"Er kandidiert hier im Duisburger Süden. Sie haben noch Zeit, alle Leute zu überzeugen - wie würden Sie mich jetzt wohl überzeugen?" - "Ich hab’ Sie doch schon überzeugt." - "Ja das hat eigentlich der Oskar gemacht, nicht Sie hier. Sie können aber dazu noch etwas drauflegen. Was, wie würden Sie mich denn überzeugen? Also ich will mich mal ganz kurz fassen. Ich bin vor zwei Jahren arbeitslos geworden, jetzt hab ich dann bei der Stadt Duisburg..."
Duisburg, Stadtteil Rheinhausen, Samstagvormittag, an einem Stand der Linkspartei. Neben dem einzigen Blickfang in der Fußgängerzone, einer klobigen Brunnenskulptur aus Metall, steht ein orangefarbener Sonnenschirm der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit", kurz WASG, auf einem kleinen Tisch liegt Info-Material und ein paar Plakate sind aufgestellt. Zwei davon für Helmut Laakmann, WASG-Direktkandidat für Duisburg Süd.
Mit drei Parteifreunden möchte er einen Werbebrief über seine politischen Ambitionen an die Passanten verteilen. Nicht alle sind so gesprächig wie der 47-jährige arbeitslose Bankkaufmann, den Oskar Lafontaine schon überzeugt hat. Die meisten gehen einfach abwehrend weiter. Laakmann trägt dunkelblaue Jeans und einen schwarzen Pullover mit offenem weißen Hemdkragen, keinen obligatorischen Anzug. Die Vorbeigehenden begreifen ihn wohl trotzdem als eine dieser etablierten so genannten "Politnasen" mit Wohlstandsbauch. Was Laakmann aber nicht ist. Der Sohn aus einer Arbeiterfamilie macht, wie er ironisch bemerkt, beruflich Tag für Tag dasselbe wie Millionen andere Bundesbürger:
"Ich mache im Augenblick, äh, arbeite bei der Arbeitsagentur und versuche dort einen Job zu bekommen. Und das ist aber ganz schwierig, wenn man 57 Jahre alt ist. Weil, dann haben die meisten einen Lachkrampf, wenn man sich irgendwo vorstellt. Die einen ablehnen, die sind selber über 50. Die sagen, wir wollen nicht mehr so alte Säcke. Aber ich geb’ das nicht auf."
Dass Laakmann Direktkandidat der Linkspartei ist, verdankt er einer spontanen Rede, 1987, als Krupp das Stahlwerk in Rheinhausen dicht machen wollte. Da rief er als damaliger Betriebsleiter die 6.000 Mitarbeiter zornig zum erbitterten Widerstand auf. In den folgenden 160 Tagen gingen bis zu 100.000 Demonstranten auf die Straße. Der längste Arbeitskampf in der Bundesrepublik ging für die Kruppianer jedoch verloren, Laakmann aber blieb der "Held von Rheinhausen".
Der geeignete Mann für die WASG Duisburg. Vor drei Monaten bot sie ihm die Kandidatur an. Wofür er - wie so viele andere vor ihm - aus der, wie er sagt, längst enttäuschenden SPD austrat.
Dennoch hat der Wechsel zur WASG Laakmann auch Sympathien gekostet. So mancher Traditionalist gerade in der SPD-Hochburg Rheinhausen beschimpft ihn jetzt verächtlich als "Verräter", auch an diesem Samstag. Andere rufen ihm rasch im Vorbeigehen zu, er und Oskar Lafontaine seien "Großmäuler". "Der soll sich schämen!"
Laakmann schüttelt darüber den Kopf. Die SPD, in der er hier war, habe doch allenfalls über die Wassertemperatur im kommunalen Schwimmbad diskutiert, sagt er. Jetzt wolle er dazu beitragen, die politische Landkarte zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Bayern neu zu gestalten.
Es sind vor allem ein paar Vorruheständler und Rentner, die sich dafür interessieren und mal stehen bleiben, um die Gelegenheit zu nutzen, sich über angestauten Ärger Luft zu machen. Zum Beispiel ein 71-jähriger Ingenieur:
"Das sind keine Reformen mehr, das sind alles Schweinereien. Bei einer Reform müsste’s ja bisschen besser gehen, müsste man was spüren, nich’ wahr. Aber hier spürt man nur eins: Man wird immer weiter bestohlen und beklaut, nich’. Die ganze Mannschaft mit Schröder hat soviel Unheil für Deutschland gebracht, nich’ wahr, wie alle Regierungen zusammen. Also CDU und SPD, wer die wählt, den sollte man in Arsch treten."
Das sind die Wähler, die Laakmann die beste Gelegenheit bieten, seinem Vorbild Lafontaine auf Duisburger Straßen populistisch nachzueifern. Mögen die Probleme noch so vielschichtig und kompliziert sein, die Lösungen des Linkspartei-Mannes passen faustgenau auf einen Bierdeckel:
"Um soziale Sicherung zu leisten und das, was wir im Wahlprogramm... is’ das Geld da. Man muss es sich nur holen. Die größten 30 Aktiengesellschaften haben im letzten Quartal 12,5 Milliarden verdient. Wir haben kaum Körperschaftsteuer, wir diskutieren Spitzensteuersatz, bloß keiner bezahlt’s. Es ist schon Geld da." - "Ich denk’ auch, Geld muss da sein." - "Dir wernse ja die Rente kürzen, das weißt Du ja." - "Ja natürlich, hab’ ich schon gehört. Das weiß ich ja." - "Das macht Frau Merkel und das macht Herr Schröder." - "Ja natürlich, die Merkel, die verspricht, ja genauso ist das. Is doch bei allen. Die versprechen Dir ’n Himmel auf Erden vor den Wahlen, und wenn et mal soweit is’, wat machen se dann? Dann sagen se, ja, wir ham ’s uns anders vorgestellt, vielleicht ’n bisschen leichter, aber is’ nich so."
