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Das Benediktinerglöckchen

Die ostschweizer Stadt St. Gallen punktet nicht nur mit einer bekannten Universität und mit malerischen Altstadtgässchen, sondern auch durch ihren Stiftsbezirk mit einer einmaligen Bibliothek. Über 170.000 Bücher, Manuskripte und Handschriften sind hier zu finden - ein Hort der abendländischen Kultur.

Von Katrin Kühne | 12.12.2010
    Immer sechs Minuten vor der Viertel- und der ganzen Stunde läutet das uralte Benediktinerglöckchen auf dem Dach der vormaligen Stiftskirche, der heutigen Kathedrale von
    St. Gallen. Es scheint, als wolle es noch immer die Mönche zum Gebet rufen. Mit der Säkularisierung 1805 endete jedoch die über 1000-jährige Geschichte des Benediktinerklosters und die Herrschaft des Fürstabtes von St. Gallen.

    Von einem hufeisenförmigen Gebäudekomplex umgeben, stehen Guide Claudia Schneider und ich auf dem etwas zugigen Klosterhofplatz gleich neben dem fast 25 Meter hohen Christbaum.

    "Das war der weltliche Teil des Klosters. Das Kloster St. Gallen war ja ungemein länderreich und das musste alles versorgt, regiert werden. Die eigentliche Mönchsklausur war südlich angelegt der Kirche, nach dem berühmten St. Galler Klosterplan. Da sehen wir, nördlich der Alpen hat man die Mönchszellen mit dem Kreuzgang südlich der Kirche angebaut,
    sodass man die Wärme nutzen konnte."

    In der Bibliothek im Westflügel hinter der Kirche erwartet uns bereits Ernst Tremp, der Leiter dieser "Seelenapotheke".

    "Das Motto "Seelenapotheke" ist eigentlich eine Übersetzung einer griechischen Inschrift, die über dem Portal des Barocksaales unserer Bibliothek eingeschrieben ist, 'Psyches iatreion", Seelenapotheke oder Heilstätte der Seele. Und man denkt vor allem an die Psyche, aber nicht nur an die Seele, sondern auch an den Geist, der erquickt wird durch das
    Wissen, welches in diesem Saal enthalten ist."

    Da das Kloster bereits Anfang des 8. Jahrhunderts gegründet wurde, hat sich ein Wissensschatz von 170.000 Volumen angesammelt. Durch glückliche Umstände, trotz Überfall der Ungarn im zehnten Jahrhundert, Bränden, Kriegen und Plünderungen hat die Sammlung einschließlich der rund 2.000 einmaligen Handschriften sämtliche "Zeitläufe" überstanden. Über ein Millenium war das Kloster mit seiner Bibliothek eines der bedeutendsten des Abendlandes. Die lange Liste der noblen Besucher liest sich wie ein "Who is who" des Mittelalters, ob 972 Kaiser Otto mit seinem Sohn Otto II., Gattin und Schwiegertochter anreiste oder im 11.Jh. Kaiserin Gisela, die sich kostbare Manuskripte abschreiben ließ und sogar mitnehmen durfte, was durchaus nicht üblich war. Rund ein Dutzend Mönche arbeiteten gleichzeitig an den prunkvollen Handschriften im heute nicht mehr existenten Skriptorium.

    "Wenn wir hier auf der Galerie sind, haben wir einen einmaligen Blick auf den Saal, die Deckengemälde vom Nahen, eben die Galerie, wie sie den Raum umfängt, eine ganz eigenartige, schöne Perspektive."

    Ein Rausch in Rokoko! Vollendet 1768 von dem Architekten Peter Thumb. Nach Kriegswirren und Plünderungen mussten große Teile des Klosters neu errichtet werden.

    Der Saal hat schlanke Holzsäulen, die scheinbar die intarsierte Galerie tragen. Die Gemälde der vier ersten Kirchenkonzilien umrahmt von Stuckarbeiten in zarten Pastelltönen, korrespondieren mit den vier im Parkett eingelegten großen Sternen aus Tanne, Kirsche
    und Eiche.

    In Glasvitrinen sind Codices wie die Nibelungen-Handschrift ausgestellt, deren Seiten wöchentlich umgeblättert werden. Das Faksimile des St. Galler Klosterplans, Idealentwurf aus dem frühesten Mittelalter. Wie eine Anleitung für ein Strickmuster sähe es beim ersten Blick aus, schmunzelt Ernst Tremp. Aber alles ist sorgfältig lateinisch beschriftet und so kann er mir auch das Skriptorium, übersetzt Schreibstube, mit den Pulten zeigen, das Stadtführerin Claudia Schneider am Anfang erwähnte.

    "Nun gehen wir in den Handschriftenraum, das Handschriftenkabinett hinein."

    Der niedrige Saal mit seinen fein ziselierten Fensternischen war einst das 'Schatzkästlein' des Stiftes.

    Auch in St. Gallen war Weihnachten das wichtigste Fest des Kirchenjahres. Größte Sorgfalt und alle Kunst verwandten sie auf die Ausgestaltung der liturgischen Bücher. Die Initialen, also die jeweils ersten Buchstaben eines Textes, wurden oft in Gold und Silber ausgestaltet. Für die weihnachtlichen Texte wurden außerdem farbige Miniaturen gemalt. Eine solche, circa 16 mal 13cm groß, ist die "Geburt Jesu Christi" aus einem St. Galler Sacramentarium des 11. Jahrhunderts. Diese Bücher wurden für die Feier der Eucharistie verwendet.

    "Die Krippe ist nicht auf weitem Feld, sondern sie befindet sich vor einem 8-eckigen Gebäude und im Gebäude selber findet man einen Baldachin mit Säulen, und die Forschung hat
    herausgefunden, dass diese Darstellung die Geburtskirche in Bethlehem darstellt."

    Obwohl die reale Kirche bereits im 6. und 7.Jh. zerstört worden war, hatte sich das Wissen von ihrem Aussehen über 4 Säkula erhalten! Auch die Darstellung des Heiligen Josephs als junger und nicht wie üblich alter Mann, auf einem byzantinischen Herrscherthron sitzend, ist außergewöhnlich und lässt auf ostchristliche Vorbilder schließen.

    "Die Mönche hier in St. Gallen waren ja nicht nur fromme Männer, sondern unter ihnen waren auch hochbegabte Dichter und Musiker. Diese schufen vom 9. Jahrhundert an eigene Gesänge für Weihnachten. Man hat Sequenzen gedichtet, namentlich der berühmte Notker Balbulus, Notker, der Stammler u.a. eine wunderschöne Weihnachtssequenz, "Natus ante saecula". Vor der Verlesung des Evangeliums hat man dies Texte gesungen."#

    Weitere Informationen unter:
    www.cesg.unifr.ch
    www.st.gallen-bodensse.ch

    Buchtipps:
    -Thomas Hürlimann:"Fräulein Stark",Zürich 2001/Frankfurt 2003
    - Kunstführer zum UNESCO-Weltkulturerbe Stiftsbezirk St.Gallen, St.Gallen 1991