia schließlich beginnt nach Ulis Tod ein anderes Leben. Sie beginnt endlich zu reden, ihre Gefühle zu zeigen und zu weinen. Sie gewinnt neue Freunde und holt sich ihren Zwillingsbruder ein Stück zurück, indem sie wieder Musik macht. So wie er.
"Ein Lied entsteht in meinem Kopf. Ein Lied für Uli. Und es ist anders als die Musik, die ich bisher immer im Kopf hatte, kompliziert und trotzdem einfach. Ich muss es aufschreiben. Aber das hat Zeit."
Merkt euch das, es gibt Zippen und Zappen
Merkt euch das, wir sind cooler als Eis.
Merkt euch das, wir sind Twins, wir sind Twice
Cal und Gus sind zwölf Jahre alt und leidenschaftliche Rapper. Sie sind Twins, wie sie sagen, eineiige Zwillinge. Sie haben eine Band und nennen sich "Twice".
Danny und Finn sind zehn Jahre alt. Auch sie sind Zwillinge, auch sie eineiig.
"Danny oder Finn?"
… werden Sie immer gefragt. Denn ihre Klassenkameraden - und manchmal sogar ihre Eltern – können sie kaum voneinander unterscheiden.
Dann sind da noch Sus und Teresa. Sie sind schon vierzehn.
"Wir sind Zwillinge, zweieiige, und wir sind zusammen, seit es uns gibt. Zum Glück sehen wir uns nicht ähnlich und man verwechselt uns nicht."
Und schließlich gibt es noch Sophia und ihren Bruder Uli. Auch sie sind Zwillinge, allerdings auch sehr verschieden.
"Früher waren wir unzertrennlich, waren SophiaunUli in einem Wort…. Langsam, langsam sind wir zwei Worte geworden und ich hab es gar nicht wirklich mitbekommen."
Zwillinge waren und sind ein beliebtes Motiv der Kinder- und Jugendliteratur. Da taucht, besonders für Erstleser, das alte Schema vom lustigen Leben im Doppelpack immer wieder auf. Doch das ist ja nur die eine Seite vom Zwillingsein. Die andere, die ernsthafte, komplizierte Seite ist erst in den letzten vielleicht zwanzig Jahren häufiger thematisiert worden. Ein herausragendes Beispiel: Peter Pohls bewegender Jugendroman "Du fehlst mir, du fehlst mir", in Deutschland erschienen im Jahr 1994. Hier geht es um den Tod eines Zwillings. Expertin sozusagen für diese eher nachdenkliche Zwillingsliteratur ist die Kinder- und Jugendbuchautorin Sigrid Zeevaert. Denn zum einen ist sie selbst ein Zwilling und außerdem hat sie zwei eindrucksvolle Bücher über Zwillingspaare geschrieben.
Zeevaert: " Ich kann nur sagen, dass meine Beziehung zu meiner Zwillingsschwester mein ganzes Leben hindurch eine besondere Beziehung war. Besonders, weil es immer eine besondere Nähe gab, auch weil sich hier die ganze Bandbreite der Gefühle der beiden Personen – weil sich das besonders stark reiben musste und rieb. (…)Und die Themen, die wir miteinander auszufechten hatten, immer in Reibung und in Konkurrenz auszufechten hatten. "
Nähe und Reibung, Sigrid Zeevaert weiß, wovon sie spricht. Und wovon sie in ihren beiden Büchern "Max, mein Bruder" und "Wer ich bin" erzählt. Zwillingsbeziehungen sind besonders, aber wohl niemals nur lustig, witzig, positiv. Genauso oft können sie schwierig, ja sogar problematisch sein. Reibung und Konkurrenz, das sind Erfahrungen, die alle Zwillinge machen und die gerade auch in neueren Zwillingsbüchern häufig auftauchen. Genauso wie die Tatsache, dass Zwillinge ja längst nicht immer eineiig, also total ähnlich sind, sondern häufig eben zweieiig. Genetisch gesehen ganz normale Geschwister mit sehr verschiedenen Veranlagungen, unterschiedlichem Aussehen und oft auch mit verschiedenem Geschlecht. Geschwister, die aber zeitgleich aufwachsen. Und das hat durchaus seine Tücken.
Cal und Gus in Edward van de Vendels Kinderroman "Twice ist cooler als Eis" haben von der problematischen Seite des Zwillingseins allerdings noch nichts mitbekommen.