Die Erststimme, gut, die soll er haben, hört Laakmann oft. Die Zweitstimme, na ja, die soll doch wieder die SPD bekommen. Ein arbeitsloser Mann Mitte Dreißig will die Zweitstimme halt mal der CDU geben, damit die ihm vielleicht endlich einen Arbeitsplatz besorgt. 40.000 Stimmen will Laakmann für sein Direkt-Ticket nach Berlin sammeln. Bei den Stahlarbeitern, den türkisch-stämmigen Wählern und den Rentnern. Nicht zu vergessen die 42.000 Arbeitslosen, die für Duisburg eine Quote von vollen 18 Prozent bedeuten. Frank Decker:
"Modernisierungsverlierer bedeutet nicht, dass es sich nur um objektive Verlierer handeln muss. Aber es handelt sich um eine breitere Klientel eben auch derjenigen, die um ihren sozialen Abstieg fürchten. Das steht natürlich in engem Zusammenhang mit dem, was an Reformpolitik stattgefunden hat in den letzten Jahren. Nicht von ungefähr gehen die möglichen Gewinne der Linkspartei in allererster Linie zu Lasten der Sozialdemokratie. Diese enttäuschten, von der Sozialdemokratie enttäuschten Wähler hätten sich ohne ein solches Angebot wahrscheinlich in Nicht-Wahl geflüchtet. Jetzt haben die in der Tat eine Alternative. Also hier wird es sicherlich einen starken Wähleraustausch geben."
Gerade in einer von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Region wie dem Ruhrgebiet sei es das Verdienst der Linkspartei - ungeachtet der Bewertung ihrer Positionen -, dieser Gruppe von Wählern ein Angebot zu machen, um sie weiter im politischen System zu repräsentieren. Indem die Protestpartei ihrer wachsenden Zahl eine Stimme gibt, verhindert sie eine Ausgrenzung, die womöglich in manchem Fall zu Formen der Gewalt führen könnte - so zumindest die Sichtweise der Linkspartei-Akteure.
Laakmann wechselt am Mittag in die Fußgängerzone Duisburg Mitte. Neben der Großbaustelle für das neue Casino präsentiert sich auch die SPD, verteilt rote Fähnchen. Die Direktkandidatin, Bundestagsabgeordnete Petra Weis, ist im geleasten chick-silbernen VW-Wahlbus gekommen, unterhält sich mit den Wahlhelfern. Währenddessen bieten die acht Wahlhelfer der Linkspartei verteilt über die Fußgängerzone ihre "Wahl-Informationen" an.
Eine Szene mit Symbolgehalt. Gerade die SPD habe die vereinte Linke beflügelt, indem sie unter sich blieb, anstatt die Menschen in ihre Reformarbeit einzubeziehen, analysiert Frank Decker:
"Man hat es versäumt, die Reformen zu erklären. Man hat es auch versäumt, die in sich ja durchaus auch begründbaren Vorhaben zu verbinden zu einem stimmigen Gesamtkonzept. Und das dann eben auch zu versehen mit einem ideellen Überbau, das eben ausdrücklich auch basiert auf den eigenen sozialdemokratischen Werten. Schröder und Müntefering hatten sich sicherlich erhofft, dass sie die Linkspartei durch ihren Neuwahl-Coup überrumpeln würden. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Man hat diesen Prozess des Zusammenfindens sogar noch beschleunigt."
Das beschleunigte Zusammenfinden hat jedoch nur oberflächlich stattgefunden. Hinter den Wahl-Kulissen macht sich bei der WASG seither Unzufriedenheit breit. Viele befürchten, von der PDS untergebuttert und damit um ihre eigene Identität gebracht zu werden. Laakmann erwartet eine Auseinandersetzung ähnlich der zwischen Realos und Fundis bei den Grünen. Einfach wird das nicht abgehen, schätzt Decker von der Uni Bonn, denn die PDS hat in den neuen Bundesländern nicht nur eine andere Kultur:
"Die PDS ist ja dort Regierungspartei. Das heißt, sie muss sich auch sehr viel pragmatischer geben als eine Partei wie die WASG, die sich natürlich als Oppositionspartei, als Protestpartei versteht. Aber auch innerhalb der WASG gibt es ganz unterschiedliche Kräfte. Solche Neugründungen sind natürlich immer auch ein Sammelbecken für Unzufriedene, Frustrierte, Querulanten, eben auch Leute, die politisch schwer integrierbar sind. Und all das zusammenzubringen, das wird für die Partei noch schwierig werden. Im Moment wird das Ganze unterdrückt durch die Perspektive eines großen Wahlerfolgs."
Szenenwechsel. Berlin-Pankow, Breite Straße. Hier steht Stefan Liebich, Direktkandidat der Linkspartei.PDS für den Wahlkreis 77, neben dem Infotisch und verteilt Flugblätter, spricht Passanten an. In den Jahren des Kalten Krieges war "Pankow" ein Synonym für die SED-Regierung in Ostberlin. Bis heute ist dort die Elite der Ex-DDR zu Hause: Wissenschaftler, Künstler, ehemalige Funktionäre. Hier, wo der Osten bürgerlich ist, nur einen Steinwurf entfernt von den großzügigen Villen des Majakowskirings, hat es Stefan Liebich leicht.
