Geoffrey Hartman ist emeritierter Professor für Vergleichende Literatur - Wissenschaft sowie Mitbegründer und Leiter des "Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies." "Das beredte Schweigen der Literatur" ist eine Essaysammlung überschrieben, die der Suhrkamp-Verlag herausgegeben hat und in den Hartman über den Zusammenhang von Kultur, Zivilisation und Barbarei nachdenkt. Unsere Rezensentin ist Ariane Thomalla.
Von Goethe stammt das Wort, dass große Dichtung immer "inkommensurabel" sei. Inkommensurabel auf seine Weise, alles andere als sogenannte "Sekundär"-Literatur und fern aller sonst gehandhabten Literaturkritik ist das Buch von Geoffrey Hartman.
"Ich möchte damit beginnen, ein bestimmtes Gefühl zu beschreiben, es historisch einzukreisen und schlaglichtartig zu erhellen, um es auf diese Weise fassbarer zu machen und seine Folgen sichtbarer hervortreten zu lassen."
Macht Hartman, der sich als Parteigänger des "Ruinenstils", "des verrückten und faszinierenden Kults des Fragments" bezeichnet und sein Buch ein "Sortiment ungeklärter Probleme" nennt, sein Verfahren und seine Herkunft deutlich. Er gehört - zusammen mit Harold Bloom, Hillis Miller und dem verstorbenen Paul de Man - zum prominenten Quartett der Yale Critics, die den Destruktivismus in Amerika populär gemacht haben. Hartmann schrieb das erste amerikanische Buch über Derrida - unter dem programmatischen Titel "Saving the Text". Nur im literarisches Sprechen kommt in seinem Verständnis die Wissenschaft der Wahrheit in der Geschichte am nächsten.
"Zwei Arten des Terrors richten sich gegen das literarische Sprechen und Denken. Die eine geht mit der literarischen Sprache im Namen einer als logische Widerspruchsfreiheit verstandenen Klarheit ins Gericht, einer Allgemeinverständlichkeit, die ohne Metaphern, Tropen, "Blumen der Rede" auskommt. Sie verlangt von der Sprache kurzfristige Rentabilität, unmittelbaren Nutzen für Kultur und Nation. Eine zweite Art des Terrors beabsichtigt die Läuterung der Kunst im Namen eines komplexen Ideals: dem einer heiligen Sprache."
Und einer reinen Sprache mit der Konsequenz, sie "von unreinen historischen Zuwächsen", von den Fremdwörtern säubern zu müssen, die Adorno sarkastisch die "Juden der Sprache" genannt habe. Provokativer als der deutsche lautet der amerikanische Titel des Buchs "The fateful Question of Culture", die "Schicksalsfrage der Kultur", ein Zitat von Sigmund Freud, der auch im deutschen Untertitel zitiert wird: "Über das Unbehagen an der Kultur". Bei Freud heißt es: in der Kultur. Unbehagen zum einen am "Kulturalismus" heute, der sich, sagt Hartman, an die Stelle der Ästhetik geschoben habe mit leerer Geschäftigkeit und ständig auferlegter Rechenschaftspflicht für die Künste, ihre materielle oder gesellschaftliche Wirksamkeit zu überprüfen. Unbehagen am Versagen der Kultur in deutscher Vergangenheit. Da spielt der Titel "Das beredte Schweigen" auf beides an: auf das Schweigen als Verstummen und Verweigerung des Sprechens vor Entsetzen wie bei Paul Celan und auf das Verschweigen, Vermeiden und Auslassen, wie Martin Heidegger es tat, der, schreibt Hartman, mitschuldig wurde, dass man nach Auschwitz das Vertrauen in die Kultur verloren habe. Ein Name, der immer wieder fällt, wie überhaupt in allen sechs Essays alle Themen unterirdisch rumoren, um im anderen Kontext wieder aufzusteigen. Dadurch wird das Buch poetisch komplex, ein Kompendium nicht nur an Wissen, sondern auch an Lebensfülle und Weisheit. Die Persönlichkeit des heute Einundsiebzigjährigen, der als neunjähriges Kind mit einem Kindertransport aus Deutschland entkam und seine ihn bis zuletzt versorgende Großmutter in Theresienstadt verlor, strahlt überall durch, ohne den wissenschaftlichen Rahmen zu sprengen. Weil Hartman aller im Mantel der Verkündigung schreitenden Kultur misstraut, ist ihm die "heroische Symbolik" der Holocaustdenkmäler verdächtig. Dagegen setzt er fast leidenschaftlich die Kraft der Poesie, die Menschen besser, weil feinfühliger zu machen, zu "kultivieren":
"Die Frage ist, ob Kultur die Aggressivität abschwächen und die Gewichte zugunsten der Liebe verschieben kann. Dies ist Aufgabe der ästhetischen Erziehung, die um so dringlicher ist in einer Zeit, in der "Kultur" ein leicht entflammbares Wort geworden ist, an dem sich Kriege entzünden."