"Cal heißt eigentlich Calvin und ich heiße eigentlich Gustav, also kurz gesagt Gus. Und zusammen sind wir Twice. Wir mögen Fremdsprachen, twice bedeutet nämlich "zweimal" und Twice ist eine Band. Wir sind eine Band."
Cal und Gus sind begeisterte Rapper und Zwillinge, wie sie im Buche stehen. Eineiig, weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen und im Doppelpack mindestens doppelt stark. Schnoddrig, ja frech erzählt Gus ihre Geschichte, in der es um ihren Lieblingslehrer Monty geht, um die Ersatzlehrerin Frau Breedwisch, um eine Klassenrevolte und Levineke, das Nachbarmädchen.
Ein bisschen durchgeknallt sind sie schon, die beiden Zwillinge Cal und Gus, und außerdem zum Verwechseln ähnlich.
"Immer wenn es schön wird oder unheimlich oder spannend oder ganz mies, so wie jetzt, dann sagen und denken wir fast dasselbe. Solche Zwillinge sind wir. Eigentlich eher ein verdoppelter Einling, gleicher Kopf, gleiche Ideen, gleiches Puree. Ich wurde zwar eine Minute früher geboren als Cal, aber das heißt nichts, ich lag einfach nur näher am Ausgang."
Ganz mies ist die Situation im Augenblick, weil die beiden Kerle Hausarrest haben und auch am Wochenende nicht zum Konzert ihres Lieblingsrappers gehen dürfen. Sie haben nämlich eine kleine Revolution angezettelt gegen ihre Vertretungslehrerin Frau Breedwisch, die zwar keine Hexe ist, aber eben auch lange nicht so cool wie ihr kranker Klassenlehrer Monty. Frau Breedwisch hat einfach keinen Plan, duldet in Handarbeit keine Musik, sagt blöde Sachen über Fußball und hasst Rap. Und wo kein Rap, da kein Cap! Cal soll sein Baseball-Cap im Unterricht abnehmen. Er weigert sich, zieht schließlich die Hose runter und fliegt raus. Gus geht gleich mit! Und am nächsten Tag kommt aus Protest die ganze Klasse mit Cap. Von diesem Tag an hat Frau Breedwisch keine Chance mehr, sie wird gemobbt. Cal und Gus sind die stolzen Anführer dieser Revolte. Und das kann bei Zwillingspaaren öfters vorkommen, weiß Sigrid Zeevaert.
Zeevaert: " Es ist natürlich durchaus eine geballte Form von Kindsein gegenüber Erwachsenen und auch gegenüber anderen Kindern. Ich bin mit meiner Schwester in einer Klasse gewesen und da haben wir anders auftreten können als Kinder, die für sich alleine in diese Klasse gegangen sind. "
Es ist ein Machtkampf, der zwischen Cal und Gus und der armen Frau Breedwisch ausgetragen wird. Ein Machtkampf, in dem die unsensible Lehrerin von Vornherein keine Chance hat. Doch stark oder stärker sind die beiden Jungen nicht nur, weil sie zu zweit sind. Stark sind Zwillinge auch dadurch, dass sie bei aller Ähnlichkeit doch auch verschieden sind. Dass sie, um sich voneinander abzugrenzen, ihre Veranlagungen verschieden ausbauen. Sich sozusagen spezialisieren und sich damit, je älter sie werden, unterschiedlich entwickeln. Auf Dauer also nicht doppelt sind, sondern zwei.
"Ich bin der Pläneausdenker, er ist der Mund, der alles sagt….. Wir sind anders. … Ich bin anders als Cal und Cal ist anders, als ich es bin. Vielleicht sieht man es von außen nicht so, und doch stimmt es. Levineke sagte, sie sähe etwas an unseren Mündern, aber das war Bluff. Unsere Münder sind es nicht. Als Zwillinge weiß man genau, wie gleich man ist, aber auch, wie ungleich."