"Also, hier sehr, sehr positiv. Also, ich hab’ da durchaus in unterschiedlichen Gebieten unterschiedliche Erfahrungen. Aber hier heute bei dem Stand bisher nur positive Ansprachen. Hier und da mal ne Frage, aber sehr viel Interesse und die Leute nehmen auch anders als bei den letzten Wahlen immer die langen Wahlprogramme mit. Die wollen sich offenkundig auch richtig informieren."
Stefan Liebich drückt den Rücken durch, trägt dunkles Sakko mit weißem Hemd, er ist ein Schwiegermutter-Typ, wirkt offen und freundlich zu jedermann - mit seinen 32 Jahre entspricht er nicht dem gängigen Klischee des ideologisch verhärteten SED/PDS-Politikers. Er spricht ein klares Hochdeutsch, kann aber, wenn er sich unter Ostdeutschen wähnt, seiner Sprache auch einen Schuss Berlinerisch hinzufügen, so wie es chic ist unter Ostberliner Intellektuellen, bis heute. 1972 geboren, ist er zu jung, um in der DDR Verantwortung getragen zu haben. Das macht ihn glaubwürdig und - zumindest hier, im Herzen Pankows - immun gegen die Vorwürfe, die Linkspartei sei in Wirklichkeit immer noch die Nachfolgepartei der SED.
"Das ist auf die Person Liebich nicht zutreffend, das ist ein junger Mann, mein Gott, man muss doch nicht alles in die Sippenhaft nehmen. Ich war nie Mitglied der SED. Ich bin seit 34 Jahren Mitglied der der Sozialdemokratischen Partei. Nur dieses Mal werd ich meine Stimme dort platzieren."
Liebich hat in den neunziger Jahren beim Computerhersteller IBM studiert, ist erfolgreich, einer der angekommen ist im vereinten Deutschland. Er ist Mitglied des Abgeordnetenhauses und Landesvorsitzender der Linkspartei-PDS, die in Berlin gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Regierung stellt. Trotzdem versucht er, nicht abgehoben zu wirken. Hier in Pankow ist seine Botschaft: Ich bin einer von euch.
"Ich weiß eben, worüber viele Menschen reden, die auch ehemals in der DDR Verantwortung getragen haben. Andererseits hab ich ne ganz andere Biographie. Ich bin mit 18 1990 in die PDS eingetreten und habe von Anfang an im parlamentarischen System auch mitgewirkt und finde die Demokratie, auch die parlamentarische Demokratie, richtig. Da haben einige andere von uns noch ein paar mehr Probleme mit."
Liebich kandidiert im Wahlkreis Pankow gegen drei ehemalige DDR-Oppositionelle. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat den Wahlkreis 2002 direkt gewonnen. Günter Nooke kämpft auf relativ verlorenem Posten für die CDU. Und Werner Schulz von den Grünen hat durch seine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht noch einmal an Popularität gewonnen. Für ihn ist das Direktmandat die letzte Chance, in den Bundestag zu kommen. Stefan Liebich könnte davon profitieren, dass Wolfgang Thierse in seinem Stammwählermilieu, im alternativ geprägten Süden des Wahlkreises Pankow, dem Prenzlauer Berg, Stimmen an Werner Schulz verliert. Der PDS-Kandidat, das gibt Thierse selbst am Rande einer Wahlkampfveranstaltung indirekt zu, könnte ihm gefährlich werden.
"In diesem Wahlkreis war es noch nie anders. Seit 1990, seit ich für den Bundestag kandidiere, gab es immer einen Zweikampf zwischen dem Sozialdemokraten Thierse und dem jeweiligen PDS-Kandidaten. Das war immer so. Und dieser Zweikampf wurde immer entschieden durch die Wähler der anderen Parteien, vor allem der Grünen, mit deren Erststimme."
Eigentlich ist Liebich als Landespolitiker zufrieden und vergleichsweise erfolgreich. Hinter der vorgehaltenen Hand heißt es, er wolle in Wirklichkeit gar nicht in den Bundestag und habe nur deshalb im Wahlkreis von Bundestagspräsident Thierse kandidiert, weil er das dortige Direktmandat ohnehin nicht gewinnt. Nun könnte es wider Erwarten anders kommen. Dass die Linkspartei im Osten so viele Wähler außerhalb ihres traditionellen Milieus würde gewinnen können, war kurz nach Verkündigung der Neuwahlen im Mai nicht absehbar. Am Stand der PDS in Pankow scharen sich die Menschen um den Kandidaten.
"Find ick gut, ich bin ja leidenschaftlicher SPD-Wähler, wir haben auch schon CDU gewählt, aber nu wollen wir mal links wählen." - " Wir haben ja noch nie PDS oder links gewählt. Wir sind ja keene Kommunisten." - " Ich kenn nur Gregor Gysi und den find ich gut." - "Der Oskar war mir sehr sympathisch. Und das find ich eben nicht, wenn sie alle auf dem rumhacken. Da werfen sie ihm sein Haus vor, na andere haben auch Häuser."
Sozialneid ist im vergleichsweise wohlhabenden Pankow offenbar kein Thema. Im Prenzlauer Berg dagegen muss Stefan Liebich seinen Spitzenkandidaten Lafontaine verteidigen, nicht wegen seines Hauses, sondern wegen seiner Fremdarbeiter-Äußerung, die ihm als Rassismus ausgelegt wurde.
"Das ist nicht ganz einfach. Aber da haben wir hier in Berlin ne ganz klare Distanz zu. Ich halte den Begriff des Fremdarbeiters für nicht glücklich, auch wenn viele andere in der Bundesrepublik bei der SPD, bei der CDU, in den Medien den auch benutzen. Ich find ihn falsch. Und ich finde vor allem den Gedanken falsch, zu sagen, dass die Konkurrenz zwischen den Menschen hier und den Menschen, die zu uns kommen, existiert. Dann gibt es Fragen, wieso machen Sie dann so jemanden zum Spitzenkandidaten. Ich kann nur sagen, dass ich glaube, dass Oskar Lafontaine in den alten Bundesländern sehr, sehr viele Menschen anzieht, auch Linke anzieht, die diese Position, die er vertritt, nicht haben."
