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Das andere Serbien

Angesichts drängender Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption steht die Bewältigung der Vergangenheit in Serbien nicht oben auf der Tagesordnung. Der Radio- und Fernsehsender B 92 und das autonome Zentrum für Kulturelle Dekontamination widmen sich dennoch diesem Thema und profitieren davon, dass sich der Staat nicht um Geschichtsaufarbeitung kümmert.

Von Ursula Rütten | 02.04.2009
    "Serbien ist die Welt! Die Welt gegen die NATO!", "Kosovo, das Herz Serbiens!" Slogans und Phrasen zum zehnten Jahrestag des Beginns der NATO-Bombardierung von Belgrad und weiten Teilen Serbiens. Die Veranstalter dieser einzigen Kundgebung zum NATO-Überfall in Belgrad in diesen Tagen, offensichtlich aus dem Gesinnungslager von Milosevic und rechtsnationaler Erbfolger, müssten beschämt gewesen sein wegen der geringen Teilnehmerzahl: vielleicht tausend, wenig emphatisch, bis auf ein Rudel männlicher jugendlicher Schreihälse. Hier, auf dem zentralen Platz der Republik, vor dem längst geschlossenen, vor sich hin modernden Nationalmuseum. Für dessen Erhaltung und Bewahrung des historischen Erbes Serbiens dieser Staat seit sechs Jahren offenbar keine Notwendigkeit sieht.

    Serbien hat tatsächlich andere Probleme. Namentlich das Gros der Menschen, denen sich Armut, Stillstand und Perspektivlosigkeit in Gesicht und Körperhaltung geprägt haben. Und die damit die Adressaten jener Institutionen sind, die sich von Beginn der Phase des blutigen Zerfalls Jugoslawiens als ihr Anwalt angeboten haben. Neben etlichen NGOs sind das vor allem der staatlich unabhängige Radio- und Fernsehsender B 92 und das autonome Zentrum für Kulturelle Dekontamination, CZKD, das auch im 15. Jahr seines Bestehens hält, was sein Name verspricht:

    "Die Gesellschaft ist korrupt. Der Staat ist korrupt. Und die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft ist korrupt. ... Das größte Problem ist Kosovo. Man muss sich hier nur vergegenwärtigen, wie sehr die Menschen darauf fixiert sind, für Kosovo zu kämpfen. Das Schlimmste ist dieses unvorstellbar beschämende Gefühl von Pornografie des Patriotismus."

    Die Dramaturgin Borka Pavicevic ist Gründerin und geistige Inspiratorin dieses Kulturzentrums. Es ist zugleich eine Stätte künstlerisch vermittelter Gegenaufklärung, vor allem mit Kunstausstellungen und eigenen Theaterstücken, als auch ein internationales Diskussionsforum. Veran Matic ist Gründer, Chefredakteur und spiritus movens von B 92. Serbiens nach wie vor professionellster Informationssender, mit einem weit darüber hinaus reichenden, selbst erteilten gesellschaftlichen Auftrag:

    "Auch in diesen demokratischen Zeiten, seit dem Sturz von Milosevic am 5. Oktober 2000, haben wir begriffen, dass wir aktiv bleiben müssen in Problemzonen wie in der Antikriegsbewegung. Auf Gebieten, um die sich weder die Regierung noch staatliche Institutionen kümmern. Zum Beispiel Gewalt in der Familie."

    Weil dies ein Tabuthema ist in der serbischen Gesellschaft, mitsamt den Traumata der Kriegsheimkehrer. Ebenso wie Krebserkrankungen oder die statistisch erfasste Zahl von mindestens einer halben Million Menschen am Existenzminimum. Ebenso wie die Kriegsverbrechen zum Beispiel von Vukovar und Srebrenica oder auch das Nazi-KZ auf dem alten Belgrader Messegelände und die Tatsache, dass Belgrad die erste "judenfreie" Stadt in Europa im Zweiten Weltkrieg geworden war.

    Das Tabu als Synonym für die jugoslawische Vergangenheit von 1945 bis heute: Das zu brechen und mit humanitären wie künstlerisch und medial aufklärenden Mitteln die Folgen dieses Versäumnisses auffangen zu helfen, sind die ehrgeizigsten Aufgaben von B 92 und dem CZKD.

    Der Sender zum Beispiel initiierte mittels Spots und Spendenaufrufen und natürlich Themenschwerpunkten in Radio und Fernsehen die ersten Frauenhäuser und Volksküchen landesweit oder einen ersten Bus für mobile digitale Mammografie, der Mitte April aus Deutschland erwartet wird. Auf dem alten Messegelände setzt sich das Team von Veran Matic für ein "Museum der Toleranz", wider das Vergessen, ein. Nach vielen Theateraufführungen, Ausstellungen und Symposien unter dem Motto: "Kartografie unserer Erinnerungen" steht aktuell im Zentrum für Kulturelle Dekontamination das auf rund drei Jahre angelegte Projekt "Jugoslawische Studien an".

    "Es wird eine Art Schule über das gesamte System der vielen Moleküle, aus denen sich Jugoslawien zusammengesetzt hat. Nicht nostalgisch, auch nicht: Wie wurde es zerstört, sondern: Was war dieses Land? Was hätte es sein können? Das werden wir phänomenologisch und erkenntnistheroetisch hinterfragen, wie dies an keiner unserer Schule oder Universitäten gelehrt wird. Mit künstlerischen Mitteln und vielen gleichgesinnten Freunden, auch aus Ljubljana und Zagreb."

    Zum Glück, kann der Kommentar dazu nur lauten, überlässt der Staat die Aufarbeitung der jugoslawischen Geschichte solchen unabhängigen Institutionen. Die ersten Ergebnisse dieses Prozesses erweisen sich kulturell und ideologisch jedenfalls als erfreulich dekontaminiert.