Sein Hauptgewährsmann für sein leidenschaftliches Plädoyer für die Poesie ist sein Lieblingsdichter schon seit Jugendzeiten, William Wordsworth, der auf der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert das Landleben beschrieb, nicht ohne dessen Mühsal, Not und Klassenverhältnisse auszuklammern.
"Ich behaupte, dass Wordsworth einen prekären kulturellen Transfer des englischen Landlebens leistet. Ich vermute, dass dies die englische Politik vor der Virulenz eines nostalgischen, um bäuerliche Tugenden kreisenden Idealbilds bewahrt hat, das sich auf dem europäischen Festland so verheerend auswirkte. Unglücklicherweise fehlte dem europäischen Festland ein Wordsworth."
Sonst, lautet Hartmans These, hätte der für bösartige Dichotomien anfällige Antimodernismus in Kultur und Politik in Deutschland, der sich bald mit Diskursen wie die des Antisemitismus und Antiintellektualismus mischte, aufgehalten werden können. Vielleicht, suggeriert er, auch der Holocaust? Es ist nur logisch, dass Hartman im vierten Essay über "Sprache und Kultur nach dem Holocaust" gegen Adornos Diktum auftritt, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Auch wenn die "Kultur" nach Auschwitz nicht mehr beanspruchen könne, "der endgültige Triumph des Geistes zu sein", bleibe sie dennoch die einzige Hoffnung. "Sapere aude" ruft er Kants Satz vom "Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen" in den Historikerstreit und die Walserdebatte, "sapere aude - Holocaust". Habe den Mut, über Auschwitz jenseits aller Tabus, Verdikte und political correctness nachzudenken gegen die "tausend Dunkelheiten", die durch das "quasireligiöse Verbot" drohten, "niemals zu vergessen " und "in einer Art Priesterschaft" sich "aufzuopfern", "dem Schlaf zu entsagen und "ewige Totenwache zu halten":
"Ich behaupte, dass auch die Betonung der datierbaren Einzigartigkeit des Holocaust lediglich ein Äquivalent des Erhabenen ist. Wenn man das Jahr 2000 als das Jahr 55 nach Auschwitz bezeichnet, stigmatisiert man die Geschichte. Es ist aber unerlässlich, sich einer Zusammenfassung des datierten Grauens als einer reinen Verkörperung des Bösen zu widersetzen: eine solche Stigmatisierung führt lediglich zu einem Weltbild, das ebenso manichäistisch ist wie das des Nationalsozialismus. Man kann das sich als erlösende geistige Kraft maskierende Böse nicht einsperren, indem man es von der übrigen Zeit abtrennt."
Ariane Thomalla über Geoffrey Hartman, Das beredte Schweigen der Literatur, Über das Unbehagen an der Kultur. Der Band umfasst 297 Seiten und kostet 48 DM.
Von Goethe stammt das Wort, dass große Dichtung immer "inkommensurabel" sei. Inkommensurabel auf seine Weise, alles andere als sogenannte "Sekundär"-Literatur und fern aller sonst gehandhabten Literaturkritik ist das Buch von Geoffrey Hartman.
"Ich möchte damit beginnen, ein bestimmtes Gefühl zu beschreiben, es historisch einzukreisen und schlaglichtartig zu erhellen, um es auf diese Weise fassbarer zu machen und seine Folgen sichtbarer hervortreten zu lassen."
Macht Hartman, der sich als Parteigänger des "Ruinenstils", "des verrückten und faszinierenden Kults des Fragments" bezeichnet und sein Buch ein "Sortiment ungeklärter Probleme" nennt, sein Verfahren und seine Herkunft deutlich. Er gehört - zusammen mit Harold Bloom, Hillis Miller und dem verstorbenen Paul de Man - zum prominenten Quartett der Yale Critics, die den Destruktivismus in Amerika populär gemacht haben. Hartmann schrieb das erste amerikanische Buch über Derrida - unter dem programmatischen Titel "Saving the Text". Nur im literarisches Sprechen kommt in seinem Verständnis die Wissenschaft der Wahrheit in der Geschichte am nächsten.
"Zwei Arten des Terrors richten sich gegen das literarische Sprechen und Denken. Die eine geht mit der literarischen Sprache im Namen einer als logische Widerspruchsfreiheit verstandenen Klarheit ins Gericht, einer Allgemeinverständlichkeit, die ohne Metaphern, Tropen, "Blumen der Rede" auskommt. Sie verlangt von der Sprache kurzfristige Rentabilität, unmittelbaren Nutzen für Kultur und Nation. Eine zweite Art des Terrors beabsichtigt die Läuterung der Kunst im Namen eines komplexen Ideals: dem einer heiligen Sprache."