Für viele Politiker der PDS in den neuen Bundesländern ist das Bündnis mit den West-Linken der WASG nicht mehr als eine strategische Allianz. Stefan Liebich ist es offenkundig wichtig, sein Stammwählerpotential nicht zu verlieren. Deshalb nimmt er seinen Auftritt bei der Volksolidarität ernst, einem Freien Träger von sozialen Einrichtungen in den neuen Bundesländern, vom Kindergarten bis zum Altenheim. Der Raum in einer Pankower Villa ist bis auf den letzten Platz besetzt. Kaum einer ist hier unter 60 Jahren alt. Liebich hat hier leichtes Spiel.
"Ich mag ihn. Ich kann ihn gut leiden. Ich hab den Eindruck, dass er zielstrebig ist, dass er weiß, was er sagt, dass da auch was dahinter steht. Und außerdem find ich es schön, dass mal ein Jüngerer in dieser Partei was zu sagen hat."
Manche der Zuhörer sind seit 1946 in dieser Partei, wie sie stolz verkünden. Dass sie sich mehrmals umbenannt hat, spielt keine Rolle. Größere Angst besteht da vor der Fusion mit der WASG. Denn da könnten Fremdkörper in die Partei kommen, Westlinke, Trotzkisten, Autonome, Maoisten - Stefan Liebich beruhigt die alten Genossen mit dem Versprechen, er werde dafür sorgen, dass sich die PDS nicht jedem Beliebigen öffnet.
"Nicht jeder, der links ist, hilft uns in diesem neuen Bündnis. Ich bin der Auffassung, dass es richtig ist, dass sich WASG und PDS und weitere demokratische Linke zusammentun. Ich bin nicht bereit, bestimmte programmatische Positionen, die wir uns als PDS erkämpft haben, über Bord zu werfen, weil beispielsweise die DKP gewonnen werden soll, und dann die DKP uns nicht mehr Stimmen bringt, sondern Stimmen kostet."
In Berlin besteht die WASG zu großen Teilen aus ehemaligen Mitgliedern der PDS, die sich in einem Volksbegehren zusammengetan haben, um den rot-roten Senat abzuwählen. Das ist ihr Recht, sagt Liebich, aber keine Empfehlung für einen vorderen Listenplatz bei der Linkspartei. Die Berliner Verhältnisse könnten die Sollbruchstelle der Linkspartei werden, wenn sie mit der WASG fusioniert. Zunächst aber profitiert sie von dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit - auch in ihrem Stammmilieu.
"Na zumindestenst ist es hoffentlich eine gute Opposition. Hoffe ich. Dass sie sich da kräftig gegen bestimmte Dinge auflehnen, die kritikwürdig sind. Ob das die Gesundheitsreform ist, die ganze Steuerangelegenheit, die Finanzierung und so weiter. Das ist ja überall im Argen."
Für den Politikwissenschaftler Klaus Schröder vom Forschungsverbund SED-Staat an der FU-Berlin sind die alten Genossen immer noch der emotionale Kitt der Linkspartei. So wichtig es ist, durch die Allianz mit der WASG auch in den westlichen Bundesländern Fuß zu fassen, letztlich wird man nichts tun, um den Ruf, die authentische Vertretung der Ostdeutschen zu sein, zu verlieren.
"Gehen wir mal davon aus, sie bekommen 25 Prozent der Wählerstimmen im Osten, würde ich sagen, 15 Prozent sind Leute, die noch an der alten DDR hängen, nicht in jedem Detail, aber prinzipiell an der DDR hängen, die anderen 10 Prozent sind Protestwähler. Wir dürfen nicht vergessen, dass es diese festen Lager, wie wir sie in Westdeutschland bisher hatten, dass es die in Ostdeutschland nicht gibt und dass es viel mehr Wechselwähler gibt, viel mehr Unentschlossene gibt, die können heute so wählen, morgen so wählen, was sie glauben, was in ihrem Interesse ist. Das kann mal die NPD sein, wenn da der Protest stärker ausfällt, mal die Linkspartei sein, es können aber auch wieder die traditionellen Parteien sein."
Bei dieser Bundestagswahl werden viele junge Ostdeutsche zum ersten Mal wählen, die die DDR nicht mehr bewusst erlebt haben. Auch bei ihnen ist die Linkspartei populär. Am Rande einer Podiumsdiskussion in einem Pankower Gymnasium mit allen Direktkandidaten des Wahlkreises erklärt eine Schülerin, warum dies so ist. Auch viele Junge fühlen sich von der Linkspartei verstanden, und nur von ihr.
"Ich denke, das liegt vor allem daran, dass sie eher bemüht ist, regionale Interessen für Ostdeutsche zu vertreten, als dass sie jetzt versucht, eine Position zu finden, die für Gesamtdeutschland ein möglichst gutes Ergebnis bringt, im Vergleich zu vor allem der CDU, die versucht, ihre Interessen so schwammig zu formulieren, dass sie auf alle zutreffen."
Der Politikwissenschaftler Klaus Schröder dagegen glaubt, dass viele Erstwähler in Ostdeutschland von den alten Milieus geprägt werden, von ihren Eltern, von den Lehrern, den Erzählungen von früher. Je weiter die DDR weg ist, desto positiver erscheint sie gerade denen, die sie nicht selbst kenne gelernt haben.