Ähnlichkeit und Verschiedenheit, Nähe und Abstand, diese wesentlichen Zwillingserfahrungen spielen in Edward van de Vendels Kinderroman ""Twice ist cooler als Eis" noch keine substantielle Rolle. Theoretisch könnten Gus und Cal normale Geschwister sein oder sehr gute Freunde. All die schwierigen Erfahrungen wie Identitätssuche und Ablösung kommen meist erst in der Pubertät und liegen damit noch vor ihnen. Darum kann dieser Roman auch so unbeschwert daherkommen. Mit leichter Hand geschrieben erzählt er von der nur positiven Zwillingserfahrung: Von geteiltem Leid, doppelter Freude und gemeinsamen Erfolgen. Von innerer Nähe, die nicht stört, sondern stärkt, von Verschiedenheit, die nicht wehtut sondern gut. Kein Wunder, dass es schließlich zum Happy-End kommt, zum Einlenken auf beiden Seiten und zur total komischen Versöhnung hoch oben in der Luft. Und klar, dass die Musik dabei eine wichtige Rolle spielt
Finn und sein Zwillingsbruder Danny in Tom Kellys Kinderroman "Die Sache mit Finn" sind erst zehn. Sie gleichen sich nicht nur wie das sprichwörtliche Ei dem anderen – selbst ihre Eltern haben Probleme, sie zu unterscheiden – sondern sind sich auch innerlich ganz nah. Aber obwohl die beiden noch so jung sind, und obwohl die angesprochenen Leser auch nicht älter sind als sie, haben wir es hier mit einer sehr ernsten Geschichte zu tun.
"Meine Familie, das sind Mum und Dad und mein eineiiger Zwillingsbruder und meine kleine Schwester Angela, die gehörlos ist, und Donut, der dämliche Hund. Wir wohnen zusammen in einem Haus in der Holt Street. Mein Bruder ist ertrunken. Das ist in einem Fluss passiert, ein paar Kilometer weg von unserm Haus, und zwar so …"
Man könnte meinen, mit diesen Sätzen beginne der Roman. Doch der zehnjährige Danny schafft es erst ganz am Ende des Buches, seine Geschichte so zu erzählen. Warum er eine Fensterscheibe eingeworfen hat, warum er von zu Hause weggelaufen ist und was mit seinem Zwillingsbruder Finn passiert ist - er kann es vorher nicht aussprechen. Denn der hochsensible Danny ist – und das bekommt man als Leser hautnah mit – durch Finns Tod komplett aus der Bahn geworfen. Erst ganz langsam und vorsichtig entwickelt sich aus Andeutungen und Erinnerungssplittern so etwas wie ein Bild von einer sehr liebevollen Familie und einer ganz engen Bindung zwischen den beiden Zwillingsbrüdern. Mit Finn hat er einen Teil von sich selbst verloren, fühlt sich, als werde er entzwei gerissen.
"Ich weiß ja, dass ich mir eigentlich bloß normale Kindersorgen machen dürfte, weil ich schließlich ein Kind bin. Aber je weiter ich komme, desto mehr habe ich das Gefühl, dass ich ganz lang auseinander gezogen werde. Jetzt weiß ich nicht mal mehr, wer ich bin."
Als besonders problematisch erweisen sich große Nähe und Ähnlichkeit, wenn ein Zwilling ums Leben kommt. Dann verliert der andere plötzlich und unvorbereitet sein Alter-Ego, sein Spiegelbild, seine andere Hälfte. Das Traumatische an Dannys Situation ist ja, dass er eben keine Zeit hatte, sich langsam und vielleicht unter vielen Streitereien in der Pubertät aus der engen Bindung an Finn zu lösen. Er wird von heute auf morgen ins bitterkalte Wasser geworfen. Und weiß, dass er seine Eltern allein durch sein Aussehen schon immer an den toten Bruder erinnern wird. Deswegen läuft er weg.
Zeevaert: " Interessanterweise ist das das Thema in meinem ersten Kinderbuch gewesen. Da hab ich von einer Zwillingsschwester erzählt, die ihren Bruder verliert. Das ist sicherlich so, dass es ne Erschütterung ist, die unvergleichlich ist. Weil es ein Teil des Eigenen ist, ein Teil des Weltbildes… Wenn man sich vorstellt, diesen anderen Menschen, den hat es immer gegeben, von der ersten Sekunde an, seit es einen selber gegeben hat, er war in der Nähe, dann ist er auch etwas Besonderes. Und wenn man diesen Menschen verlieren muss, dann reißt das im Inneren, in der Seele etwas ein, was wahrscheinlich unersetzlich sein wird. "
In ihrem ersten Kinderbuch "Max, mein Bruder" hat Sigrid Zeevaert über den Verlust eines Zwillingsbruders geschrieben. Eine Geschichte, die, ebenfalls für Kinder ab zehn, in ihrer Eindringlichkeit ähnlich berührt wie Tom Kellys "Die Sache mit Finn". Was Tom Kellys Text so anrührend macht ist der Ton, in dem Danny seine Geschichte erzählt. In eindringlichen Bildern, schnoddrig und dann wieder wehmütig, altklug und lakonisch zugleich, albern bis zum Anschlag und tod-traurig redet er ununterbrochen vor sich hin, als wolle er redend weglaufen vor dem Schmerz der Erinnerung. Der Erinnerung an das Vorher, und der Erinnerung an Finns Unfall selbst. Denn Danny fühlt sich mitschuldig am Tod des Bruders. Sechs Wochen lang hat er nach dem Unfall geschwiegen, und niemand wusste, wer er ist, Finn oder Danny. Und dann läuft er weg.