Und einer reinen Sprache mit der Konsequenz, sie "von unreinen historischen Zuwächsen", von den Fremdwörtern säubern zu müssen, die Adorno sarkastisch die "Juden der Sprache" genannt habe. Provokativer als der deutsche lautet der amerikanische Titel des Buchs "The fateful Question of Culture", die "Schicksalsfrage der Kultur", ein Zitat von Sigmund Freud, der auch im deutschen Untertitel zitiert wird: "Über das Unbehagen an der Kultur". Bei Freud heißt es: in der Kultur. Unbehagen zum einen am "Kulturalismus" heute, der sich, sagt Hartman, an die Stelle der Ästhetik geschoben habe mit leerer Geschäftigkeit und ständig auferlegter Rechenschaftspflicht für die Künste, ihre materielle oder gesellschaftliche Wirksamkeit zu überprüfen. Unbehagen am Versagen der Kultur in deutscher Vergangenheit. Da spielt der Titel "Das beredte Schweigen" auf beides an: auf das Schweigen als Verstummen und Verweigerung des Sprechens vor Entsetzen wie bei Paul Celan und auf das Verschweigen, Vermeiden und Auslassen, wie Martin Heidegger es tat, der, schreibt Hartman, mitschuldig wurde, dass man nach Auschwitz das Vertrauen in die Kultur verloren habe. Ein Name, der immer wieder fällt, wie überhaupt in allen sechs Essays alle Themen unterirdisch rumoren, um im anderen Kontext wieder aufzusteigen. Dadurch wird das Buch poetisch komplex, ein Kompendium nicht nur an Wissen, sondern auch an Lebensfülle und Weisheit. Die Persönlichkeit des heute Einundsiebzigjährigen, der als neunjähriges Kind mit einem Kindertransport aus Deutschland entkam und seine ihn bis zuletzt versorgende Großmutter in Theresienstadt verlor, strahlt überall durch, ohne den wissenschaftlichen Rahmen zu sprengen. Weil Hartman aller im Mantel der Verkündigung schreitenden Kultur misstraut, ist ihm die "heroische Symbolik" der Holocaustdenkmäler verdächtig. Dagegen setzt er fast leidenschaftlich die Kraft der Poesie, die Menschen besser, weil feinfühliger zu machen, zu "kultivieren":
"Die Frage ist, ob Kultur die Aggressivität abschwächen und die Gewichte zugunsten der Liebe verschieben kann. Dies ist Aufgabe der ästhetischen Erziehung, die um so dringlicher ist in einer Zeit, in der "Kultur" ein leicht entflammbares Wort geworden ist, an dem sich Kriege entzünden."
Sein Hauptgewährsmann für sein leidenschaftliches Plädoyer für die Poesie ist sein Lieblingsdichter schon seit Jugendzeiten, William Wordsworth, der auf der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert das Landleben beschrieb, nicht ohne dessen Mühsal, Not und Klassenverhältnisse auszuklammern.
"Ich behaupte, dass Wordsworth einen prekären kulturellen Transfer des englischen Landlebens leistet. Ich vermute, dass dies die englische Politik vor der Virulenz eines nostalgischen, um bäuerliche Tugenden kreisenden Idealbilds bewahrt hat, das sich auf dem europäischen Festland so verheerend auswirkte. Unglücklicherweise fehlte dem europäischen Festland ein Wordsworth."
Sonst, lautet Hartmans These, hätte der für bösartige Dichotomien anfällige Antimodernismus in Kultur und Politik in Deutschland, der sich bald mit Diskursen wie die des Antisemitismus und Antiintellektualismus mischte, aufgehalten werden können. Vielleicht, suggeriert er, auch der Holocaust? Es ist nur logisch, dass Hartman im vierten Essay über "Sprache und Kultur nach dem Holocaust" gegen Adornos Diktum auftritt, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Auch wenn die "Kultur" nach Auschwitz nicht mehr beanspruchen könne, "der endgültige Triumph des Geistes zu sein", bleibe sie dennoch die einzige Hoffnung. "Sapere aude" ruft er Kants Satz vom "Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen" in den Historikerstreit und die Walserdebatte, "sapere aude - Holocaust". Habe den Mut, über Auschwitz jenseits aller Tabus, Verdikte und political correctness nachzudenken gegen die "tausend Dunkelheiten", die durch das "quasireligiöse Verbot" drohten, "niemals zu vergessen " und "in einer Art Priesterschaft" sich "aufzuopfern", "dem Schlaf zu entsagen und "ewige Totenwache zu halten":
"Ich behaupte, dass auch die Betonung der datierbaren Einzigartigkeit des Holocaust lediglich ein Äquivalent des Erhabenen ist. Wenn man das Jahr 2000 als das Jahr 55 nach Auschwitz bezeichnet, stigmatisiert man die Geschichte. Es ist aber unerlässlich, sich einer Zusammenfassung des datierten Grauens als einer reinen Verkörperung des Bösen zu widersetzen: eine solche Stigmatisierung führt lediglich zu einem Weltbild, das ebenso manichäistisch ist wie das des Nationalsozialismus. Man kann das sich als erlösende geistige Kraft maskierende Böse nicht einsperren, indem man es von der übrigen Zeit abtrennt."
Ariane Thomalla über Geoffrey Hartman, Das beredte Schweigen der Literatur, Über das Unbehagen an der Kultur. Der Band umfasst 297 Seiten und kostet 48 DM.