Dienstag, 23. April 2024

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Das "Arod"-Quartett spielt Schubert
Erfrischend radikal

Wie früh sich Franz Schubert schon mit Tod und Vergänglichkeit befasste, zeigen seine frühen Streichquartette. Das junge französische Ensemble "Arod" schlägt auf seiner neuen CD einen spannenden Bogen von diesem Frühwerk zum Spätwerk, dem 14. Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" - so heißt auch die neue CD der preisgekrönten Musiker. Unser Kritiker findet die Einspielung super!

Am Mikrofon: Florian Amort | 31.01.2021
    Vier junge Männer stehen mit Streichinstrument auf eine Kuppe vor einen Waldpanorama.
    Seit 2013 musizieren die französischen Musiker des Quatuor Arod miteinander. (Parlophone Records Ltd./ Nikolaj Lund)
    Vor 244 Jahren, am 31. Januar 1797, erblickte Franz Schubert im Himmelpfortgrund bei Wien das Licht der Welt. Passenderweise legt das französische Streichquartett "Arod" beim Label Erato jetzt ein Schubert-Album vor. Im Mittelpunkt der Aufnahme steht sein populäres Streichquartett Nr. 14 in d-Moll, dessen Beiname auch dem neuen Album seinen Titel gibt: "Der Tod und das Mädchen". Die 2016 mit einem ersten Preis beim ARD-Musikwettbewerb ausgezeichneten vier jungen Musiker aus Frankreich erkunden allerdings in ihrem Album nicht nur Schuberts Spätwerk, sondern gleich mehrere stilistische Phasen seines Lebens: über das schon am Beginn des zweiten Satzes abgebrochene Streichquartett Nr. 12 in c-Moll, zurück zum selten gespielten Streichquartett Nr. 4 in C-Dur, dass Schubert mit nur 17 Jahren komponierte.
    Musik: Schubert - Streichquartett Nr.4, C-Dur
    Tänzerisch, mitreißend und draufgängerisch mit kantigen Akzenten: Das Finale aus Schuberts Streichquartett Nr. 4 in C-Dur, mit bester Laune gespielt vom Arod-Quartett. So ausgelassen fröhlich geht es sonst auf dem neuen Album gewiss nicht zu. Denn die andern Sätze atmen allesamt einen denkbar traurigen, melancholischen, stellenweise auch aggressiven Charakter.

    Düster und rastlos

    Insgesamt elf der 15 erhaltenen Streichquartette komponierte der junge Schubert für das Familienquartett, in dem er selbst Bratsche spielte. Solche Quartettformate gab es im Wiener Bürgertum um 1800 zuhauf, was auch eine entsprechende Produktion von spieltechnisch nicht allzu schweren Werken nach sich zog. Und dennoch dürfte Schubert dank der häuslichen Musizierpraxis und entsprechenden Arrangements schon frühzeitig mit den keineswegs leichten Instrumentalwerken Haydns, Mozarts und Beethovens in Berührung gekommen sein. So erinnert der experimentelle Beginn seines vierten Streichquartetts mit dem chromatisch absteigenden Quartgang nicht nur an die musikalisch-rhetorische Figurenlehre der Barockzeit, sondern auch an Mozarts Dissonanzenquartett.
    Musik: Schubert - Streichquartett Nr.4, C-Dur
    Ob dieser lichtlose Beginn im Zusammenhang mit dem Tod von Schuberts Mutter im Mai 1812 und der "Todes-Thematik der frühesten Lieder" steht, wie Peter Gülke es in seiner Schubert-Biographie vermutet? Das Arod-Quartett kombiniert jedenfalls klug die dissonanten Harmonien und die sich sequenzartig unerbittlich an die Ränder des instrumentenspezifischen Tonumfangs schraubenden Motive mit dem ersten Satz des nicht zu Ende komponierten zwölften Streichquartetts.
    Musik: Schubert - Streichquartett Nr.12, c-Moll
    Düster und rastlos nehmen die Musiker des Arod-Quartetts die in sich kreisende Chromatik im ersten Satz von Schuberts Streichquartett Nr. 12 in c-Moll. Scharf reißen sie die tremolierenden Klänge und die aggressiv aufbrausenden Sechzehntel-Läufe ab. Das lyrische Thema in As-Dur hingegen inszenieren sie als intimen Sehnsuchtsort, das sich in der Oktavwiederholung zu einer Hoffnungsvision schwebend aufschwingt. Doch es bleibt eine Utopie: Die Wiederkehr des Themas gestaltet das Arod-Quartett im äußersten pianissimo und so hauchig, als wäre es die verschwommene Erinnerung an ungetrübte Zeiten.
    Musik: Schubert - Streichquartett Nr.12, c-Moll
    Es ist unbekannt, warum Schubert sein zwölftes Streichquartett im Dezember 1820 zu komponieren begann – und warum er es nach dem 41. Takt des zweiten Satzes nicht weiterführte. Jedoch fällt das Fragment gebliebene Streichquartett zusammen mit drei ebenfalls abgebrochenen Sinfonieprojekten inmitten jenes Lebensabschnitts, den die Schubert-Forschung als "Jahre der Krise" bezeichnet.