"Jetzt muss ich wieder nach Hause. Ich muss aufhören, so zu tun als ob, und wieder ich selbst sein. Ich weiß, ich habe meiner Familie sehr wehgetan, aber ich kann mir auch jetzt noch keinen anderen Weg vorstellen, wie ich mit dem, was passiert ist, fertigwerden konnte… Ich musste weggehen; als ich nämlich nach den bescheuerten sechs Wochen endlich wieder anfing zu sprechen, haben sie gemerkt, dass ich ich bin und nicht mein Bruder."
Und auch der Leser erfährt erst jetzt, was er vorher nur vermuten konnte: dass er es gar nicht mit Danny zu tun hat, sondern mit Finn. Dass Finn lebt und Danny tot ist. Dass Finn Danny gespielt hat, für sich und die Familie, um Danny weiter leben zu lassen. Und um sich selbst zu bestrafen. Nur ein so phantasievoller Querdenker wie Finn konnte auf diese Verwechslungsgeschichte kommen, manches Rätsel löst sich erst jetzt auf. Am Schluss kann Finn dann endlich wieder Finn sein, und Danny lebt weiter in seinen Gedanken, Erinnerungen und Erzählungen. In diesem Buch.
Mit Zwillingen kennt die Kinder- und Jugendbuchautorin Sigrid Zeevaert sich aus, denn sie ist selbst mit einer Zwillingsschwester aufgewachsen. Schrieb sie in ihrem ersten Kinderbuch "Max, mein Bruder" aus dem Jahr 1986 darüber, wie Johanna mit dem Verlust ihres Zwillingsbruders Max fertig werden muss, so erzählt sie in ihrem gerade erschienenen Jugendroman "Wer ich bin" von den Zwillingsschwestern Teresa und Sus. Sie sind 14 und stecken mitten in der Pubertät.
"Wir sind Zwillinge, zweieiige, und wir sind zusammen, seit es uns gibt. Zum Glück sehen wir uns nicht ähnlich und man verwechselt uns nicht. Teresa hatte immer schon dunklere Haare als ich. Meine sind blond. Nicht hellblond. Eher mittel. Ich bin auch ein bisschen größer als Teresa und sportlicher. Teresa ist hübsch. Dafür bin ich neun Minuten älter als sie."
Sus und Teresa dürfen von Anfang an die Erfahrung machen, dass sie sich sehr nah sind, und doch auch verschieden. Und diese Erfahrung hilft ihnen, als sie sich vor den Sommerferien beide gleichzeitig in den hübschen Finn verlieben. Es kommt zu Verletzungen, zum Streit, zu ganz neuen, unbekannten Gefühlen wie Eifersucht und Neid. Ihre Zuneigung wird auf eine harte Probe gestellt.
Eigentlich wollten Sus und Teresa in den Sommerferien zu ihrer Tante nach Griechenland fliegen. Doch die Reise wird im letzten Augenblick abgesagt. So stehen sie vor einem Scherbenhaufen: Wütend aufeinander wegen Finn, der Teresa bevorzugt und enttäuscht darüber, dass die herrliche Griechenlandreise ins Wasser gefallen ist. Ohne Pläne für die nächsten sechs Wochen und mit zerstrittenen Eltern, die getrennt Urlaub machen wollen. Ohne Kinder.
Doch aus dieser total verfahrenen Situation wächst plötzlich auch eine Chance. Sus und Teresa trennen sich zum ersten Mal für eine längere Zeit. Sus fährt doch mit ihrem Vater nach Italien und Teresa bleibt zu Hause bei ihrer Mutter. Und so können sich zwischen allen Familienmitglieder ganz leise neue Beziehungen entwickeln.