"Wir beobachten mit unseren Forschungen eine deutliche Idealisierung der DDR. Es wird zumeist nur der soziale Kern hervorgerufen. Dass die DDR auch Schattenseiten hatte, das wird möglichst nicht zur Kenntnis genommen. Die haben ein falsches Bild der DDR und denken, sie wählen jetzt das sozial bessere Deutschland."
Duisburg, Stadtteil Rheinhausen, Samstagvormittag, an einem Stand der Linkspartei. Neben dem einzigen Blickfang in der Fußgängerzone, einer klobigen Brunnenskulptur aus Metall, steht ein orangefarbener Sonnenschirm der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit", kurz WASG, auf einem kleinen Tisch liegt Info-Material und ein paar Plakate sind aufgestellt. Zwei davon für Helmut Laakmann, WASG-Direktkandidat für Duisburg Süd.
Mit drei Parteifreunden möchte er einen Werbebrief über seine politischen Ambitionen an die Passanten verteilen. Nicht alle sind so gesprächig wie der 47-jährige arbeitslose Bankkaufmann, den Oskar Lafontaine schon überzeugt hat. Die meisten gehen einfach abwehrend weiter. Laakmann trägt dunkelblaue Jeans und einen schwarzen Pullover mit offenem weißen Hemdkragen, keinen obligatorischen Anzug. Die Vorbeigehenden begreifen ihn wohl trotzdem als eine dieser etablierten so genannten "Politnasen" mit Wohlstandsbauch. Was Laakmann aber nicht ist. Der Sohn aus einer Arbeiterfamilie macht, wie er ironisch bemerkt, beruflich Tag für Tag dasselbe wie Millionen andere Bundesbürger:
"Ich mache im Augenblick, äh, arbeite bei der Arbeitsagentur und versuche dort einen Job zu bekommen. Und das ist aber ganz schwierig, wenn man 57 Jahre alt ist. Weil, dann haben die meisten einen Lachkrampf, wenn man sich irgendwo vorstellt. Die einen ablehnen, die sind selber über 50. Die sagen, wir wollen nicht mehr so alte Säcke. Aber ich geb’ das nicht auf."
Dass Laakmann Direktkandidat der Linkspartei ist, verdankt er einer spontanen Rede, 1987, als Krupp das Stahlwerk in Rheinhausen dicht machen wollte. Da rief er als damaliger Betriebsleiter die 6.000 Mitarbeiter zornig zum erbitterten Widerstand auf. In den folgenden 160 Tagen gingen bis zu 100.000 Demonstranten auf die Straße. Der längste Arbeitskampf in der Bundesrepublik ging für die Kruppianer jedoch verloren, Laakmann aber blieb der "Held von Rheinhausen".
Der geeignete Mann für die WASG Duisburg. Vor drei Monaten bot sie ihm die Kandidatur an. Wofür er - wie so viele andere vor ihm - aus der, wie er sagt, längst enttäuschenden SPD austrat.
Dennoch hat der Wechsel zur WASG Laakmann auch Sympathien gekostet. So mancher Traditionalist gerade in der SPD-Hochburg Rheinhausen beschimpft ihn jetzt verächtlich als "Verräter", auch an diesem Samstag. Andere rufen ihm rasch im Vorbeigehen zu, er und Oskar Lafontaine seien "Großmäuler". "Der soll sich schämen!"
Laakmann schüttelt darüber den Kopf. Die SPD, in der er hier war, habe doch allenfalls über die Wassertemperatur im kommunalen Schwimmbad diskutiert, sagt er. Jetzt wolle er dazu beitragen, die politische Landkarte zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Bayern neu zu gestalten.
Es sind vor allem ein paar Vorruheständler und Rentner, die sich dafür interessieren und mal stehen bleiben, um die Gelegenheit zu nutzen, sich über angestauten Ärger Luft zu machen. Zum Beispiel ein 71-jähriger Ingenieur:
"Das sind keine Reformen mehr, das sind alles Schweinereien. Bei einer Reform müsste’s ja bisschen besser gehen, müsste man was spüren, nich’ wahr. Aber hier spürt man nur eins: Man wird immer weiter bestohlen und beklaut, nich’. Die ganze Mannschaft mit Schröder hat soviel Unheil für Deutschland gebracht, nich’ wahr, wie alle Regierungen zusammen. Also CDU und SPD, wer die wählt, den sollte man in Arsch treten."
Das sind die Wähler, die Laakmann die beste Gelegenheit bieten, seinem Vorbild Lafontaine auf Duisburger Straßen populistisch nachzueifern. Mögen die Probleme noch so vielschichtig und kompliziert sein, die Lösungen des Linkspartei-Mannes passen faustgenau auf einen Bierdeckel:
"Um soziale Sicherung zu leisten und das, was wir im Wahlprogramm... is’ das Geld da. Man muss es sich nur holen. Die größten 30 Aktiengesellschaften haben im letzten Quartal 12,5 Milliarden verdient. Wir haben kaum Körperschaftsteuer, wir diskutieren Spitzensteuersatz, bloß keiner bezahlt’s. Es ist schon Geld da." - "Ich denk’ auch, Geld muss da sein." - "Dir wernse ja die Rente kürzen, das weißt Du ja." - "Ja natürlich, hab’ ich schon gehört. Das weiß ich ja." - "Das macht Frau Merkel und das macht Herr Schröder." - "Ja natürlich, die Merkel, die verspricht, ja genauso ist das. Is doch bei allen. Die versprechen Dir ’n Himmel auf Erden vor den Wahlen, und wenn et mal soweit is’, wat machen se dann? Dann sagen se, ja, wir ham ’s uns anders vorgestellt, vielleicht ’n bisschen leichter, aber is’ nich so."
