Ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder auch ihre Stärken hatte - darüber werden im zwanzigsten Jahr des Mauerfalls angestrengt Debatten geführt.
Da kommt schadenfrohen Einheitskritikern zur Krönung ihres deutsch-deutschen Unbehagens die Krise des Finanzkapitalismus gerade recht, um aufzulisten und abzurechnen. Als Protagonistin des nivellierten Systemunterschieds tut sich dabei seit einiger Zeit Daniela Dahn hervor.
Seit zwanzig Jahren befände sich die hiesige Demokratie im freien Fall, behauptet die Herausgeberin des "Freitags" in ihrer neuesten Streitschrift. Der Westen habe damit seinen klaren Sieg über den Osten verwirkt, weil er die Prosperitätserwartungen der Menschen in Warnemünde, Klosterlausnitz oder Guben nicht zu erfüllen vermochte. Rechthaberisch bekundet die Autorin:
Wehe den Siegern, sagte ich, als 1989 nach Christus die Bonner die Ostdeutschen an der Spree besiegten. Alles deutete darauf hin, dass sie sich die Werte der Ostdeutschen unter den Nagel reißen, das Wissen und Erbe der Ostdeutschen ausschlagen und kein Gespür dafür haben würden, wie sehr sie nur eine Teilgesellschaft waren.
Dahn ist Kult in einer Szene, in der die normative Kraft des Faktischen keine Chance mehr hat.
Doch wäre es falsch, in ihr nur eine trotzige Mutmacherin für zerknirschte Ossis zu sehen. Denn darüber hinaus weiß sie auch Teile der linksliberalen westdeutschen Intelligenz auf ihrer Seite - von der Sao-Paolo-Linken Franziska Augstein bis zu den sozialdemokratischen Unkenrufern Egon Bahr und Günter Grass.
Drei Großlegenden durchziehen die kämpferische Botschaft. Da ist erstens ...
die Wiedervereinigungslegende oder:
Das ausgebliebene Paradies.
Keine Sehnsucht nach dem Alten, sondern blanke Enttäuschung über das Neue durchlitten die Ostdeutschen, von dunklen Mächten getäuscht und sich hintergangen fühlend:
Die Nostalgie vieler Ostdeutscher ist weniger der DDR verhaftet, als dem Traum von einem Westen, der sich nicht erfüllte. Der sich verdunkelte, sobald die Hinzugekommenen den Raum betraten. Bei den Einheimischen erweckte das den Eindruck, die Neuen hätten das Dunkel mitgebracht. Was insofern auch stimmte, als diese ihren sozialen Aufheller, der einst grenzüberstrahlend wirkte, eingebüßt hatten.
Die deutsche Einheit liest sich danach wie eine diabolische Verführungsstrategie eines auf Destruktion und Ruin angelegten kapitalistischen Systems:
Die DDR-Arbeiter wurden dazu verführt, über ihre Verhältnisse zu leben, wobei abzusehen war, dass sie an Zinsforderungen zugrunde gehen würden.
Doch damit nicht genug: Der SED-Staat sei in der aufgezwungenen Systemkonkurrenz nicht an seinen sozialen Mängeln, sondern im Gegenteil: an seinen sozialen Wohltaten ökonomisch gescheitert:
So wie die DDR an die Westlöhne nie heranreichen konnte, so hat die BRD den östlichen Vorsprung bei der Gleichstellung der Frau und im progressiven Familienrecht nie einholen können. Ab zwei Kindern arbeiteten Mütter bei vollem Lohnausgleich monatlich 15 Stunden weniger, hinzu kam für alle Frauen monatlich ein bezahlter Tag für die Hausarbeit. Kein Wunder, dass der Bankrott kam, könnte man meinen.
Zäh wehrt sich das einstige Mitglied im Demokratischen Aufbruch auch gegen den Befund, die DDR sei totalitär gewesen. Schon die permanente Öffentlichkeit der Westmedien im Ostalltag sprächen dagegen. Fürwahr ein niederschmetterndes Argument! Ähnlich verblüffend ist zweitens
Die Legende vom Untergang oder:
Die DDR war nicht total marode sondern nur
völlig verwirrt.
Der Bankrott des SED-Staats sei eher politischer als ökonomischer Natur, der Fehler des Sozialismus nicht das Volkseigentum, sondern der mangelnde demokratische Umgang mit ihm gewesen. Die Autorin verkündet hier im Stile alter Juso-Kongresse, dass eine demokratisch gelenkte Planwirtschaft die Chance gehabt hätte, den Crash zu vermeiden und die Systemkonkurrenz zu bestehen.
Es gibt keinen Beweis dafür, dass die Ineffektivität der Planwirtschaft am Volkseigentum gelegen hat, aber viele Argumente dafür, dass der Grund mangelnde Demokratie war.
Gegen eine Dämonisierung der alten DDR als flächendeckenden Spitzelstaat setzt die Börne-Preisträgerin das, was sie "Freiheitsvorsprünge" nennt, die über das hämisch belächelte Ampel- und Sandmännchen hinausweisen.