Zeevaert: " Was für mich klar geworden ist …. es gibt schon sehr unterschiedliche Formen von Nähe. So sehr unterschiedliche Dimensionen von Nähe. Es gibt eine scheinbare Nähe, die verhindert, dass andere Dinge hervorkommen und lebendig werden können. Und erst wenn man das, diese ganz enge, aufeinander bezogene Nähe, lösen kann, wenn man das schaffen kann, sich voneinander zu trennen und den Blick anderswohin zu wenden, dann überhaupt ganz andere Dinge hervorkommen können…. Und dass das auch zu einem Entwicklungsprozess dazugehört. "
"Gleich neben meinem Zelt sitzen Papa und Ad und reden. Ich höre nicht hin. Weil ich gern für mich allein bin, auch wenn ich mir selbst manchmal fremd bin, weil ich mir vorkomme, als würde ich neuerdings eine andere sein. Eine, die noch niemand kennt. Nicht einmal ich…. "
… denkt Sus. In Italien kommt sie sich selbst ein Stück näher und auch dem Vater. So wie Teresa zu Hause der Mutter näher kommt und Finn. Die Zwillinge lösen sich langsam und schmerzhaft aus ihrer engen, aufeinanderbezogenen Nähe, um neue, andere Bindungen einzugehen. Um, jede für sich, spannende oder sogar gefährliche Dinge zu erleben. Ein Entwicklungsprozess findet statt, der auch die Eltern einbezieht und auch für sie ein positives Ende denkbar werden lässt. Denn erst durch die neue Nähe von Vater und Sus, Mutter und Teresa kommt auch endlich der tödliche Unfall des älteren Buders zur Sprache, der die Beziehung der Eltern so sehr belastet. Für alle vier wird es möglich, miteinander zu reden. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne….Das empfindet auch Teresa.
"Irgendwie ist etwas anders geworden mit uns. Ich weiß auch nicht, und bin mir nicht mal sicher, ob es wirklich so ist. Aber es kommt mir vor, als wäre mit uns seitdem etwas gut. Ich meine noch besser, als es je war. Ich denke ja auch anders an sie. Und ich merke, wie sehr sie mir fehlt."
Sigrid Zeevaert erzählt ihren Jugendroman abwechselnd aus der Perspektive von Sus und Teresa. Das macht die Geschichte der beiden Mädchen besonders lebendig. Werden Ihre Zuneigung und ihre Auseinandersetzungen, ihre gemeinsamen Erlebnisse und Erinnerungen doch aus zwei Blickwinkeln geschildert und dadurch vielschichtiger. Außerdem ist "Wer ich bin" in der Ich-Form geschrieben, wie übrigens alle hier vorgestellten Zwillingsbücher.
Zeevaert : " Ich ist sicherlich in der Zwillingskonstellation im Grunde der Versuch, mich zu unterscheiden von dem anderen. Ich bin ich. Und nur ich…. Dieses Ich ist sicherlich der Versuch, mich als Schreiber nah in diese Figur zu bringen, aber auch den Leser nah ranzuholen. Eben eine nahe Beziehung einzugehen. Und gleichzeitig diese einmalige, ganz besondere Person zu erzählen. "
Um diese Einmaligkeit der Person geht es Sigrid Zeevaert in "Wer ich bin". Um Ich-Suche und Ich-Findung. Am Zwillingsmotiv lässt sich dieser Prozess in ihren Augen besonders gut entwickeln, denn hier ist er besonders schwierig. Dass auch die drei anderen vorgestellten Bücher ihre Geschichte in der Ich-Form erzählen zeigt, wie sich die Perspektive der Kinder- und Jugendliteratur in den letzten Jahrzehnten verschoben hat: Von außen nach innen, was im Fall des Zwillingsmotivs heißt: von der Betonung des Gemeinsamen – wie bei Erich Kästner oder Enid Blyton – hin zur Betonung des Verschiedenen. Die Ich-Erzählform ist in diesen Zwillingsbüchern Ausdruck und Mittel zugleich der ganz eigenen Identität.
Auch Katrin Stehles Roman "Die Stille danach" erzählt von solch einer bewussten Abgrenzung zwischen Zwillingen. Sophia ist fünfzehn, und sie ist todtraurig. Warum, wird im Vorspann berichtet:
"Das Krachen. Er hätte nicht gedacht, dass es so laut sein würde. Dunkelheit. Dröhnen in seinen Ohren. Er fliegt. Fliegt durch die Luft. Riesige schwarze Bäume, die den dunkelgrauen Himmel verdecken. Dunkelgrün-braun-graue Waldwelt rast an ihm vorbei und verschwindet in einem schwarzen Loch. Stille."
