Archiv


Das Babyhirn räumt sich selbst auf

Das Gehirn eines jungen Embryos wirkt an vielen Stellen wie pures Chaos. In den vergangenen Jahren hat sich herausgestellt, dass es in diesem Wanderchaos übergeordnete Zellen gibt, die anderen Zellen den Weg weisen. Spanische Forscher haben nun aber gezeigt: Sehr frühe Nervenzellen kommen auch ganz ohne diese Verkehrswächter aus.

Von Katrin Zöfel |
    Ein Blick durchs Mikroskop. Im Sichtfeld wandern durchscheinende, rundliche Zellen mit länglichen Fortsätzen hin und her, scheinbar zufällig.

    "Das sind Nervenzellen in einer Petrischale. Man sieht, dass sie sich wie winzige Magnete verhalten: sie stoßen sich gegenseitig ab. Wenn sie aufeinander treffen, wandert jede von ihnen nachher genau in die entgegengesetzte Richtung. Es ist als könnte sie die Zelldichte wahrnehmen. Jede einzelne Zelle tendiert dazu, sich möglichst weit weg von den anderen Zellen zu bewegen."

    Das kurze Video, das der Forscher Oscar Marín vor sich hat, zeigt sogenannte Cajal-Retzius-Zellen. Es sind Zellen, die sehr früh in der Entwicklung des Gehirns eine wichtige Rolle spielen. Marín untersucht ihre Rolle in seinem Labor am Instituto de Neurociencia in Alicante am Beispiel von Mäusen. In Mäuseembryos entstehen diese Zellen zwischen Tag zehn und Tag zwölf. Zu diesem Zeitpunkt sind die groben Grundzüge der Großhirnrinde bereits angelegt. Entlang der dünnen Hirnhaut, die die Großhirnrinde des Embryos schon jetzt umschließt, verteilen sich die Cajal-Retzius-Zellen.

    "Es dauert in der Maus ungefähr zwei Tage, dann überziehen sie die ganze Hirnoberfläche. Schaut man sich das embryonale Hirn dann von außen an, sieht es aus wie ein Ballon."
    Haben sie ihren Platz einmal gefunden, sorgen Cajal-Retzius-Zellen in den Hirnbereichen für Ordnung, die direkt unter ihnen liegen.

    "Die nächsten Gruppen von jungen Nervenzellen orientieren sich an diesen Cajal-Retzius-Zellen. Man kann sich das so vorstellen, dass die Großhirnrinde wie ein Haus mit verschiedenen Etagen aufgebaut ist. Die Cajal-Retzius-Zellen bilden das Dach. Neue, junge Nervenzellen wandern dann von unten hoch Richtung Dach. Und die Cajal-Retzius-Zellen sagen den Neuankömmlingen, wie hoch sie wandern und wann sie stoppen sollen."

    Fertig entwickelt, besteht die Großhirnrinde aus sechs Schichten, von denen jede eigene Funktionen übernimmt. Versagen die Cajal-Retzius-Zellen, entsteht ein heilloses Chaos. Die Frage, die sich Marín nun stellte, war: wie schaffen es die Cajal-Retzius-Zellen, dass sie sich so schnell so gleichmäßig über die ganze Hirnoberfläche verteilen. Reagieren auch sie auf Signale also von anderen Zellen? Hier kommt die Beobachtung der Zellen unter dem Mikroskop wieder ins Spiel.

    "Diese Zellen reagieren offenbar aufeinander, sie stoßen sich ab. Diese Eigenschaften haben wir dann im Computermodell nachgestellt. Und tatsächlich zeigt sich: wenn wir den Punkten, die sich im Modell über eine Fläche bewegen, die Eigenschaft verleihen, sich gegenseitig abzustoßen, dann verteilen sie sich viel schneller über die ganze Fläche."

    Cajal-Retzius-Zellen werden im jungen Gehirn an drei Stellen gebildet. Forscherkollegen von Marín haben herausgefunden, dass sich die Zellen aus den drei verschiedenen Quellen kaum untereinander mischen. Marín testete nun, ob sein einfaches Modell auch diesen Effekt erklären kann. Statt einer Sorte von Punkten, ließ er im Computermodell zwei oder sogar drei Punktegruppen über die Fläche wandern. Das Ergebnis:

    "Dieser einfache Mechanismus ist sehr effektiv: auch wenn sich die Zellen immer weiter bewegen und herumwandern, bleiben die Grenzen zwischen den Nervenzellgruppen relativ stabil bestehen."

    Eine logische Erklärung dafür hat Marín nicht, aber der Effekt ist stabil reproduzierbar. Und es funktioniert nicht nur im Computermodell, auch wenn der Forscher lebende Nervenzellen in der Petrischale wandern lässt, stellt sich dasselbe Resultat ein. Das heißt: ziemlich simple Eigenschaften, mit denen die Cajal-Retzius-Zellen ausgestattet sind, sorgen dafür, dass sie erstens den Raum, der für sie vorgesehen ist, schnell und gleichmäßig einnehmen und zweitens, dass dabei verschiedene Zelltypen sauber voneinander getrennt bleiben. – Das alles ohne übergeordnete Instanz, die den Zellen sagen würde, wo es für sie hingehen soll.