Der Sozialismus hätte sich nicht zwei, drei Generationen halten können, wenn er nicht in einigen Bereichen auch einen Freiheitsvorsprung gehabt hätte.
Damit meint sie vor allem die Stellung berufstätiger Mütter und nichtehelicher Kinder.
Hier sei indes die Frage gestattet, über welche "Freiheitsvorsprünge" wohl erst das verbliebene Nordkorea verfügen muss, das sich ja immerhin seit dem Epochenbruch um eine weitere Generation zu behaupten wusste.
Bliebe schließlich
die Systemlegende oder:
Kein erfolgreicher Kapitalismus ohne konkurrierendes Opfer.
Dahinter verbirgt sich die reichlich naive Vorstellung von Wirtschaft, seit der Abwicklung des Sozialismus werde dem Westen keine Legitimation mehr abgefordert, das System brauche sich nicht mehr anzustrengen. Das westliche Modell hat nach solcher Logik als Vorbild ausgedient.
Der Sieger muss zahlen und büßt dabei auch noch sein über Jahrzehnte gültiges Wertesystem ein. So gesehen ist nicht zu bestreiten: Der Westen ist der Verlierer der Einheit.
Überzeugungstäterin oder Provokateurin? Daniela Dahn war zu DDR-Zeiten eine durchaus kritische Journalistin, weshalb ihre Regimeverklärung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls manches Rätsel aufgibt. Will sie beleidigten Ostdeutschen eine schrille Stimme des Protestes verleihen? Oder bedient sie mit der Selbstradikalisierung nur eine intellektuelle Marktlücke?
Ideologisch konsequent zumindest fordert sie zu guter Letzt nichts weniger als die Auswechslung des ganzen Systems. Denn
kann, was nicht mehr sozial ist, noch demokratisch sein? Ist das Schicksal der Demokratie an eine Marktwirtschaft gekoppelt, die ihre soziale Kompetenz verloren hat?
Es gilt also, Ausschau zu halten nach Gegenentwürfen und Kräften für die anstehende historische Umwälzung, getreu der unvermeidlichen Parole:
Prekarier aller Länder, vereinigt Euch!
Notorischen Einheitsmuffeln dürfte die neue Dahn wie eine ersehnte Offenbarung erscheinen. Kopfschüttelnde Kritiker werden sich dagegen bei der Lektüre an die alte Volksweisheit erinnert fühlen, dass kein Kaffee kalt genug sein kann, um nicht doch noch getrunken zu werden.
Norbert Seitz über Daniela Dahn: Wehe dem Sieger. Ohne Osten kein Westen. Rowohlt Verlag, 300 Seiten, Euro 18,90.
Da kommt schadenfrohen Einheitskritikern zur Krönung ihres deutsch-deutschen Unbehagens die Krise des Finanzkapitalismus gerade recht, um aufzulisten und abzurechnen. Als Protagonistin des nivellierten Systemunterschieds tut sich dabei seit einiger Zeit Daniela Dahn hervor.
Seit zwanzig Jahren befände sich die hiesige Demokratie im freien Fall, behauptet die Herausgeberin des "Freitags" in ihrer neuesten Streitschrift. Der Westen habe damit seinen klaren Sieg über den Osten verwirkt, weil er die Prosperitätserwartungen der Menschen in Warnemünde, Klosterlausnitz oder Guben nicht zu erfüllen vermochte. Rechthaberisch bekundet die Autorin:
Wehe den Siegern, sagte ich, als 1989 nach Christus die Bonner die Ostdeutschen an der Spree besiegten. Alles deutete darauf hin, dass sie sich die Werte der Ostdeutschen unter den Nagel reißen, das Wissen und Erbe der Ostdeutschen ausschlagen und kein Gespür dafür haben würden, wie sehr sie nur eine Teilgesellschaft waren.
Dahn ist Kult in einer Szene, in der die normative Kraft des Faktischen keine Chance mehr hat.
Doch wäre es falsch, in ihr nur eine trotzige Mutmacherin für zerknirschte Ossis zu sehen. Denn darüber hinaus weiß sie auch Teile der linksliberalen westdeutschen Intelligenz auf ihrer Seite - von der Sao-Paolo-Linken Franziska Augstein bis zu den sozialdemokratischen Unkenrufern Egon Bahr und Günter Grass.
Drei Großlegenden durchziehen die kämpferische Botschaft. Da ist erstens ...
die Wiedervereinigungslegende oder:
Das ausgebliebene Paradies.
Keine Sehnsucht nach dem Alten, sondern blanke Enttäuschung über das Neue durchlitten die Ostdeutschen, von dunklen Mächten getäuscht und sich hintergangen fühlend:
Die Nostalgie vieler Ostdeutscher ist weniger der DDR verhaftet, als dem Traum von einem Westen, der sich nicht erfüllte. Der sich verdunkelte, sobald die Hinzugekommenen den Raum betraten. Bei den Einheimischen erweckte das den Eindruck, die Neuen hätten das Dunkel mitgebracht. Was insofern auch stimmte, als diese ihren sozialen Aufheller, der einst grenzüberstrahlend wirkte, eingebüßt hatten.