Die Erststimme, gut, die soll er haben, hört Laakmann oft. Die Zweitstimme, na ja, die soll doch wieder die SPD bekommen. Ein arbeitsloser Mann Mitte Dreißig will die Zweitstimme halt mal der CDU geben, damit die ihm vielleicht endlich einen Arbeitsplatz besorgt. 40.000 Stimmen will Laakmann für sein Direkt-Ticket nach Berlin sammeln. Bei den Stahlarbeitern, den türkisch-stämmigen Wählern und den Rentnern. Nicht zu vergessen die 42.000 Arbeitslosen, die für Duisburg eine Quote von vollen 18 Prozent bedeuten. Frank Decker:
"Modernisierungsverlierer bedeutet nicht, dass es sich nur um objektive Verlierer handeln muss. Aber es handelt sich um eine breitere Klientel eben auch derjenigen, die um ihren sozialen Abstieg fürchten. Das steht natürlich in engem Zusammenhang mit dem, was an Reformpolitik stattgefunden hat in den letzten Jahren. Nicht von ungefähr gehen die möglichen Gewinne der Linkspartei in allererster Linie zu Lasten der Sozialdemokratie. Diese enttäuschten, von der Sozialdemokratie enttäuschten Wähler hätten sich ohne ein solches Angebot wahrscheinlich in Nicht-Wahl geflüchtet. Jetzt haben die in der Tat eine Alternative. Also hier wird es sicherlich einen starken Wähleraustausch geben."
Gerade in einer von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Region wie dem Ruhrgebiet sei es das Verdienst der Linkspartei - ungeachtet der Bewertung ihrer Positionen -, dieser Gruppe von Wählern ein Angebot zu machen, um sie weiter im politischen System zu repräsentieren. Indem die Protestpartei ihrer wachsenden Zahl eine Stimme gibt, verhindert sie eine Ausgrenzung, die womöglich in manchem Fall zu Formen der Gewalt führen könnte - so zumindest die Sichtweise der Linkspartei-Akteure.
Laakmann wechselt am Mittag in die Fußgängerzone Duisburg Mitte. Neben der Großbaustelle für das neue Casino präsentiert sich auch die SPD, verteilt rote Fähnchen. Die Direktkandidatin, Bundestagsabgeordnete Petra Weis, ist im geleasten chick-silbernen VW-Wahlbus gekommen, unterhält sich mit den Wahlhelfern. Währenddessen bieten die acht Wahlhelfer der Linkspartei verteilt über die Fußgängerzone ihre "Wahl-Informationen" an.
Eine Szene mit Symbolgehalt. Gerade die SPD habe die vereinte Linke beflügelt, indem sie unter sich blieb, anstatt die Menschen in ihre Reformarbeit einzubeziehen, analysiert Frank Decker:
"Man hat es versäumt, die Reformen zu erklären. Man hat es auch versäumt, die in sich ja durchaus auch begründbaren Vorhaben zu verbinden zu einem stimmigen Gesamtkonzept. Und das dann eben auch zu versehen mit einem ideellen Überbau, das eben ausdrücklich auch basiert auf den eigenen sozialdemokratischen Werten. Schröder und Müntefering hatten sich sicherlich erhofft, dass sie die Linkspartei durch ihren Neuwahl-Coup überrumpeln würden. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Man hat diesen Prozess des Zusammenfindens sogar noch beschleunigt."
Das beschleunigte Zusammenfinden hat jedoch nur oberflächlich stattgefunden. Hinter den Wahl-Kulissen macht sich bei der WASG seither Unzufriedenheit breit. Viele befürchten, von der PDS untergebuttert und damit um ihre eigene Identität gebracht zu werden. Laakmann erwartet eine Auseinandersetzung ähnlich der zwischen Realos und Fundis bei den Grünen. Einfach wird das nicht abgehen, schätzt Decker von der Uni Bonn, denn die PDS hat in den neuen Bundesländern nicht nur eine andere Kultur:
"Die PDS ist ja dort Regierungspartei. Das heißt, sie muss sich auch sehr viel pragmatischer geben als eine Partei wie die WASG, die sich natürlich als Oppositionspartei, als Protestpartei versteht. Aber auch innerhalb der WASG gibt es ganz unterschiedliche Kräfte. Solche Neugründungen sind natürlich immer auch ein Sammelbecken für Unzufriedene, Frustrierte, Querulanten, eben auch Leute, die politisch schwer integrierbar sind. Und all das zusammenzubringen, das wird für die Partei noch schwierig werden. Im Moment wird das Ganze unterdrückt durch die Perspektive eines großen Wahlerfolgs."
Szenenwechsel. Berlin-Pankow, Breite Straße. Hier steht Stefan Liebich, Direktkandidat der Linkspartei.PDS für den Wahlkreis 77, neben dem Infotisch und verteilt Flugblätter, spricht Passanten an. In den Jahren des Kalten Krieges war "Pankow" ein Synonym für die SED-Regierung in Ostberlin. Bis heute ist dort die Elite der Ex-DDR zu Hause: Wissenschaftler, Künstler, ehemalige Funktionäre. Hier, wo der Osten bürgerlich ist, nur einen Steinwurf entfernt von den großzügigen Villen des Majakowskirings, hat es Stefan Liebich leicht.
"Also, hier sehr, sehr positiv. Also, ich hab’ da durchaus in unterschiedlichen Gebieten unterschiedliche Erfahrungen. Aber hier heute bei dem Stand bisher nur positive Ansprachen. Hier und da mal ne Frage, aber sehr viel Interesse und die Leute nehmen auch anders als bei den letzten Wahlen immer die langen Wahlprogramme mit. Die wollen sich offenkundig auch richtig informieren."