Uli ist mit seinem Motorrad gegen eine Wand gefahren. War es ein Unfall oder Selbstmord? Sophia quält sich mit dieser Frage und will es herausfinden. Und sie will auch herausfinden, wie es dazu kam, dass sie und ihr Zwillingsbruder sich in den letzten Jahren immer fremder wurden. Als Kinder waren sie einfach unzertrennlich, SophiaunUli – in einem Wort. Bis Uli begann, abzublocken. Sich die Haare färbte, sich piercen ließ, in einer merkwürdigen Band mit schrägen Leuten aggressive Musik machte und sich mit der ganzen Familie zerstritt.
Zeevaert : " Es ist vor allem das Innere, was das Besondere ausmacht. Dieses Sich-aufeinander-Beziehen-Können, sich verlassen können, sich sehr genau zu kennen. Und dieses sich sehr genau Kennen bedeutet aber auch zwischen beiden Zwillingen eine sehr, sehr verletzliche, verletzbare Situation. "
"Irgendwann in einem anderen Leben haben wir uns einmal geschworen, dass wir immer zusammenhalten werden. Er hat es nicht gewollt, hat mich aus seinem Zimmer geworfen und blöde Witze über mich gerissen, über mein Haar, meine Kleidung. ..Da habe ich auch nicht mehr gewollt… In den letzen Jahren haben wir uns in Frieden gelassen. Und uns verloren. Oder schon längst vorher."
Sophia ist durch Ulis Tod tief verletzt. Wie nah die beiden sich einmal waren, weiß niemand. Denn man sah es ihnen ja nicht an. Aber irgendwann kam es zur Entfremdung. Er brach aus, verweigerte sich dem dumpfen Familienleben in der biederen Bauernfamilie mit den sechs Kindern. Während Sophia sich um die kleine Schwester und den Haushalt kümmerte, driftete er in seinen obskuren Freundeskreis ab. Doch indem Sophia versucht zu verstehen, was Uli umtrieb, bekommt sie auch einen immer schärferen Blick für ihre Familie und ihr eigenes Leben. Und sie begreift, dass sie sich - fleißig, vernünftig und verantwortungsbewusst - nur angepasst hat an den psychischen Druck, der in ihrer Familie herrscht. An die allgemeine Gefühllosigkeit, an die Weigerung, Probleme zu sehen, an die Unfähigkeit, miteinander zu reden. Und an die Gleichgültigkeit gegenüber dem Unrecht direkt nebenan, wo Marks Vater immer wieder die Mutter verprügelt. Uli war der einzige, der den Mut hatte, sich einzumischen. Sein Tod war ein Protestschrei gegen die schein-heile Welt der Eltern, vor allem gegen deren Sprachlosigkeit. Und damit auch ein Protestschrei gegen Sophia.
"Uli ist weg. Und ich habe ihn nicht gekannt. Er hat seine Mails gelöscht, hat versucht, keine Spuren zu hinterlassen. ..
Ich hätte mit Uli gehen sollen damals. Hätte ihm helfen sollen bei der Geschichte mit Mark. Vielleicht wäre dann jetzt alles anders. Ich habe es satt, ich selbst zu sein. Ich bin so ein Feigling!
Auf einmal ist mir ganz klar, was ich jetzt tun muss."
Sophia hat Uli erst nach seinem Tod wieder kennen gelernt. Für sie wird die Trauer zur Chance. Sie begreift, was ihn bewegte, wogegen er sich vergebens wehrte und verändert sich dadurch. So wie alle Zwillinge in den vorgestellten Büchern mit und an ihren Geschwistern wachsen. Sich selbst näher kommen. Cal und Gus empfinden sich als Einheit und werden gemeinsam ein wenig reifer. Finn kann nach einer tragikomischen Verwechslungsgeschichte irgendwann wieder Finn sein und begreift, dass er den Bruder nie ganz verlieren wird. Sus und Teresa lösen sich voneinander und können sich neu begegnen. Und für Sophia schließlich beginnt nach Ulis Tod ein anderes Leben. Sie beginnt endlich zu reden, ihre Gefühle zu zeigen und zu weinen. Sie gewinnt neue Freunde und holt sich ihren Zwillingsbruder ein Stück zurück, indem sie wieder Musik macht. So wie er.
"Ein Lied entsteht in meinem Kopf. Ein Lied für Uli. Und es ist anders als die Musik, die ich bisher immer im Kopf hatte, kompliziert und trotzdem einfach. Ich muss es aufschreiben. Aber das hat Zeit."