Die deutsche Einheit liest sich danach wie eine diabolische Verführungsstrategie eines auf Destruktion und Ruin angelegten kapitalistischen Systems:
Die DDR-Arbeiter wurden dazu verführt, über ihre Verhältnisse zu leben, wobei abzusehen war, dass sie an Zinsforderungen zugrunde gehen würden.
Doch damit nicht genug: Der SED-Staat sei in der aufgezwungenen Systemkonkurrenz nicht an seinen sozialen Mängeln, sondern im Gegenteil: an seinen sozialen Wohltaten ökonomisch gescheitert:
So wie die DDR an die Westlöhne nie heranreichen konnte, so hat die BRD den östlichen Vorsprung bei der Gleichstellung der Frau und im progressiven Familienrecht nie einholen können. Ab zwei Kindern arbeiteten Mütter bei vollem Lohnausgleich monatlich 15 Stunden weniger, hinzu kam für alle Frauen monatlich ein bezahlter Tag für die Hausarbeit. Kein Wunder, dass der Bankrott kam, könnte man meinen.
Zäh wehrt sich das einstige Mitglied im Demokratischen Aufbruch auch gegen den Befund, die DDR sei totalitär gewesen. Schon die permanente Öffentlichkeit der Westmedien im Ostalltag sprächen dagegen. Fürwahr ein niederschmetterndes Argument! Ähnlich verblüffend ist zweitens
Die Legende vom Untergang oder:
Die DDR war nicht total marode sondern nur
völlig verwirrt.
Der Bankrott des SED-Staats sei eher politischer als ökonomischer Natur, der Fehler des Sozialismus nicht das Volkseigentum, sondern der mangelnde demokratische Umgang mit ihm gewesen. Die Autorin verkündet hier im Stile alter Juso-Kongresse, dass eine demokratisch gelenkte Planwirtschaft die Chance gehabt hätte, den Crash zu vermeiden und die Systemkonkurrenz zu bestehen.
Es gibt keinen Beweis dafür, dass die Ineffektivität der Planwirtschaft am Volkseigentum gelegen hat, aber viele Argumente dafür, dass der Grund mangelnde Demokratie war.
Gegen eine Dämonisierung der alten DDR als flächendeckenden Spitzelstaat setzt die Börne-Preisträgerin das, was sie "Freiheitsvorsprünge" nennt, die über das hämisch belächelte Ampel- und Sandmännchen hinausweisen.
Der Sozialismus hätte sich nicht zwei, drei Generationen halten können, wenn er nicht in einigen Bereichen auch einen Freiheitsvorsprung gehabt hätte.
Damit meint sie vor allem die Stellung berufstätiger Mütter und nichtehelicher Kinder.
Hier sei indes die Frage gestattet, über welche "Freiheitsvorsprünge" wohl erst das verbliebene Nordkorea verfügen muss, das sich ja immerhin seit dem Epochenbruch um eine weitere Generation zu behaupten wusste.
Bliebe schließlich
die Systemlegende oder:
Kein erfolgreicher Kapitalismus ohne konkurrierendes Opfer.
Dahinter verbirgt sich die reichlich naive Vorstellung von Wirtschaft, seit der Abwicklung des Sozialismus werde dem Westen keine Legitimation mehr abgefordert, das System brauche sich nicht mehr anzustrengen. Das westliche Modell hat nach solcher Logik als Vorbild ausgedient.
Der Sieger muss zahlen und büßt dabei auch noch sein über Jahrzehnte gültiges Wertesystem ein. So gesehen ist nicht zu bestreiten: Der Westen ist der Verlierer der Einheit.
Überzeugungstäterin oder Provokateurin? Daniela Dahn war zu DDR-Zeiten eine durchaus kritische Journalistin, weshalb ihre Regimeverklärung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls manches Rätsel aufgibt. Will sie beleidigten Ostdeutschen eine schrille Stimme des Protestes verleihen? Oder bedient sie mit der Selbstradikalisierung nur eine intellektuelle Marktlücke?
Ideologisch konsequent zumindest fordert sie zu guter Letzt nichts weniger als die Auswechslung des ganzen Systems. Denn
kann, was nicht mehr sozial ist, noch demokratisch sein? Ist das Schicksal der Demokratie an eine Marktwirtschaft gekoppelt, die ihre soziale Kompetenz verloren hat?
Es gilt also, Ausschau zu halten nach Gegenentwürfen und Kräften für die anstehende historische Umwälzung, getreu der unvermeidlichen Parole:
Prekarier aller Länder, vereinigt Euch!
Notorischen Einheitsmuffeln dürfte die neue Dahn wie eine ersehnte Offenbarung erscheinen. Kopfschüttelnde Kritiker werden sich dagegen bei der Lektüre an die alte Volksweisheit erinnert fühlen, dass kein Kaffee kalt genug sein kann, um nicht doch noch getrunken zu werden.
Norbert Seitz über Daniela Dahn: Wehe dem Sieger. Ohne Osten kein Westen. Rowohlt Verlag, 300 Seiten, Euro 18,90.