    Aufgekratzt und stählern unbarmherzig

    Johannes Brahms erwarb das Manuskript mit dem singulären Kopfsatz, organisierte 1864 die Uraufführung und legte so den Grundstein für eine früh einsetzende Rezeption des Quartettsatzes. Für den Musikwissenschaftler Alfred Einstein führt dennoch keine Brücke aus Schuberts Oeuvre zu dem Werk. Für die vier jungen Franzosen des Arod-Quartetts hingegen sehr wohl, wie sie in ihrem neuen Album geistreich zeigen: und zwar nicht nur vom vierten Streichquartett aus, sondern sogar auch hin zu seinem vier Jahre später entstandenen Streichquartett Nr. 14 in d-Moll, bekannt unter seinem Beinamen "Der Tod und das Mädchen".
    Musik: Schubert - Streichquartett Nr. 14, d-Moll, "Der Tod und das Mädchen"
    Aufgekratzt, stählern unbarmherzig, flexibel im Tempo und manchmal geradezu überstürzt hysterisch spielt das Arod-Quartett die eruptiven Gesten des ersten Satzes aus Schuberts 14. Streichquartett. Mit dem Pendelbass und der unverblümten Terzenseligkeit des Seitenthemas setzt es kontrastierende Akzente.
    Es ist unmittelbar zu hören, dass Schubert das Werk nicht mehr für die zahllosen Hausquartette des Wiener Bürgertums schrieb, sondern angesichts der hohen spieltechnischen Anforderungen mit einem Profiensemble rechnete. So dürfte auch die Rückkehr des damals berühmten Geigers Ignaz Schuppanzigh nach Wien und die Wiederaufnahme seiner öffentlichen Quartett-Konzerte 1823 Anlass für Schuberts Komposition gewesen sein. Doch Schubert verstörte mit seinem Werk selbst Berufsmusiker. Gleich in den ersten 40 Takten moduliert der Kopfsatz in nicht weniger als zehn verschiedene Tonarten! Laut dem Komponisten Franz Lachner habe Schuppanzigh nach dem ersten Durchspielen zu Schubert ablehnend gesagt: "Brüderl, das ist nichts, das lass gut sein; bleib du bei deinen Liedern!" Und in Anbetracht der schroffen und aufwühlenden, jedoch stets kontrollierten Klänge des Arod-Quartetts kann man die Radikalität der Komposition auch heute noch kaum in Frage stellen.
    Musik: Schubert - Streichquartett Nr. 14, d-Moll, "Der Tod und das Mädchen"
    Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehört Schuberts 14. Streichquartett zu den Standardwerken im Kammermusik-Repertoire. Der Beiname "Der Tod und das Mädchen" verweist auf den zweiten Satz. Den hat Schubert als Variationen über ein Thema aus seinem 1817 entstandenen gleichnamigen Lied konzipiert. Schlicht, inniglich und hochgradig existenziell spielt das Arod-Quartett den homophonen und in regelmäßigen Achttaktperioden gebauten Satz, dem fünf ausgesprochen originell musizierte Variationen folgen. Man braucht für diese Interpretation gar nicht den Liedtext bemühen, um den Satz zu verstehen. Wie schrieb Theodor W. Adorno wortgewaltig in seinem Schubert-Essay von 1928:
    "Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen: so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum […]. Wir können sie nicht lesen; aber dem scheidenden, überfluteten Auge hält sie vor die Chiffren der endlichen Versöhnung."
    Musik: Schubert - Streichquartett Nr. 14, d-Moll, "Der Tod und das Mädchen"
    Das Thema des zweiten Satzes von Schuberts Streichquartett Nr. 14 in d-Moll, aller Zeitlichkeit enthoben und spannungsgeladen musiziert durch das Arod-Quartett.

    Präzis abgestimmte Artikulation

    Mit rund 40 Minuten Spielzeit gehört das Werk zu den längsten Streichquartetten, die bis um 1820 geschrieben wurden. Es zeugt von Schuberts Absicht, sich dadurch "den Weg zur Sinfonie zu bahnen." Es ist eine Qualität der Einspielung, dass die vier Franzosen es verstehen, über diese lange Dauer und trotz vorherrschenden Moll-Tonarten sowie chromatischen Themenmaterials nicht in einen Ton ununterbrochener Larmoyanz verfallen. Dank einer präzis abgestimmten Artikulation erzählen sie detailreich, was zeigt, auf welch hohem technischem wie emotionalem Niveau hier musiziert wird. Farbenpracht und zarte Opulenz kennen sie genauso wie Klanghärte und einen kompromisslosen Pessimismus. Das Totentanz-Finale aus Schuberts 14. Streichquartett wird hier zur entfesselten, makabren Jagd.
    Musik: Schubert - Streichquartett Nr. 14, d-Moll, "Der Tod und das Mädchen"
    Sicherlich: Das Album "Der Tod und das Mädchen" mit dem Arod-Quartett, erschienen beim Label Erato, ist nichts für schwache Nerven, oftmals eindringlich quälend und selten heiter. Wer sich dem trotzdem aussetzt, wird belohnt– mit einem energiegeladenen und erfrischend radikalen Zugang zu Schuberts Streichquartetten Nr. 4, 12 und 14.
    Franz Schubert: "Der Tod und das Mädchen", Streichquartette 4 & 12
    Quatuor Arod
    Erato (Warner)
    EAN:0190295172473