Stefan Liebich drückt den Rücken durch, trägt dunkles Sakko mit weißem Hemd, er ist ein Schwiegermutter-Typ, wirkt offen und freundlich zu jedermann - mit seinen 32 Jahre entspricht er nicht dem gängigen Klischee des ideologisch verhärteten SED/PDS-Politikers. Er spricht ein klares Hochdeutsch, kann aber, wenn er sich unter Ostdeutschen wähnt, seiner Sprache auch einen Schuss Berlinerisch hinzufügen, so wie es chic ist unter Ostberliner Intellektuellen, bis heute. 1972 geboren, ist er zu jung, um in der DDR Verantwortung getragen zu haben. Das macht ihn glaubwürdig und - zumindest hier, im Herzen Pankows - immun gegen die Vorwürfe, die Linkspartei sei in Wirklichkeit immer noch die Nachfolgepartei der SED.
"Das ist auf die Person Liebich nicht zutreffend, das ist ein junger Mann, mein Gott, man muss doch nicht alles in die Sippenhaft nehmen. Ich war nie Mitglied der SED. Ich bin seit 34 Jahren Mitglied der der Sozialdemokratischen Partei. Nur dieses Mal werd ich meine Stimme dort platzieren."
Liebich hat in den neunziger Jahren beim Computerhersteller IBM studiert, ist erfolgreich, einer der angekommen ist im vereinten Deutschland. Er ist Mitglied des Abgeordnetenhauses und Landesvorsitzender der Linkspartei-PDS, die in Berlin gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Regierung stellt. Trotzdem versucht er, nicht abgehoben zu wirken. Hier in Pankow ist seine Botschaft: Ich bin einer von euch.
"Ich weiß eben, worüber viele Menschen reden, die auch ehemals in der DDR Verantwortung getragen haben. Andererseits hab ich ne ganz andere Biographie. Ich bin mit 18 1990 in die PDS eingetreten und habe von Anfang an im parlamentarischen System auch mitgewirkt und finde die Demokratie, auch die parlamentarische Demokratie, richtig. Da haben einige andere von uns noch ein paar mehr Probleme mit."
Liebich kandidiert im Wahlkreis Pankow gegen drei ehemalige DDR-Oppositionelle. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat den Wahlkreis 2002 direkt gewonnen. Günter Nooke kämpft auf relativ verlorenem Posten für die CDU. Und Werner Schulz von den Grünen hat durch seine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht noch einmal an Popularität gewonnen. Für ihn ist das Direktmandat die letzte Chance, in den Bundestag zu kommen. Stefan Liebich könnte davon profitieren, dass Wolfgang Thierse in seinem Stammwählermilieu, im alternativ geprägten Süden des Wahlkreises Pankow, dem Prenzlauer Berg, Stimmen an Werner Schulz verliert. Der PDS-Kandidat, das gibt Thierse selbst am Rande einer Wahlkampfveranstaltung indirekt zu, könnte ihm gefährlich werden.
"In diesem Wahlkreis war es noch nie anders. Seit 1990, seit ich für den Bundestag kandidiere, gab es immer einen Zweikampf zwischen dem Sozialdemokraten Thierse und dem jeweiligen PDS-Kandidaten. Das war immer so. Und dieser Zweikampf wurde immer entschieden durch die Wähler der anderen Parteien, vor allem der Grünen, mit deren Erststimme."
Eigentlich ist Liebich als Landespolitiker zufrieden und vergleichsweise erfolgreich. Hinter der vorgehaltenen Hand heißt es, er wolle in Wirklichkeit gar nicht in den Bundestag und habe nur deshalb im Wahlkreis von Bundestagspräsident Thierse kandidiert, weil er das dortige Direktmandat ohnehin nicht gewinnt. Nun könnte es wider Erwarten anders kommen. Dass die Linkspartei im Osten so viele Wähler außerhalb ihres traditionellen Milieus würde gewinnen können, war kurz nach Verkündigung der Neuwahlen im Mai nicht absehbar. Am Stand der PDS in Pankow scharen sich die Menschen um den Kandidaten.
"Find ick gut, ich bin ja leidenschaftlicher SPD-Wähler, wir haben auch schon CDU gewählt, aber nu wollen wir mal links wählen." - " Wir haben ja noch nie PDS oder links gewählt. Wir sind ja keene Kommunisten." - " Ich kenn nur Gregor Gysi und den find ich gut." - "Der Oskar war mir sehr sympathisch. Und das find ich eben nicht, wenn sie alle auf dem rumhacken. Da werfen sie ihm sein Haus vor, na andere haben auch Häuser."
Sozialneid ist im vergleichsweise wohlhabenden Pankow offenbar kein Thema. Im Prenzlauer Berg dagegen muss Stefan Liebich seinen Spitzenkandidaten Lafontaine verteidigen, nicht wegen seines Hauses, sondern wegen seiner Fremdarbeiter-Äußerung, die ihm als Rassismus ausgelegt wurde.
"Das ist nicht ganz einfach. Aber da haben wir hier in Berlin ne ganz klare Distanz zu. Ich halte den Begriff des Fremdarbeiters für nicht glücklich, auch wenn viele andere in der Bundesrepublik bei der SPD, bei der CDU, in den Medien den auch benutzen. Ich find ihn falsch. Und ich finde vor allem den Gedanken falsch, zu sagen, dass die Konkurrenz zwischen den Menschen hier und den Menschen, die zu uns kommen, existiert. Dann gibt es Fragen, wieso machen Sie dann so jemanden zum Spitzenkandidaten. Ich kann nur sagen, dass ich glaube, dass Oskar Lafontaine in den alten Bundesländern sehr, sehr viele Menschen anzieht, auch Linke anzieht, die diese Position, die er vertritt, nicht haben."
Für viele Politiker der PDS in den neuen Bundesländern ist das Bündnis mit den West-Linken der WASG nicht mehr als eine strategische Allianz. Stefan Liebich ist es offenkundig wichtig, sein Stammwählerpotential nicht zu verlieren. Deshalb nimmt er seinen Auftritt bei der Volksolidarität ernst, einem Freien Träger von sozialen Einrichtungen in den neuen Bundesländern, vom Kindergarten bis zum Altenheim. Der Raum in einer Pankower Villa ist bis auf den letzten Platz besetzt. Kaum einer ist hier unter 60 Jahren alt. Liebich hat hier leichtes Spiel.
"Ich mag ihn. Ich kann ihn gut leiden. Ich hab den Eindruck, dass er zielstrebig ist, dass er weiß, was er sagt, dass da auch was dahinter steht. Und außerdem find ich es schön, dass mal ein Jüngerer in dieser Partei was zu sagen hat."
Manche der Zuhörer sind seit 1946 in dieser Partei, wie sie stolz verkünden. Dass sie sich mehrmals umbenannt hat, spielt keine Rolle. Größere Angst besteht da vor der Fusion mit der WASG. Denn da könnten Fremdkörper in die Partei kommen, Westlinke, Trotzkisten, Autonome, Maoisten - Stefan Liebich beruhigt die alten Genossen mit dem Versprechen, er werde dafür sorgen, dass sich die PDS nicht jedem Beliebigen öffnet.
"Nicht jeder, der links ist, hilft uns in diesem neuen Bündnis. Ich bin der Auffassung, dass es richtig ist, dass sich WASG und PDS und weitere demokratische Linke zusammentun. Ich bin nicht bereit, bestimmte programmatische Positionen, die wir uns als PDS erkämpft haben, über Bord zu werfen, weil beispielsweise die DKP gewonnen werden soll, und dann die DKP uns nicht mehr Stimmen bringt, sondern Stimmen kostet."
In Berlin besteht die WASG zu großen Teilen aus ehemaligen Mitgliedern der PDS, die sich in einem Volksbegehren zusammengetan haben, um den rot-roten Senat abzuwählen. Das ist ihr Recht, sagt Liebich, aber keine Empfehlung für einen vorderen Listenplatz bei der Linkspartei. Die Berliner Verhältnisse könnten die Sollbruchstelle der Linkspartei werden, wenn sie mit der WASG fusioniert. Zunächst aber profitiert sie von dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit - auch in ihrem Stammmilieu.
"Na zumindestenst ist es hoffentlich eine gute Opposition. Hoffe ich. Dass sie sich da kräftig gegen bestimmte Dinge auflehnen, die kritikwürdig sind. Ob das die Gesundheitsreform ist, die ganze Steuerangelegenheit, die Finanzierung und so weiter. Das ist ja überall im Argen."
Für den Politikwissenschaftler Klaus Schröder vom Forschungsverbund SED-Staat an der FU-Berlin sind die alten Genossen immer noch der emotionale Kitt der Linkspartei. So wichtig es ist, durch die Allianz mit der WASG auch in den westlichen Bundesländern Fuß zu fassen, letztlich wird man nichts tun, um den Ruf, die authentische Vertretung der Ostdeutschen zu sein, zu verlieren.
"Gehen wir mal davon aus, sie bekommen 25 Prozent der Wählerstimmen im Osten, würde ich sagen, 15 Prozent sind Leute, die noch an der alten DDR hängen, nicht in jedem Detail, aber prinzipiell an der DDR hängen, die anderen 10 Prozent sind Protestwähler. Wir dürfen nicht vergessen, dass es diese festen Lager, wie wir sie in Westdeutschland bisher hatten, dass es die in Ostdeutschland nicht gibt und dass es viel mehr Wechselwähler gibt, viel mehr Unentschlossene gibt, die können heute so wählen, morgen so wählen, was sie glauben, was in ihrem Interesse ist. Das kann mal die NPD sein, wenn da der Protest stärker ausfällt, mal die Linkspartei sein, es können aber auch wieder die traditionellen Parteien sein."
Bei dieser Bundestagswahl werden viele junge Ostdeutsche zum ersten Mal wählen, die die DDR nicht mehr bewusst erlebt haben. Auch bei ihnen ist die Linkspartei populär. Am Rande einer Podiumsdiskussion in einem Pankower Gymnasium mit allen Direktkandidaten des Wahlkreises erklärt eine Schülerin, warum dies so ist. Auch viele Junge fühlen sich von der Linkspartei verstanden, und nur von ihr.
"Ich denke, das liegt vor allem daran, dass sie eher bemüht ist, regionale Interessen für Ostdeutsche zu vertreten, als dass sie jetzt versucht, eine Position zu finden, die für Gesamtdeutschland ein möglichst gutes Ergebnis bringt, im Vergleich zu vor allem der CDU, die versucht, ihre Interessen so schwammig zu formulieren, dass sie auf alle zutreffen."
Der Politikwissenschaftler Klaus Schröder dagegen glaubt, dass viele Erstwähler in Ostdeutschland von den alten Milieus geprägt werden, von ihren Eltern, von den Lehrern, den Erzählungen von früher. Je weiter die DDR weg ist, desto positiver erscheint sie gerade denen, die sie nicht selbst kenne gelernt haben.
"Wir beobachten mit unseren Forschungen eine deutliche Idealisierung der DDR. Es wird zumeist nur der soziale Kern hervorgerufen. Dass die DDR auch Schattenseiten hatte, das wird möglichst nicht zur Kenntnis genommen. Die haben ein falsches Bild der DDR und denken, sie wählen jetzt das sozial bessere Deutschland."